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Normalerweise ist bei Diabeteskongressen die Fachwelt unter sich. Da berichtet ein Arzt über neueste Studienerkenntnisse zum Insulin Soundso, eine Kollegin schildert ihre Erfahrungen mit dem Schulungsprogramm XY, und noch jemand anderes präsentiert Daten aus der Versorgungsforschung. Die Stimmen der Betroffenen, um deren Behandlung es dabei geht, werden dabei nur äußerst selten gehört. Der Zukunftstag Diabetologie, den die DDG Mitte Oktober 2019 in Berlin ausgerichtet hat, war hier eine erfreuliche Ausnahme.
Bei diesem Kongress ging es um das erhöhte Risiko für psychische Störungen bzw. Erkrankungen, dem Menschen mit Diabetes und auch ihre Familienangehörigen ausgesetzt sind. Und in den Vorträgen ging es nicht nur um Studienergebnisse, Versorgungsprogramme und Statistiken, sondern auch um das persönliche, ganz subjektive Erleben der Betroffenen.
So berichtete Dr. Carola Hecking, selbst Ärztin, beim Zukunftstag Diabetes aus ihrer ganz privaten Perspektive als Mutter. Ihr Sohn erhielt zu seinem vierten Geburtstag vor ungefähr einem Jahr die Diagnose Diabetes mellitus. Die junge Mutter, ihr Ehemann, ihr Sohn und die achtjährige Schwester sind bis heute nicht zur Ruhe gekommen. „Ich bin permanent an meiner Belastungsgrenze – neben dem Diabetes geht einfach nichts mehr“, berichtete sie, „ich habe seit der Diagnose keine Nacht mehr durchgeschlafen.“ Ihr Sohn trägt eine Insulinpumpe und ein CGM-System, und irgendein Gerät meldet sich immer mit einem Alarm.
Dabei ist sie natürlich enorm dankbar für beide Hilfsmittel, die ihren Alltag ungeheuer erleichtert haben: „Anfangs wollte der Kleine nichts mehr essen, weil er Angst vor Nadeln hat. Drei Tage nach der Diagnose bekam er zum Glück die Pumpe“, erzählte Carola Hecking. Allerdings war lange Zeit nicht klar, ob die probehalber bewilligte Pumpe auch dauerhaft genehmigt würde. Für Carola Hecking ist es ein Rätsel, warum sich der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) erst lange mit so einem Pumpenantrag beschäftigen musste, „immerhin steht die sensorunterstützte Pumpentherapie doch in den Leitlinien!“.
Doch der Antrag auf Versorgung mit Insulinpumpe und Sensor war nur der Auftakt eines langen und nervenzehrenden Papierkriegs. „Nach der Diagnose riet man mir im Krankenhaus, es sei schwierig, Inklusionshilfe zu bekommen. Deshalb sollte ich am besten meinen Job aufgeben“, erzählte Carola Hecking, die als angestellte Ärztin in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) arbeitet und sich dort vor allem mit Gerinnungsmedizin beschäftigt. „Dabei mache ich meinen Job gern, wir hatten auch gerade erst ein Haus gekauft – wie soll das gehen, dass ich auf einmal nicht mehr arbeite?“
Geschlagene zehn Monate dauerte es, bis sie sich bei sämtlichen Ämtern durchgefragt, alle Anträge ausgefüllt und eine Inklusionskraft bewilligt bekommen hatte, die ihren Sohn im Kita-Alltag begleitet. Sie begegnete freundlichen Menschen in den Behörden, doch wegen Personalmangels blieben ihre Anträge häufig lange liegen. Auch die Zuständigkeiten waren nicht klar geregelt, sie wurde immer wieder an andere Stellen verwiesen. Dabei fühlt sie sich im Vergleich zu anderen Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes durchaus privilegiert: „Ich bin überall auf freundliche und bemühte Menschen gestoßen. Die Erzieherinnen in der Kita sind super. Mein Arbeitsumfeld hat viel geholfen und aufgefangen. Meine Mutter zog nach der Diagnose vorübergehend bei uns ein und unterstützte uns.“ Nur dank dieser Hilfe aus ihrem Umfeld habe sie ihren Arbeitsplatz erhalten können. „Ich frage mich, wie das Leute bewerkstelligen sollen, die nicht über diese Ressourcen verfügen?“
Sprich: Was macht eine alleinerziehende Mutter, deren Arbeitgeber sich nicht so kooperativ zeigt? Wie kommt eine Familie klar, die nicht über ein funktionierendes soziales Netz verfügt? Wie gelangen Eltern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind oder wenig Erfahrung im Umgang mit Behörden und Institutionen haben, an Informationen? Wer in den diversen Gruppen und Foren für Eltern von Kindern mit Diabetes stöbert, findet dort haufenweise Geschichten, in denen es nicht annähernd so gut funktionierte wie bei Familie Hecking. Und das, obwohl auch Familie Hecking permanent an ihrer Belastungsgrenze lebt.
Auch Lounge-Autorin Lisa Schütte, die mit zehn Jahren die Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten hatte, berichtete über mangelnde Unterstützung im Alltag. In den ersten Jahren bereitete ihr die Erkrankung kaum Probleme, doch mit Beginn der Pubertät geriet ihre Psyche aus dem Gleichgewicht. Heute ist Lisa 30 Jahre alt und macht kein Geheimnis darum, dass ihr damals die Motivation fehlte, sich um ihren Diabetes zu kümmern – und dass sie eine gefährliche Essstörung entwickelte. Denn um abzunehmen, ließ sie als Jugendliche regelmäßig Insulininjektionen aus. Dass es mit „Insulin-Purging“ einen Fachbegriff für dieses Verhalten gibt, wusste sie damals nicht. Mit 22 Jahren landete sie mit einem ketoazidotischen Koma auf der Intensivstation, ihr Leben hing tagelang am seidenen Faden. Noch vom Krankenhaus aus organisierte man ihr einen Psychotherapieplatz. „Die Therapeutin war zwar nett, aber sie hatte keine Ahnung von Diabetes. Sie verstand deshalb nicht wirklich, was es für mich bedeutet, mein Insulin wegzulassen“, erzählte Lisa.
Sie suchte sich ein anderes Ventil und begann, über ihr Leben mit Typ-1-Diabetes und Insulin-Purging (auch Diabulimie genannt) zu bloggen. Ihr Blog ist in der Diabetes-Community mittlerweile eine der wichtigsten Anlaufstellen für andere Betroffene. Lisa erzählte: „Anfangs hätte ich nie gedacht, dass es so viele Frauen mit Diabulimie gibt. Heute bekomme ich täglich mehrere Nachrichten anderer Betroffener.“ Mittlerweile hat Lisa ihren Diabetes meist gut im Griff – sie spielt zumindest nicht mehr mit dem Gedanken, mit dem Weglassen von Insulin ihr Gewicht zu regulieren. Doch die Essstörung scheint sich andere Wege zu suchen. So berichtete Lisa erst vor ein paar Wochen, dass sie in diesem Jahr nahezu fanatisch Kalorien und Kohlenhydrate reduziert hat, um sich ihrem Traumgewicht anzunähern.
Ihr Eindruck ist allerdings, dass nach wie vor nur wenige Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit Essstörungen wie Insulin-Purging umgehen können. Gleiches gilt für Ärztinnen und Ärzte. „Als ich im Rahmen eines Praktikums bei der Lokalzeitung einmal einen Artikel über dieses Thema geschrieben und Diabetespraxen im Umkreis abtelefoniert habe, hat mir ein Diabetologe sogar unterstellt, ich würde mir da etwas ausdenken“, berichtete sie beim Zukunftstag Diabetologie.
Wer sich in der Diabetes-Community tummelt und schon häufiger Geschichten wie die von Lisa gehört hat, kann angesichts solcher Ignoranz eigentlich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Umso wichtiger finde ich es, dass auch bei Kongressen und Fachtagungen die Stimme der Betroffenen gehört wird. Ich hoffe deshalb sehr, dass die Programmgestaltung beim Zukunftstag Diabetologie nicht die Ausnahme bleibt.
Auch in der #BSLounge hat Lisa über das Insulinpurging berichtet.
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