Schwitzen, Enge, Schmerzen und Scham: So lebt es sich mit über 200 Kilogramm Körpergewicht

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Schwitzen, Enge, Schmerzen und Scham: So lebt es sich mit über 200 Kilogramm Körpergewicht

Nach 150 Metern Fußweg geht ihm die Puste aus und der Schweiß läuft. Die meisten Sicherheitsgurte in Autos sind zu kurz, nur wenige Stühle im Büro oder im Kino sind der Schwerlast eines 200-Kilogramm-Körpers gewachsen, das eigene Kind findet vor lauter Bauch keinen Platz auf dem Schoß. Kein Wunder, dass viele Fettleibige sich nichts sehnlicher als eine Operation wünschen. Bei einem Besuch im Adipositas-Zentrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) durfte ich bei einem solchen Eingriff zusehen.

Wenn Ärzte von behandlungsbedürftigem Übergewicht (Adipositas) sprechen, dann meinen sie Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von über 30 kg/m². Darunter muss man sich einen Mann von 175 Zentimeter Körpergröße vorstellen, der 92 Kilogramm oder mehr wiegt. Leute dieses Kalibers hat heutzutage vermutlich jeder in seinem Bekannten- oder Kollegenkreis. Ich selbst bringe es mit 160 Zentimeter Körpergröße und hartnäckigen 69 Kilogramm auch auf einen BMI von immerhin 27. Der 41-jährige Herr C. aber, der bei einem Pressegespräch des Unternehmens Novo Nordisk am Adipositas-Zentrum am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) den Journalisten vom Leben mit seinem Übergewicht erzählt, bringt deutlich mehr auf die Waage als die allermeisten von uns. Wie schwer er tatsächlich ist, weiß er nicht, denn auf handelsüblichen Körperwaagen ist bei 200 Kilogramm Schluss. Vermutlich liegt sein Körpergewicht bei etwa 250 Kilogramm, das entspräche bei geschätzten 175 Zentimetern Körpergröße einem erschreckenden BMI von 81,6 kg/m².

Mit dem Job im Restaurant des Bruders begann das unkontrollierte Zunehmen

Wenn mir derart dicke Menschen auf der Straße begegnen, fällt es mir schwer, ihnen nicht hinterherzustarren. „Wie kann man nur so fett sein?“, denke ich dann mit einer gewissen gruseligen Faszination, aber auch: „Wie kann man bloß so leben?“ Herr C. beantwortet mir beim Pressegespräch die unausgesprochenen Fragen, die sicherlich nicht nur mir durch den Kopf schießen, wenn ich Menschen wie ihn sehe. Früher einmal sei er Basketballspieler gewesen, erzählte er, und habe Jura studiert. Doch als sein Bruder ein Restaurant eröffnen wollte und seine Hilfe brauchte, brach er das Studium ab. Fand keine Zeit mehr für Sport und für sich selbst, weil er rund um die Uhr im Restaurant arbeitete, auch an Wochenenden. Da begann das unkontrollierte Zunehmen. Interessanterweise erwähnt Herr C. nicht, dass er bei seiner Arbeit in der Gastronomie viel gegessen hat. Doch anders kann es ja nicht sein, denn man nimmt schließlich vom Essen zu und nicht vom Arbeiten. Aber er wäre ja nicht der Erste, der sich mit ständigen Naschereien über aufkeimenden Frust oder Stress hinwegtröstet und dieses Kompensationsverhalten gar nicht so recht realisiert.

150 Meter zur Bushaltestelle sind schon eine sportliche Herausforderung

Seit einer Umschulung vor 5 Jahren arbeitet Herr C. nun nicht mehr im Restaurant, sondern in der IT-Branche. „Nun habe ich noch weniger Bewegung und nehme weiter zu“, sagt er. Einen normalen Tag in seinem Leben schildert er so: „Ich wache immer schon gegen 4 Uhr früh auf, weil ich vom Liegen Druckstellen habe und nicht mehr schlafen kann. Morgens bringe ich meine beiden Kinder mit dem Auto zur Schule, obwohl sie weniger als einen Kilometer entfernt ist. Doch diese Strecke würde ich zu Fuß nicht schaffen.“ Wenn die Kinder in der Schule sind, bringt Herr C. das Auto nach Hause und geht zu Fuß zum Bus. Die 150 Meter zur Bushaltestelle sind sehr anstrengend und er schwitzt. „Im Bus ist es nicht leicht, einen Platz zu finden, denn ich muss mich durch den engen Gang durchkämpfen und spüre genau, wie ich schwitze und angestarrt werde.“ Wenn er aus dem Bus aussteigt, muss er weitere 200 Meter ins Büro gehen. Dort verbringt er seinen Arbeitstag überwiegend sitzend, auf einem gewöhnlichen Bürostuhl, der eigentlich für normalgewichtige Menschen gemacht wurde. „Es ist schwer, darauf zu sitzen, und auch der Gang zur Toilette mit ihren engen Kabinen ist nicht leicht.“ Manchmal muss Herr C. Kunden besuchen und für IT-Installationen auch mal unter den Tisch krabbeln. „Es ist mir sehr unangenehm, weil ich so stark schwitze und immer Angst habe, dass ich nicht mehr hochkomme.“

Die Kinder sind oft traurig, weil andere Familien mehr unternehmen

Auch an den Wochenenden fühlt er sich nicht wohl in seiner Haut. „Die meisten Aktivitäten, die man als Familie so unternimmt, sind mit meinem Gewicht nicht möglich.“ Seine Kinder sind oft traurig, weil andere Familien mehr miteinander unternehmen. „Ich habe ein Fahrrad, ein spezielles Schwerlastfahrrad, doch nach höchstens 2 Kilometern kann ich nicht mehr und habe Knieschmerzen“, erzählt Herr C. Aktivitäten mit Freunden scheut er: „Ich muss ja immer überlegen, ob es Stühle gibt, die unter meinem Gewicht nicht zusammenbrechen. Ob es dort gut belüftet ist, damit ich nicht zu stark schwitze. Ob ich ins Auto passe und die Sicherheitsgurte auch lang genug sind.“ Auch an Betriebsausflügen, die häufig mit Wandern, Spazieren oder einer anderen Form von Bewegung zu tun haben, nimmt er nicht teil. „Ich muss auf vieles verzichten und kann es deshalb nicht glauben, wenn ich andere stark übergewichtige Menschen sagen höre, dass sie sich mit ihrem XXL-Gewicht rundum wohl fühlen.“

Ohne eine Operation hat Herr C. keine Chance auf ein normales Leben

Herr C. liest uns aus seinem Antrag an die Krankenkasse vor, die er um Kostenerstattung für eine Magenverkleinerung gebeten hat: „Ich möchte ein guter Familienvater sein, der mit seinen Kindern Fußball spielen oder sie einfach mal auf den Schoß nehmen kann. Das geht jetzt wegen meines Bauchs nicht. Ich möchte ein guter Ehemann sein, der seine Frau zum Tanzen ausführen und ihr schöne Stunden schenken kann.“ Es ist ihm anzumerken, dass er mit den Tränen ringt. Wir Journalisten sind alle still und betroffen. Auf einmal hat Fettleibigkeit ein Gesicht. Ein Gesicht, das auf vielen Stockfotos fehlt, die von uns Medienleuten gern zum Thema Übergewicht verwendet werden und die Betroffenen auf diese Weise entmenschlicht. Wir alle ahnen, dass eine Operation allein das Leben von Herrn C. nicht in Ordnung bringen wird, weil er sicherlich intensiv an seinen Verhaltensmustern arbeiten muss, die ihn so dick haben werden lassen. Doch wir verstehen auch, dass er ohne eine solche Operation überhaupt keine Chance hat.

Ab in den OP in OP-Kittel, Gummigaloschen, Kopfhaube und Mundschutz

Im Adipositas-Zentrum des UKE werden solche Operationen tagtäglich durchgeführt – und wir dürfen bei einer davon live mit im OP dabei sein. Nach Geschlechtern getrennt betreten wir die OP-Schleusen, ziehen uns bis auf die Unterwäsche aus und streifen uns im nächsten Raum OP-Kittel und Gummigaloschen sowie Kopfhaube und Mundschutz über.

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Der geschäftsführende Oberarzt Prof. Oliver Mann führt uns in den OP-Saal, in dem seine Kollegen bereits mit dem Eingriff begonnen haben. Für eine magenverkleinernde („bariatrische“) Operation wird dem Patienten nicht der ganze Bauch aufgeschnitten, vielmehr wird der Eingriff per Bauchspiegelung durchgeführt. Über 5 bis 7 kleine Schnitte schieben die Chirurgen lange Röhren („Trokare“) in den Bauchraum, durch die entweder eine Kameraoptik oder verschiedene chirurgische Instrumente zum Schneiden, Abklemmen, Spülen oder Vernähen eingeführt werden können. Über mehrere Monitore beobachtet das OP-Team, was im Inneren des Bauchraums passiert – und auch wir Journalisten verfolgen das Geschehen gebannt.

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Ein Instrumentiertrokar hat den Dünndarmabschnitt freigelegt, der gleich entfernt werden soll. Roux-en-Y-Magenbypass heißt die Technik, bei der der Magen auf einen kleinen Restschlauch verkleinert und dann mit einer Dünndarmschlinge verbunden wird. Viel Blut ist auf den Monitoren nicht zu sehen, die ganze Szenerie wirkt ziemlich virtuell – bis der Operateur mit einem Trokar einen kleinen Plastikbeutel in den Bauchraum einführt, den entfernten Dünndarmabschnitt hineinpackt und wieder herauszieht. Der kleine Plastikbeutel samt Inhalt landet auf einem Instrumententisch gut einen Meter vor mir und macht das Geschehen auf einmal sehr real.

Nicht alle Ärzte sind überzeugt von der bariatrischen Chirurgie

Eine OP, bei der die Funktion der Verdauungsorgane massiv verändert wird und nach der lebenslang Vitamine, Spurenelemente und Eiweiß zugeführt werden müssen, ist trotz schonender OP-Methode und guten Erfolgsraten kein 0815-Eingriff und kann nur die allerletzte Option sein. Sie ist quasi die Notbremse, wenn weder Diät und Verhaltenstraining noch bestimmte Medikamente, die das Abnehmen unterstützen sollen, Wirkung gezeigt haben. Für Menschen, die bereits eine solche erfolglose Odyssee hinter sich haben, ist sie allerdings die letzte Hoffnung. Noch wird die OP nicht als Regelleistung von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt, sondern muss für jeden Einzelfall beantragt werden. Auch unter Ärzten ist die Methode nicht unumstritten. Gegner werfen den bariatrischen Chirurgen vorwerfen, sie manipulierten eigentlich gesunde Organe und gefährdeten durch die Operation Menschenleben. Prof. Mann kann das nicht nachvollziehen: „Diese Menschen sind nicht gesund. Ohne eine bariatrische Operation wäre ihr Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden oder vorzeitig zu sterben, deutlich höher als das Risiko, dass es bei der OP zu Komplikationen kommt.“

Kein Insulin mehr spritzen? Oh ja, das ist eine äußerst attraktive Option!

Tatsächlich ist massives Übergewicht meist mit einer ganzen Reihe schwerwiegender Begleiterkrankungen verbunden. Dazu zählen in der Regel Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und Gelenkbeschwerden. „Nach einer Magenverkleinerung verbessert sich die Insulinempfindlichkeit bei vielen Patienten so sehr, dass sie kein Insulin mehr von außen zuführen müssen“, erklärt Prof. Mann, „das allein nimmt – neben dem Gewichtsverlust nach der OP – enorm viel Krankheitslast von den Patienten.“ Eine Chance, kein Insulin mehr zu spritzen? Oh ja, als Typ-1-Diabetikerin, die auch ohne massives Übergewicht tagein tagaus Insulin spritzen muss, kann ich nur zu gut verstehen, dass das eine reizvolle Option ist. Tauschen möchte ich dennoch nicht mit Herrn C. oder anderen Menschen in seiner Lage. Lieber spritze ich brav weiter meine Insulineinheiten und halte mich fit, bevor überflüssige Pfunde mich an der Bewegung hindern. Das ist manchmal ganz schön anstrengend – aber ungleich qualvoller, wie der Alltag mit massivem Übergewicht ist, davon habe ich ja nun eine Ahnung bekommen…

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