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Antje Thiel 50 Jahre alt Typ-1-Diabetes Diabetes seit dem 40. Lebensjahr Diabetestherapie: ICT (Lantus, Liprolog) FreeStyle Libre Diabetesmanagement: selbstständig Wohnsituation: in den eigenen 4 Wänden, mit ihrem Ehemann | Friedrich Eckhard Kuhröber 83 Jahre alt Typ-1-Diabetes Diabetes seit dem 2. Lebensjahr Diabetestherapie: ICT (Toujeo, Humalog) Blutzuckermessungen Diabetesmanagement: selbstständig Wohnsituation: in den eigenen 4 Wänden, mit seiner Ehefrau |
Im kommenden Jahr gibt es für die Diabetes-Community etwas Wichtiges zu feiern: 100 Jahre Insulin! Beim Gedanken, dass mein Typ-1-Diabetes ein Jahrhundert früher noch ein Todesurteil gewesen wäre, muss ich regelmäßig schlucken. Umso faszinierender finde ich es, dass es Leute gibt, die beinahe von Anfang an dabei waren. Friedrich Eckhard Kuhröber aus Taufkirchen in der Nähe von München ist so jemand. Seine Diabetesgeschichte begann im Sommer 1939. Als kleiner Junge von nicht einmal zwei Jahren spielte er im Garten seines Elternhauses. Auf einmal bemerkte seine Mutter, dass ihr Sohn zwischen den Johannisbeersträuchern umherlief und die Wassertropfen von den Blättern leckte. Das Kind hatte unerträglichen Durst. Die Mutter wusste sich keinen Rat und brachte es ins Krankenhaus. Dort stellte man kurz darauf Typ-1-Diabetes fest.
Die Kanülen, mit denen die Mutter dem Jungen Insulin verabreichen musste, waren fünf Zentimeter lang. Friedrich Eckhard Kuhröber erzählt: „Sie war ratlos, wo man ein kleines Kind mit einer solchen Nadel spritzen könnte, also hat sie mir das Insulin in den Po gespritzt.“ Die Wahl des passenden Injektionsortes war allerdings noch das kleinste Problem. Im Zweiten Weltkrieg war das lebensrettende Medikament nur schwer zu bekommen. „Gott sei Dank haben die Nazis mich nicht als krank und unwert eingestuft, sonst wäre ich gleich aussortiert worden. Doch meine Mutter musste Goldschmuck und andere Wertgegenstände versetzen, um Insulin kaufen zu können.“
Puh, das sind Vorstellungen, die ich erst mal sacken lassen muss. Denn als ich vor gut 10 Jahren meine Diagnose Typ-1-Diabetes erhielt, bekam ich gleich einen Insulinpen mit 8 mm langen Kanülen ausgehändigt – eine Länge, die heute schon wieder obsolet ist, denn seit einigen Jahren nutze ich 4 mm „lange“ Kanülen, die zudem so dünn sind, dass sie wirklich nahezu schmerzfrei ins Unterhautfettgewebe gleiten. Mein Insulin erhalte ich auf Rezept, das ich gegen eine Eigenbeteiligung von 10 Euro ohne Probleme in der Apotheke gegenüber meiner Diabetespraxis einlösen kann. Meinen Goldschmuck kann ich behalten, auch wenn mir mein Pen mal herunterfällt und die Insulinampulle kaputtgeht. Sowas kommt nicht oft vor, aber gelegentlich eben doch – dann ist das zwar ärgerlich, doch ich muss mich niemandem gegenüber rechtfertigen, hole mir einfach eine frische Ampulle aus dem Kühlschrank und setze sie in den Insulinpen ein.
Da kann sich Friedrich Eckhard Kuhröber an ganz andere Situationen erinnern: Als seiner Mutter in den Kriegsjahren einmal ein Fläschchen Insulin auf den Boden fiel, zog sie es mit der Spritze vom Boden auf, damit es nicht verloren ging. „Ich habe meiner Mutter viel zu verdanken, doch sie hatte es nicht leicht mit mir“, sagt der 83-Jährige rückblickend und schmunzelt: „Als ich 5 oder 6 Jahre alt war, erwischte sie mich dabei, wie ich von dem Eierlikör naschte, den sie in ihrem Nachtschränkchen versteckt hielt. Sie erklärte mir dann, dass sie mich zur Strafe nun nicht mehr spritzen würde. Ich musste also sehen, wie ich selbst zurechtkomme.“ Heutige Pädagogen würden bei solchen Erziehungsmaßnahmen vermutlich gleich das Jugendamt einschalten. Doch damals blieb dem Jungen keine andere Wahl, als selbst mit der Insulinspritze zu hantieren.
Anfangs gab es nur Altinsulin, ohne den Zusatz wirkungsverlängernder Substanzen. Eine flexible Gestaltung von Mahlzeiten, wie es für uns heute selbstverständlich ist, war damit unmöglich. Für die Injektion nutzte Friedrich Eckhard Kuhröber Glasspritzen, die zum Sterilisieren in einem speziellen Etui in Alkohol aufbewahrt wurden. Spritze rausholen, klopfen, um den Alkohol aus der Spritze zu entfernen, Insulin aufziehen und spritzen – die Handgriffe gingen ihm rasch in Fleisch und Blut über: „So bin ich vorgegangen, bis ich 15 oder 16 Jahre alt war.“ In der Schule wurde er mit Unwissen und Vorurteilen konfrontiert, wie sie Kindern mit Typ-1-Diabetes leider bis heute begegnen. So mochten manche Lehrer zunächst nicht einsehen, dass der Junge manchmal auch während des Unterrichts essen musste, damit sein Blutzucker nicht zu tief absinkt: „Ich musste ja auf meine Broteinheiten kommen!“
Erst als seine Mutter dem Direktor einen Besuch abstattete, erhielt der Junge die Erlaubnis, auch im Unterricht zu essen. Daneben erinnert sich Friedrich Eckhard Kuhröber an alte Oberstudienräte aus der Vorkriegszeit, die während seiner Schulzeit den Unterricht wieder aufgenommen hatten. „Bei denen hieß ich nur der ‚Zucker-Röber‘, das hat mir gar nicht gefallen.“ Am Sportunterricht durfte er während seiner Schulzeit nicht teilnehmen: „Das hatte mir der Arzt verboten, damit ich nicht beim Sport unterzuckere. Ich bin dann stattdessen immer für eine Stunde spazieren gegangen.“ Ein solches Sportverbot für Menschen mit Typ-1-Diabetes ist heute zum Glück nicht mehr aktuell – nicht zuletzt, weil z. B. Organisationen wie die IDAA darüber aufklären, wie man den Diabetes bei sportlichen Belastungen managen kann. Als krank hat sich Friedrich Eckhard Kuhröber trotz seiner Sonderrolle nie empfunden. Und obwohl er in seiner Jugend seine Glukosewerte nicht mit lückenlosen CGM-Kurven überwachen konnte, hatte er offenbar Spaß wie andere junge Leute auch: „Ich habe mit meinen Freunden Badewannen voll Alkohol getrunken. Wenn wir unterwegs waren, kam ich oft erst morgens um fünf Uhr wieder nach Hause.“ Seine Lebensphilosophie: „Ich habe mich nie an die Aussicht auf Heilung geklammert, sondern einfach gelebt. Ich habe ein ganz normales Leben geführt, ohne Einschränkungen.“
Mit dieser Lebenseinstellung startete er als junger Mann auch ins Berufsleben, studierte Betriebswirtschaft und arbeitete in einem großen aluminiumverarbeitenden Betrieb. Nach Stationen in verschiedenen weiteren Unternehmen dieser Branche machte er sich 1982 als freier Handelsvertreter selbstständig und gründete seine eigene Firma. „Mein Beruf hat mir immer viel Freude gemacht. Ich konnte immer gut mit Leuten reden und war deshalb, glaube ich, ein guter Vertreter“, erzählt er. Sein Diabetes hielt ihn nicht davon ab, jährlich um die 80.000 Kilometer mit dem Auto herumzufahren, in unzähligen Hotels zu übernachten und das zu essen, was ihm auf seinen Dienstreisen angeboten wurde. Möglich war das auch, weil Menschen mit Diabetes nun endlich selbst ihren Blutzucker messen konnten und nicht für jeden Wert einen Arzttermin brauchten: „Ich hatte immer mein kleines Mäppchen dabei, mit Lanzetten und Messgerät, sodass ich jederzeit meinen Blutzucker messen konnte. Wenn er zu niedrig war, habe ich ein paar Bonbons gegessen, die ich immer dabeihatte.“
Auch privat hatte Friedrich Eckhard Kuhröber ein glückliches Händchen. Als er seine Frau kennen lernte und fragte, ob sie ihn trotz Typ-1-Diabetes heiraten möchte, hatte sie keine Bedenken. Allerdings entschieden sich die beiden aufgrund des genetischen Risikos bewusst gegen Kinder. „Ich hätte sonst gern Kinder gehabt, denn ich bin zu Hause mit drei Geschwistern aufgewachsen. Wenn man solch einen Familienkreis erlebt hat, möchte man ja eigentlich auch gern selbst Kinder haben“, erinnert sich der 83-Jährige. Das kann ich gut verstehen, ich komme schließlich ebenfalls aus einer Familie mit 5 Geschwistern… Wie gut, dass Menschen mit Diabetes heute nicht mehr ihr Kinderwunsch ausgeredet wird! Wenn ich mich in der Diabetes-Community so umsehe, sehe ich überall glückliche Mamas und Papas, die trotz ihres Diabetes gesunde Kinder haben. Doch zum Glück hat der Verzicht auf Nachwuchs Friedrich Eckhard Kuhröbers Ehe nicht geschadet: Seit 1966 sind seine Frau und er miteinander verheiratet: „Wir haben die silberne und inzwischen auch die goldene Hochzeit hinter uns und sehen den nächsten Jubiläen entgegen.“
Die Chancen, dass Friedrich Eckhard Kuhröber noch etliche weitere gesunde Jahre vor sich hat, stehen nicht schlecht: Der drahtige Senior ist fit, von Folgeerkrankungen bislang verschont geblieben und hat seinen Diabetes gut im Griff. „Mein HbA1c-Wert liegt immer zwischen 6,3 und 7 Prozent“, erzählt er stolz. Als Mahlzeiteninsulin nutzt er Humalog, zur Nacht spritzt er Toujeo. „In der Diabetestherapie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel verändert. Damals hatten wir nur zwei Insuline, heute gibt es unzählige Sorten zur Auswahl.“ Eine noch wichtigere Neuerung war es für ihn, den Blutzucker selbst messen zu können, anstatt dafür ins Krankenhaus fahren zu müssen. Sechs bis sieben Messungen macht er am Tag, ein paar weitere in der Nacht. „Ich bin ja nun in einem Alter, in dem die Prostata sich regelmäßig meldet. Wenn ich sowieso alle zwei Stunden aufstehen und zur Toilette gehen muss, kann ich auch kurz meinen Blutzucker messen“, sagt er. Ein CGM-System möchte er allerdings nicht ausprobieren: „Ich glaube nicht, dass das etwas für mich ist, ich messe lieber blutig“, sagt er.
Sein Erfolgsrezept für über 80 Jahre ohne Folgeerkrankungen lässt sich in einem Satz zusammenfassen: „Wer Diabetes hat, muss die Erkrankung akzeptieren und wissen, was der Körper von einem verlangt. Doch abgesehen davon sollte man sich von ihm nicht sein Leben diktieren lassen“, sagt Kuhröber. Er betont aber auch: „Man kann das nicht generalisieren, Diabetes ist nicht gleich Diabetes, und jeder schleppt seinen eigenen mit sich herum.“ In der Diabetes-Community sucht man Friedrich Eckhard Kuhröber allerdings vergeblich, denn den Austausch mit anderen Menschen mit Typ-1-Diabetes hat er in all den Jahrzehnten nie gesucht: „Ich habe es immer abgelehnt, in Selbsthilfegruppen zu gehen. Da sitzt man herum und erzählt einander von seinen Krankheiten, so etwas wollte ich nie. Ich wollte einfach immer gesund sein. Dabei haben mir im Verlauf der Jahrzehnte zahlreiche Ärzte tatkräftig geholfen.“
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