Insulintherapie im Alter

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Insulintherapie im Alter

Immer mehr ältere Menschen mit Diabetes brauchen Insulin. Ob sie es sich selbst spritzen können oder Hilfe benötigen, ist individuell sehr unterschiedlich. Wer nach einer passenden Insulintherapie für sich oder auch einen Angehörigen sucht, findet hier gute Entscheidungshilfen.

Patientenbeispiele

Hans Peters spritzt seit 25 Jahren Insulin nach einem intensivierten Schema (ICT). Er spritzt also Basal- und Mahlzeiteninsulin getrennt, misst täglich mehrfach seinen Blutzucker und entscheidet selbst nach einem Schema, wie viel er spritzt. Mittlerweile ist er 76 Jahre alt, hat den Tod seiner Frau zu beklagen und lebt seit einem Jahr im Seniorenstift. Da die betreuenden Schwestern dreimal täglich den Blutzucker messen und auch das Insulin spritzen können, braucht das Insulinschema bei Herrn Peters nicht geändert zu werden, obwohl seine rechte Hand nach einem Schlaganfall gelähmt ist.

Frieda Kummer dagegen ist schon seit fünf Jahren im Altersheim. Sie vergisst häufig etwas, kann aber immer noch zweimal täglich selbständig ein Mischinsulin spritzen, nachdem sie ihren Zucker gemessen hat – darauf ist sie stolz.

Jedes Jahr erkranken etwa 270.000 bis 300.000 ältere Menschen neu an Typ-2-Diabetes. Mittlerweile sind mehr als fünf Prozent aller acht Millionen Diabetiker in Deutschland über 70 Jahre alt. Viele von ihnen haben schon lange Diabetes, und mit der Diabetesdauer steigt in der Gruppe der Älteren auch die Zahl derer, die Insulin brauchen.

Diese alten Patienten brauchen einfache, sichere Insulinschemata, mit denen sie gut zurechtkommen können und die sich an ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten orientieren.

Blutzucker nicht um jeden Preis senken

Es gibt Untersuchungen, wonach in Pflegeheimen jeder vierte Bewohner Diabetes hat; in manchen Pflegeheimen müssen bis zu 70 Prozent der Bewohner mit Insulin behandelt werden (siehe Ratzmann: Insulintherapie für die Praxis. UNI Med 2010, S. 76).

Oft haben ältere Menschen zudem mehrere gesundheitliche Probleme, die auch bei der Insulintherapie berücksichtigt werden müssen:

  • Häufig liegen mehrere Erkrankungen vor (Diabetes, Bluthochdruck, Asthma etc.).
  • Die körperliche Leistungsfähigkeit ist vermindert bzw. die Beweglichkeit eingeschränkt.
  • Das Sehvermögen ist beeinträchtigt, ebenso das Denkvermögen und das Gedächtnis.
  • Oft fehlen der Appetit und/oder das Durstgefühl.

Zudem wohnen die Angehörigen oft nicht unmittelbar am Ort, um sich zu kümmern.

Bei Multimorbidität: HbA1c-Wert von 7 Prozent

Darüber hinaus haben in den letzten Jahren große Studien (z. B. ADVANCE, ACCORD, VADT) gezeigt, dass eine Blutzuckersenkung (bzw. eine Senkung des HbA1c-Wertes) um jeden Preis nicht sinnvoll ist und sogar gefährlich sein kann – insbesondere bei Menschen, die nicht nur den Diabetes, sondern auch schon weitere Erkrankungen wie Bluthochdruck, Herzerkrankungen etc. haben.

Sinnvoll ist bei diesen Patienten ein HbA1c-Wert von 7 Prozent oder leicht darüber, ein tieferer Wert kann eine Demenz begünstigen, zudem steigern schwere Unterzuckerungen das Risiko für einen Herzinfarkt.

Zu hohe und zu niedrige Blutzuckerwerte vermeiden

Es geht bei der Auswahl des richtigen Insulinschemas zum einen also darum, stark erhöhte Blutzuckerwerte zu vermeiden: Zu hohe Werte bewirken, dass vermehrt Zucker über die Niere ausgeschieden wird und damit gleichzeitig auch vermehrt z. B. Wasser und Blutsalze – und das kann zu Schwäche, Muskelkrämpfen und Austrocknung führen.

Zum anderen geht es darum, schwere Unterzuckerungen zu vermeiden, und das möglichst bei weitgehend normalen Blutzuckerwerten.

Im Einzelfall können aber auch deutlich zu hohe Blutzuckerwerte in Kauf genommen werden, wenn dadurch die Lebensqualität des Betroffenen eher gesteigert wird. Denn Unterzuckerungen laufen bei sehr alten Menschen oft ohne besondere Anzeichen ab und dauern dann auch oft sehr lange. Unterzuckerungssymptome wie Verwirrtheit, Benommenheit, Schwäche und Müdigkeit werden häufig dem Alter zugeschrieben – und eine Unterzuckerung wird so manchmal nicht erkannt!

Eine Insulintherapie finden, die zum Menschen passt

Vor der Entscheidung für eine bestimmte Insulintherapie sollten einige Fragen, wenn möglich gemeinsam mit dem Patienten und/oder Angehörigen, beantwortet werden:

  1. Isst und trinkt der Patient selbständig? Ist eine regelmäßige Nahrungsaufnahme gewährleistet?
  2. Inwieweit ist der Patient noch zu einer Zusammenarbeit mit dem Arzt bzw. den Angehörigen/Nachbarn fähig oder dazu bereit?
  3. Inwieweit möchte und kann der Patient seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit erhalten? Und auch: Würde die Selbständigkeit des Patienten durch die neue Therapie stark eingeschränkt?
  4. Um eine Insulintherapie vollkommen selbständig und sicher durchführen zu können, muss ein Diabetiker über bestimmte Fähigkeiten verfügen. Inwieweit sind diese Fähigkeiten vorhanden?

Außerdem muss folgendes gewährleistet sein:

  • Sein Sehvermögen muss ausreichen, damit er Blutzuckerwerte am Messgerät ablesen und die Insulindosis am Insulinpen einstellen kann.
  • Er muss zählen können, um die Insulindosis am Insulinpen richtig einzustellen.
  • Er muss Messgerät und Insulinpen bedienen können. Eine Schüttellähmung (Morbus Parkinson) oder eine Behinderung, die z. B. eine Insulininjektion unmöglich macht, darf nicht vorliegen. Dazu zählt etwa auch die Dupuytrensche Kontraktur, die mit einer starken Krümmung der Finger einhergeht.

Schema individuell wählen

Im Alter steht meist mehr die Einfachheit der Behandlung im Vordergrund als die Flexibilität der Therapie. Das Insulinschema muss individuell angepasst werden. Erfahrene Typ-1-Diabetiker spritzen im Alter natürlich meist weiterhin nach ihrem gewohnten Schema, es sei denn, sie sind dazu aus anderen Gründen nicht mehr in der Lage.

Aber ein Typ-2-Diabetiker, der im Alter mit Insulin beginnt, oder auch ein alter Mensch, der neu an Typ-1-Diabetes erkrankt, braucht eine angemessene Schulung. Ein solches Schulungsprogramm (Fit bleiben und älter werden mit Diabetes) gibt es mittlerweile, ausgearbeitet von der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Geriatrie der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG).

Bei der Auswahl der Insuline muss beachtet werden, dass humane Normalinsuline zu den Mahlzeiten bei sehr alten Menschen oft verzögert über die Haut aufgenommen werden, weil bei ihnen die Durchblutung vermindert ist. Danach aber wirken sie wegen reduzierter Nierenfunktion länger als üblich, und die Gefahr der Unterzuckerung steigt!

Ab wann Insulin?

Der Typ-2-Diabetes ist eine fortschreitende Erkrankung: Die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse reduzieren sich pro Jahr um etwa sechs Prozent. Eine Insulintherapie wird immer dann erforderlich, wenn

  • die Nüchternwerte trotz der Basismaßnahmen (Ernährung, Bewegung) und auch durch Tabletten nicht mehr im Normbereich liegen (nüchtern unter 110 mg/dl (6,1 mmol/l) oder
  • wenn die Blutzuckerwerte zwei Stunden nach den Mahlzeiten über einem Wert von etwa 140 mg/dl (7,8 mmol/l) liegen.

Muss eine Insulintherapie eingeleitet werden, richtet sich das Insulinschema vor allem danach, was im Vordergrund steht: erhöhte Nüchternwerte und/oder erhöhte Werte nach den Mahlzeiten.

Vorgehen bei erhöhten Nüchternwerten

Sind die Nüchternwerte erhöht und lassen sie sich allein mit dem Wirkstoff Metformin, der als Tablette nach dem Abendessen eingenommen wird, nicht mehr in den Normbereich senken, ist es sinnvoll, mit einer kleinen Menge Basalinsulin (z. B. mit NPH-Insulin oder Insulin detemir (Levemir)) vor dem Schlafengehen in die Insulintherapie zu starten.

Zeigen Blutzuckerprofile, dass auch tagsüber Insulin gebraucht wird, hat sich als einfachster Einstieg die Verwendung des Langzeit-Insulinanalogons Insulin glargin (Lantus) als günstig erwiesen.

Bei erhöhten Werten nach den Mahlzeiten

Ein einfacher Einstieg in eine Insulintherapie bei erhöhten Werten nach den Mahlzeiten ist die SIT (supplementäre Insulintherapie) Dabei werden kurz vor den Hauptmahlzeiten kleine fixe Insulindosen gegeben, z. B. 4 bis 6 Einheiten eines Kurzzeit-Human- bzw. Kurzzeit-Analoginsulins.

Sollte es notwendig werden, Basalinsulin zu geben, kann dies wie bei der konventionellen Insulintherapie (CT) mit dem Langzeit-Analoginsulin Insulin glargin (Lantus) geschehen bzw. mit der zweimaligen oder auch einmaligen Gabe z. B. von Levemir oder langwirkendem Humaninsulin.

Eine Alternative dazu ist eine Therapie mit festen Insulinmischungen (z. B. 30 Prozent Normal- und 70 Prozent Basalinsulin morgens und abends bzw. morgens, mittags und abends). Manchmal ist es sinnvoll, dafür Analoginsulin-Mischungen einzusetzen (z. B. Humalog Mix 25 oder NovoMix 30) – sie können auch nach dem Essen gespritzt werden, was Angehörigen und Pflegepersonal oft die Handhabung erleichtern.

Mein Fazit

Eine Insulintherapie verbessert die Lebensqualität älterer Diabetiker oft deutlich. Wann immer sie praktikabel und notwendig ist, sollte sie deshalb keinem Diabetiker nur wegen seines Alters vorenthalten werden. Schwere Unterzuckerungen sowie ein Zuckerkoma durch zu hohe Werte zu verhindern, sind die vorrangigen Ziele, um diese Lebensqualität zu erhalten.

Unbedingt zu vermeiden ist, die Patienten im Alltag zu überfordern – eine adäquate Schulung ist deshalb auch im hohen Alter nötig. Die Kombination von Insulin mit Tabletten (insbesondere Sulfonylharnstoffen), die häufig eher kontraindiziert sind, ist im hohen Alter kritisch zu sehen.


Autor:
Dr. Gerhard-W. Schmeisl, Bad Kissingen

Kontakt:
Internist/Angiologe/Diabetologe, Chefarzt Deegenbergklinik, Burgstraße 21, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71 / 8 21-0
sowie Chefarzt Diabetologie Klinik Saale (DRV-Bund), Pfaffstraße 10, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71 /8 5-01

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2012; 61 (9) Seite 44-48

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