Therapie des Diabetes: Gemeinsam entscheiden

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Therapie des Diabetes: Gemeinsam entscheiden

In den Leitlinien zur Therapie des Typ-1-Diabetes und Typ-2-Diabetes wird betont, dass Menschen mit Diabetes alle Belange der Diabetestherapie gemeinsam mit ihren Behandlern entscheiden. Das letzte Wort hat aber immer die Patientin bzw. der Patient: So steht es im Patientenrechtegesetz.

Vielleicht kennen Sie das von früher: Im Krankenhaus erscheinen bei der Visite viele weißgekleidete Ärztinnen und Ärzte sowie Schwestern und Pfleger. Sie unterhalten sich am Krankenbett in Mediziner-Sprache vor Ihnen über mögliche Diagnosen oder Behandlungsmethoden und legen die weitere Therapie fest.

Wenn Sie Glück haben, berichtet nachher ein Pfleger oder eine Schwester, was die Ärzte beschlossen haben und wie die künftige Therapie aussieht. Oder ein Arzt beschwert sich, dass Sie sich nicht an seine Anweisungen gehalten hätten und selbst schuld seien, wenn sie blind werden, an die Dialyse müssen oder die Beine amputiert werden. Menschen mit Diabetes, die schon lange mit Diabetes leben, können viele Geschichten aus einer Zeit erzählen, in der das Rollenverständnis zwischen Ärztin bzw. Arzt und Patientin bzw. Patient in vielen Fällen noch ganz anders war als heute.

Passive Rolle der Patientinnen und Patienten

Lange herrschte traditionell das Rollenverständnis, dass Ärztin oder Arzt eine aktive, bestimmende, Patientin oder Patient eher eine passive Rolle einnahmen. Dies drückt das aus dem Lateinischen stammende Wort “patiens” aus: “duldend, geduldig, leidend”. Ärztin oder Arzt wurden als Verantwortliche für die “Heilung” angesehen. Die, die das notwendige Wissen über die verschiedenen Erkrankungen und Möglichkeiten der Behandlung haben, machten den Patientinnen und Patienten Vorschläge und gaben Anweisungen, wie die Behandlung auszusehen habe. Bis vor etwa 30 Jahren war dies auch in der Behandlung des Diabetes so vorherrschend: Der Arzt ist aktiv, der Patient passiv. Wenn eine Ärztin oder ein Arzt sich heute noch so verhält, dann ist das wirklich überholt.

Patientinnen und Patienten sind aktiv

Denn solch ein Rollenverständnis ist schon lange nicht mehr zeitgemäß. Schließlich behandeln Sie Ihren Diabetes jeden Tag selbstständig und die Ergebnisse der Therapie hängen in einem hohen Ausmaß davon ab, wie sie das hinbekommen. “24/7/365” ist das Schlüsselwort: Gemeint ist damit, dass Sie sich den ganzen Tag, die ganze Woche, das ganze Jahr selbstverantwortlich um das Umsetzen Ihrer Therapie bemühen müssen. Das bedeutet nichts anderes als, dass Ihr Verhalten bezüglich der Therapie, Ihr Engagement für den Diabetes entscheidend für die Prognose des Diabetes sind. Urlaub vom Diabetes ist einfach nicht möglich.

Gemeinsame Entscheidungen

Sie kennen das sicher aus eigener Erfahrung: Ein gutes Verhältnis zwischen Ärztin bzw. Arzt und Mensch mit Diabetes ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Therapie. Es tut gut, verschiedene Möglichkeiten der Behandlung gemeinsam zu besprechen und auch über “Fehler” und Probleme im Umsetzen offen zu sprechen. Gut tut auch, darüber reden zu können, wie es Ihnen geht, wie Ihre aktuelle Lebenssituation ist. Ein Dialog auf Augenhöhe ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Therapie. Ideal ist, gemeinsam Entscheidungen zu finden – was auch als “partizipative Entscheidungsfindung” oder “Shared Decision Making” bezeichnet wird.

Die Idee dahinter: Sie als Patientin bzw. Patient wissen, wie Ihre Therapie läuft, kennen Ihre Lebensumstände und Ihre Überzeugungen, Werte und Wünsche. Ihr Behandlungsteam ist hingegen Experte für alle medizinischen Fragen und Belange, dafür wurden die verschiedenen Fachleute speziell ausgebildet. Am besten ist es, wenn diese beiden “Expertenschaften” zusammengeführt werden und Sie gemeinsam entscheiden, welche Therapie für Sie am besten passt.

Die Mehrheit will gemeinsame Entscheidungen

Die Frage, ob Patientinnen und Patienten überhaupt gemeinsam mit ihren Behandlern entscheiden möchten, ist schon häufig untersucht worden. Bereits im Jahr 2012 gaben in einer Studie der Bertelsmann Stiftung die meisten Befragten an, sich eine gemeinsame Entscheidungsfindung zu wünschen. Lediglich 25 Prozent bevorzugten, dass Ärztin oder Arzt allein entscheiden, 18 Prozent wollten eher ganz allein entscheiden.

Wie ist der Wunsch nach gemeinsamer Entscheidung? Eine Umfrage der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2012 unter 1546 Befragten gibt Antworten.

In der Umfrage wurde auch gefragt, in welchen Bereichen es Patientinnen und Patienten am wichtigsten sei, bei Entscheidungen eingebunden zu werden. Die Mehrheit der Befragten wünschte sich ausführliche Informationen über Vor- und Nachteile einer möglichen Therapie, wollte, dass Ärztin und Arzt auf Fragen oder Bedenken eingehen und genügend Zeit und die Möglichkeit einräumen, noch andere Informationen und Meinungen einzuholen.

Wird gemeinsame Entscheidungsfindung in der Behandlung des Diabetes gelebt?

Die Frage, ob in der Praxis die gemeinsame Entscheidungsfindung tatsächlich praktiziert wird, wurden vor Kurzem die Teilnehmenden des Befragungspanels “dia·link – gemeinsam forschen” gefragt. Die Frage wurde von 518 Menschen mit Diabetes beantwortet. Die Teilnehmenden waren zwischen 19 und 86 Jahre alt, das durchschnittliche Alter betrug 56,1 Jahre. 75,1 Prozent hatten einen Typ-1-Diabetes, 24,9 Prozent einen Typ-2-Diabetes. Im Mittel lebten sie seit 24 Jahren mit ihrem Diabetes.

Die Frage „Wird gemeinsame Entscheidungsfindung in der Behandlung des Diabetes gelebt?“ im Diabetespanel dia·link im Jahr 2023 wurde von 518 Befragten beantwortet.

Die Ergebnisse zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Teilnehmenden, nämlich fast 70 Prozent, der Ansicht ist, dass eine gemeinsame Entscheidungsfindung in der Behandlung des Diabetes tatsächlich umgesetzt wird, etwa 16 Prozent glauben dies eher nicht.

Leitlinien für die Therapie des Diabetes

Die Forderung nach einer gemeinsamen Entscheidungsfindung in der Diabetestherapie hat bereits Eingang in die Behandlungsleitlinien des Typ-1- und Typ-2-Diabetes gefunden. In beiden Leitlinien gibt es ein eigenes Kapitel, in dem genauer erläutert wird, was genau darunter zu verstehen ist. Die aktuellen Leitlinien kann man im Internet auf der DDG-Website downloaden.

Die Rechte der Patientinnen und Patienten

Bis zum Jahr 2013 waren die Rechte und Pflichten von Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten nicht gesetzlich festgeschrieben, sondern gründeten auf aktueller Rechtsprechung. Dadurch war es nicht einfach, sich als Laie einen Überblick über die eigenen Rechte und Ansprüche zu verschaffen. Durch das 2013 vom Bundestag verabschiedete “Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten” – dem Patientenrechtegesetz im Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 630a – h) sind die Patientenrechte erstmals klar beschrieben.

Dieses Gesetz hat zum einen die Stellung der Patientinnen und Patienten im Gesundheitssystem gestärkt, auf der anderen Seite aber auch für alle Beteiligten im Gesundheitswesen Rechtssicherheit geschaffen. Denn diese Rechte gelten gegenüber Ärztin oder Arzt sowie allen anderen Behandelnden. Wie Prof. Dr. Linus Geisler im Bericht der Enquete-Kommission der Bundesregierung zum Thema “Recht und Ethik der modernen Medizin” treffend sagt, ist dieses Gesetz auch dem Wandel der Zeit geschuldet: “Das alte Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wird teilweise abgelöst von einem Vertragsverhältnis mit genau definiertem Leistungsumfang. Der Patient wird zum Kunden, der Arzt zum Dienstleister, Praxis und Krankenhaus zum ‚Profit-Center‘.”

Empfehlungen/Statements aus der Nationalen VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes:
  • 1-1 – Menschen mit Typ-2-Diabetes und ihre Ärztin/ihr Arzt sollen initial und wiederholt im Erkrankungsverlauf gemeinsam individuelle Therapieziele vereinbaren und priorisieren.
  • 1-2 – Individuell mit der Patientin/dem Patienten vereinbarte Therapieziele sollen im Laufe der Behandlung regelmäßig und je nach Bedarf evaluiert und entsprechend den Ergebnissen weiterverfolgt oder angepasst werden.
  • 1-3 – Die Ärztin oder der Arzt soll die individuellen Therapieziele und ggf. ihr begründetes Nicht-Erreichen – nachvollziehbar für die Patientin/den Patienten und betreuende Berufsgruppen – dokumentieren und zur Verfügung stellen. Dies gilt auch für die Evaluation der Therapiezielerreichung.

In der Nationalen VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes gibt es Empfehlungen und Statements zur gemeinsamen Entscheidungsfindung.

Die letzte Entscheidung treffen Patientinnen und Patienten

Klar geregelt ist in dem Gesetz, dass Sie als Patientin oder Patient umfassend über alles aufgeklärt werden müssen, was für die Behandlung wichtig ist. Dazu müssen sich die Behandelnden sprachlich auf Sie einstellen und dürfen nicht in “Fachchinesisch” mit Ihnen sprechen: Im Gesetz wird eine “verständliche” Information gefordert. Auch müssen Behandelnde auf Ihre Fragen eingehen und über mögliche Chancen, Risiken, aber auch Alternativen aufklären. Wichtig ist: Sie treffen am Ende die Entscheidung, welche Behandlung Sie wünschen. Gegen Ihren Willen dürfen Behandelnde – außer bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung – keine Therapie durchführen. Im Gegenteil gilt: Wer nicht angemessen aufklärt und dies nicht dokumentiert ist, kann sogar rechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

Recht auf Zweitmeinung

Prinzipiell ist es immer möglich, eine zweite ärztliche Meinung einzuholen. Bei sehr unklaren Befunden oder bestimmten Eingriffen ist dies sogar sehr sinnvoll. In vielen Situationen wie der Frage einer Bandscheiben-Operation, einer Punktion des Knies oder bei einer Krebserkrankung sind verschiedene Vorgehensweisen denkbar. Damit Sie für sich eine gut begründete Entscheidung treffen, können Sie eine unabhängige ärztliche Meinung zu dem empfohlenen Eingriff einholen. Bei einigen Operationen ist das Recht auf eine Zweitmeinung sogar rechtlich verankert. Mehr dazu gibt es unter www.g-ba.de/richtlinien/107. Mit dem Zweitmeinungs-Verfahren können Sie die Notwendigkeit des empfohlenen Eingriffs besprechen und so etwaige Fragen oder Zweifel klären oder sich über alternative Möglichkeiten der Behandlung beraten lassen.

Auf der Website „Amputation – nein danke“ gibt es Informationen zum Zweitmeinungs-Verfahren.

Da bekannt ist, dass in Deutschland zu häufig und oft unnötig wegen Diabetes Fußamputationen vorgenommen werden, wird vor einer solchen Operation dringend empfohlen, eine Zweitmeinung einzuholen. Denn es gibt Behandlungs-Alternativen, mit denen der Fuß erhalten werden kann. Näheres dazu gibt es unter amputation-nein-danke.de/ihr-gutes-recht-zweitmeinungsverfahren der Arbeitsgemeinschaft Diabetischer Fuß der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Informationen, welche Ärzte in Ihrer Nähe für ein Zweitmeinungs-Verfahren zur Verfügung stehen, finden Sie auf der Website www.116117.de/de/zweitmeinung.php. Oder Sie rufen an unter der bundesweit gültigen Telefonnummer 116117 beim „Patienten-Navi“ der Kassenärztlichen Vereinigungen.

Recht auf Akteneinsicht

Ärztinnen und Ärzte haben die Pflicht, ihre Behandlung zu dokumentieren. Diese Unterlagen wie ärztliche Dokumentationen, Arztbriefe, Befunde und Befundbilder dürfen Sie jederzeit einsehen und Kopien davon anfertigen. Nur in wenigen Ausnahmefällen – etwa, wenn die Rechte anderer Menschen davon betroffen sind – kann Ihnen dies verwehrt werden. In Zukunft werden Sie die wichtigsten medizinischen Informationen sowieso in Ihrer elektronischen Patientenakte haben und damit jederzeit verfügbar. Nach den Plänen des Bundesgesundheitsministers soll ab 2024 jeder gesetzlich Krankenversicherte eine elektronische Patientenakte (ePA oder auch E-Akte) erhalten.

Checkliste: Ihre Rechte nach dem Patientenrechtegesetz:
  • Diagnose: Wurde Ihnen eine mögliche Diagnose genannt und erläutert (z. B. die Diagnose einer diabetischen Retinopathie, einer Diabetes-bedingten Augenerkrankung)?
  • Konsequenzen der Diagnose: Wurden Sie umfassend über den weiteren Krankheitsverlauf, gesundheitliche Konsequenzen, Möglichkeiten der Behandlung und mögliche Risiken aufgeklärt (z. B. Chancen und Risiken einer Laserbehandlung bei diabetischer Retinopathie)?
  • Behandlungs-Ergebnisse: Wurden Ihnen umfassend und verständlich Ihre Behandlungs-Ergebnisse oder Befunde mitgeteilt und wurde Ihnen anschaulich erläutert, was diese für Sie bedeuten (z. B. Befundbild der Retinopathie, Risiken bei Nichtbehandlung, Schweregrad, mögliche Folgen)?
  • Therapie-Entscheidungen: Wurden Ihnen die Chancen, aber auch die Risiken verschiedener Möglichkeiten der Behandlung aufgezeigt (z. B. Therapie mit Tabletten oder Insulin bei Typ-2-Diabetes)?
  • Schriftliche Informationen: Wurden Ihnen zur Unterstützung des Informations- und Aufklärungsgesprächs Dokumente wie Anamnesebögen, Broschüren oder sonstige Informationen aus der Praxis mitgegeben (z. B. PatientenLeitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft)?
  • Medikamente: Wurden Sie über die verschriebenen Medikamente, ihre Wirkung, Dosierung, Einnahme, Nebenwirkungen und mögliche Behandlungs-Alternativen aufgeklärt (z. B. Unterschied zwischen zwei Medikamenten bei Typ-2-Diabetes: GLP-1-Rezeptor-Agonisten und SGLT-2-Hemmer)?
  • Kosten: Wurden Sie über mögliche Kosten, die durch die Krankenversicherung nicht übernommen werden, aufgeklärt (z. B. Medikamente zur Reduktion des Übergewichts)?
  • Nachfragen: Wurde Ihnen genügend Zeit für Nachfragen eingeräumt, wurden Sie aktiv nach Ihrer Meinung gefragt (z. B.: “Haben Sie das verstanden? Haben Sie Fragen? Was ist Ihre Meinung?”)?
  • Entscheidung: Wurde Ihnen verdeutlicht, dass Sie die Entscheidung über Ihre Behandlung treffen und Ihre Entscheidung respektiert wird (“Es ist Ihre Entscheidung – was möchten Sie”)?
  • Zweitmeinung: Wurde Ihnen bei wichtigen Entscheidungen (wie der Amputation eines Fußes) die Möglichkeit genannt, eine zweite Meinung einzuholen?
  • Dokumentation: Bekommen Sie Einsicht in Ihre Akte oder Behandlungs-Unterlagen ausgehändigt bzw. ausgeliehen, wenn Sie darum bitten (z. B. Röntgenbilder, Augenarztbefund)?

Das bringt die Zukunft

Der Gesundheitsminister plant in dieser Legislaturperiode eine Weiterentwicklung des Patientenrechtegesetzes und will in Kürze dazu Eckpunkte vorlegen. Der Name klingt auf jeden Fall schon sehr bürokratisch: Patientenrechtestärkungsgesetz. Das Ziel ist, die Rolle der mündigen Patientinnen und Patienten noch weiter zu stärken und sicherzustellen, dass auch im Fall eines Behandlungsfehlers die Patientinnen und Patienten optimal unterstützt werden.

Ich persönlich halte die Entwicklung, dass die Behandlung noch mehr auf Augenhöhe stattfinden soll, für sehr gut und zukunftsweisend. Und ich muss mich trotz aller Probleme mit der elektronischen Patientenakte als ein Fan davon outen. Mehr Informationen über die eigene Gesundheit, die man mit den verschiedensten Behandlerinnen und Behandlern in der Diabetologie teilen kann, sind ein wichtiger Schritt hin zu einer noch besseren Versorgung.

Schwerpunkt: Therapie-Entscheidungen – gemeinsam klug entscheiden

von Prof. Dr. Bernhard Kulzer

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (12) Seite 18-23

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