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Die Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Diabetesforschung war sehr gut besucht, sehr international und damit perfekt, um über den Tellerrand hinauszuschauen. Viktor Jörgens und Monika Grüßer geben einen Einblick, was die Forscher derzeit beschäftigt.
Das 55. Treffen der Europäischen Gesellschaft für Diabetesforschung (EASD) fand vom 16. - 20. September 2019 in Barcelona statt. Es kamen über 14.000 Teilnehmer; 1.195 Vorträge und Poster wurden in diesem Jahr angenommen.
Die meisten Erstautoren (135) kamen aus dem (immer noch) Vereinigten Königreich, gefolgt von den USA (106), Deutschland (90) und Italien (76). Dann folgten schon Japan (70) und China (61) auf den Plätzen 5 und 6. Asien ist auf dem Spitzenniveau der Diabetesforschung angekommen.
Den Claude-Bernard-Preis für herausragende Diabetesforschung erhielt Prof. Steven Kahn (Seattle), sein Forschungsgebiet ist die Ursache des Typ-2-Diabetes. Er zeigte, wie bedeutsam für die Entwicklung des Typ-2-Diabetes Störungen der Inselzellen sein können.
Mit dem nach dem deutschen Forscher Prof. Oskar Minkowski benannten Preis ehrt die EASD einen Wissenschaftler aus Europa. Dieses Jahr wurde mit dem Preis Prof. Filip Knop ausgezeichnet, der an der Universität Kopenhagen tätig ist.
Die EASD wählt den Preisträger des von der Novo-Nordisk-Stiftung finanzierten Diabetes Prize for Excellence aus. Er ist mit sechs Millionen Dänischen Kronen dotiert. Preisträger ist Prof. Daniel Drucker aus Toronto. Seit 30 Jahren forscht er über glukagonartige Stoffe (GLP). Seine Arbeiten waren entscheidend für die Entwicklung einer ganzen Gruppe neuer Medikamente.
„Rising Stars“ ausgezeichnet
Vier junge ForscherInnen werden jedes Jahr mit dem Rising Star Award der EASD ausgezeichnet. Sie erhalten eine Projektförderung und gestalten ein Symposium während des EASD-Kongresses. Prof. Mikael Rydén (Stockholm), der Leiter des Programmkomitees, überreichte die Preise. Man sieht ihn auf dem Bild rechts inmitten der PreisträgerInnen in Jeans auf dem Podium. Erstmals war der Verleiher eines Preises jugendlicher gekleidet als die EmpfängerInnen.
Prof. John Buse (USA) zeigte Ergebnisse aus großen Studien mit Medikamenten. Er fand die fünf Gruppen, in die von Typ-2-Diabetes Betroffene eingeteilt werden können, statistisch bestätigt (s. folgenden Kasten). Interessant war, dass es in der Gruppe des „mild“ verlaufenden Diabetes bei Älteren weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen gab. Dieser „Konrad-Adenauer-Diabetes“ scheint also weniger gefährlich; den Altbundeskanzler hätte man nicht so sehr mit einer Diabetesdiät quälen sollen.
Diese fünf Gruppen sind:
Auch aus Düsseldorf gab es einen Vortrag zu diesem Thema. Dr. Oana P. Zaharia trug Ergebnisse aus der Deutschen Diabetes-Studie (DDS) vor. Die Teilnehmer dieser Studie werden viel aufwendiger untersucht als die der schwedischen Studie. Die Patienten mit deutlicher Insulinresistenz zeigten eine stärkere Verschlechterung der nicht durch Alkohol bedingten Fettleber. Bei deutlichem Insulinmangel trat häufiger eine Neuropathie (Nervenschäden) auf.
Die Einteilung in Typ-1- und Typ-2-Diabetes erfolgte vor über 30 Jahren, nachdem Typ-1-Diabetes als Zerstörung der Betazellen durch einen Immunmechanismus erkannt worden war. Zum Typ-2-Diabetes rechnete man alle, bei denen die Ursache des Diabetes unbekannt war. Diese Einteilung wird eines Tages der Vergangenheit angehören. Untersuchungen dieser Untergruppen könnten den Weg zu Ursachen des „Typ 2 Diabetes“ weisen: „Je kleiner der Heuhaufen, umso schneller findet man eine Nadel darin“, meinte ein Forscher.
Dr. Sabine Groos vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Köln) zeigte Ergebnisse von fast 900.000 Menschen mit Diabetes aus dem Disease-Management-Programm (DMP) in Nordrhein-Westfalen. In 53 Regionen wurde die Zahl der Menschen mit Diabetes und Amputationen verglichen.
Die Häufigkeit von Amputationen schwankte zwischen 0,44 Prozent und 0,97 Prozent. In ländlichen Gegenden gab es deutlich weniger Amputationen. Dies hat wahrscheinlich soziale Gründe, in Gegenden mit mehr Arbeitslosigkeit und sozialen Problemen waren Amputationen häufiger.
SGLT-2-Hemmer können auch bei Menschen mit Typ-1-Diabetes zu einer (moderaten) Besserung des HbA1c führen. Allerdings kommt es, anders als bei Menschen mit Typ-2-Diabetes, unter SGLT-2-Hemmern bei Menschen mit Typ-1-Diabetes wesentlich häufiger zu Ketoazidosen, also zu einer Übersäuerung des Stoffwechsels. Anders als beim „üblichen“ diabetischen Koma können Ketoazidosen unter SGLT-2-Hemmern sogar bei normalen Blutzuckerwerten auftreten.
In Studien mit diesen Medikamenten hat man deshalb die Patienten geschult, regelmäßig Ketonkörper zu messen. Auch hat man Patienten, bei denen es vorher schon zu solchen Entgleisungen gekommen war, nicht in Studien aufgenommen. Dennoch, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, traten solche manchmal lebensbedrohlichen Ketoazidosen auf.
Außerdem kommt es unter SGLT-2-Hemmern besonders bei Frauen häufig zu Entzündungen im Urogenitalbereich. Lohnt sich der Einsatz dieser Medikamente bei Typ-1-Diabetes trotz der Nebenwirkungen? Die Meinungen darüber sind noch geteilt.
Prof. Jochen Seufert (Freiburg) und Prof. Eric Renard (Montpellier) stellten Daten zur Behandlungsqualität des Typ-1-Diabetes vor, die in zahlreichen Ländern der Welt erhoben wurden. Dabei fiel auf, dass immer noch in 43 Prozent die Änderung der Insulindosis überwiegend vom Arzt verordnet wird. Bei fast der Hälfte der Patienten wurden die Dosierungen des Normalinsulins nur einmal in der Woche oder seltener geändert!
Eine selbstbestimmte Behandlung durch die Betroffenen und die vielen Freiheiten im täglichen Leben, die dies ermöglicht, hat weltweit erst die Hälfte der Menschen mit Typ-1-Diabetes erreicht. Leider gibt es längst nicht in allen Ländern ein so breites Angebot zur Schulung von Menschen mit Typ-1-Diabetes wie in Deutschland.
Dr. Sylwia Strozyk aus Poznan in Polen gab 32 Menschen mit Typ-1-Diabetes eine Mahlzeit mit Reis oder Nudeln. Die gleichen Mahlzeiten erhielten sie auch, nachdem das Essen 24 Stunden im Kühlschrank aufbewahrt und wieder aufgewärmt worden war. Vor dem Essen wurde die Insulindosis gespritzt, die für diese Menge an Kohlenhydraten üblich ist. Nach der Lagerung von Reis und Nudeln im Kühlschrank war der Glukoseanstieg nach dem Essen geringer.
Nach dem Essen von wieder aufgewärmtem Reis aus dem Kühlschrank kam es bei der gleichen Insulindosis sogar zu Unterzuckerungen. Bekannt war, dass Stärke nach Kühlung weniger verdaulich ist; dass dies auch für Menschen mit Diabetes praktische Bedeutung haben kann, hatte bisher niemand untersucht.
Das schwedische Diabetesregister zeigt Daten von 14 375 Menschen mit Typ-1-Diabetes. Mittlerweile nutzen dort 70 Prozent der Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes ein Sensorsystem; die große Mehrzahl arbeitet mit Flash Glucose Monitoring. Verglichen wurden bei der Auswertung diejenigen, die begonnen hatten, einen Glukosesensor zu benutzen, mit denjenigen, die keinen Sensor benutzten.
Das HbA1c besserte sich nach Beginn der Sensornutzung. Wieder einmal zeigen uns die Schweden, wie man mit einem perfekten Diabetesregister wichtige Fragen aktuell und auf Topniveau beantworten kann.
Dr. Jens Kröger aus Hamburg stellte Daten aus Deutschland, Österreich und Frankreich vor. 363 Menschen mit Typ-2-Diabetes und Insulintherapie zeigten 3 bis 6 Monate nach Nutzung eines Flash-Glucose-Monitoring-Systems eine Besserung des HbA1c von im Mittel 0,9 Prozent.
Allerdings fehlte in der Studie eine Kontrollgruppe, so dass man mit diesen Daten kaum die Kostenträger in Deutschland beeindrucken wird. Dies zeigt wieder einmal das Problem der Forschung mit Diabetestechnologie, für die keine großen Studien wie bei Medikamenten finanziert werden.
Viel Diskussion gab es über Closed-Loop-Systeme, die Glukose messen und automatisch entsprechend Insulin abgeben. Neue ermutigende Daten verschiedener Unternehmen aus Europa, den USA und auch aus Frankreich wurden vorgestellt. Dr. Katarina Braune aus Berlin stellte das von der Europäischen Union geförderte OPEN-Projekt (open-diabetes.eu) vor. Menschen mit Typ-1-Diabetes arbeiten gemeinsam mit Diabetologen, Software-Entwicklern und Ingenieuren an einer Open Source für das „künstliche Pankreas“.
Die Software soll durch die Erfahrungen der Betroffenen verbessert werden. Wenn es klappt, wird sich der Linux-Pinguin über die Kopie seiner Idee eines freien Betriebssystems freuen. Dr. Braune, die als Ärztin und Anwenderin eine der Leiterinnen des Projekts ist, stellte überzeugend dar, wie wichtig die kontinuierliche Mitarbeit der Nutzer für eine Optimierung der Closed-Loop-Systeme sein wird.
Sie schloss mit der Bemerkung: „Technologie sollte genutzt werden, um mehr Zeit zum Sprechen und Zuhören zu gewinnen.“ Das Geld der EU ist in diesem Projekt gut angelegt.
Ulrike Thurm (Berlin) sprach über die wachsende Bedeutung von Apps in der Diabetesbehandlung. Für keine Krankheit werden so viele Apps produziert wie für Diabetes – für die Bereiche Ernährung, CGM und Fitness, als Bolus-Rechner, Schrittzähler, Diabetes-Tagebuch und als Krönung der Technologie die Apps, die Software für Closed-Loop-Systeme liefern.
Aber wir werden viel lernen müssen; Thurm berichtete, dass, als sie um Hilfe für ein Problem bat, vom Informatiker die Rückfrage kam: „Did you flash your wixel and reboot the xDrip?“ Für Ältere ein Kulturschock; in wenigen Jahren hat Hightech in der Diabetologie Einzug gehalten. So mancher Diabetologe fühlt sich wie der Opa, dem die Enkelin das Smartphone erklären muss. Sehr empfehlenswert übrigens der Hinweis von Ulrike Thurm auf die deutsche Initiative zur Bewertung von Diabetes-Apps unter www.diadigital.de.
Alexander Fleming aus den USA berichtete über die Arbeit der von EASD und Amerikanischer Diabetes-Gesellschaft (ADA) gebildeten Kommission zur Diabetestechnologie. Diese Arbeitsgruppe hat schon mehrere weltweit beachtete Stellungnahmen u. a. zu Insulinpumpen und zu CGM-Systemen publiziert.
Fleming arbeitete viele Jahre bei der FDA zum Thema Diabetes; die Food and Drug Administration (FDA) ist für die Zulassung von Medikamenten und technischen Medizinprodukten in den USA zuständig. Allerdings kümmert sich die FDA nur um wenige, potenziell gefährliche Apps. Für die zahllosen übrigen Produkte empfiehlt Fleming „caveat emptor“, das heißt: Der Käufer sollte sich sehr in Acht nehmen.
Das Gesundheitswesen im Vereinigten Königreich ist schon weiter, dort gibt es ein Zertifizierungsprogramm für Gesundheits-Apps. 13 Apps wurden bisher positiv begutachtet, darunter My Diabetes My Way, die App kann derzeit in Somerset und Schottland genutzt werden.
Die EASD lädt aus vielen Ländern Vertreter von Verbänden ein, die über ihre Arbeit im Interesse der Menschen mit Diabetes berichten. Es ist immer wieder beeindruckend, was diese Selbsthilfeorganisationen leisten. Diesmal war sogar der kirgisische Diabetesverband vertreten. Für Menschen mit Diabetes gibt es in vielen Ländern noch sehr große Probleme, häufig sind Behandlung, Medikamente und Materialien zur Selbstkontrolle kaum bezahlbar.
von Dr. med. Viktor Jörgens
Director EASD/EFSD (1987 bis 2015),
E-Mail: Dr-Viktor-Joergens@t-online.de
und Dr. Monika Grüßer
Director EASD/EFSD
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (12) Seite 38-42
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