Tolle Glukoseverläufe im Netz: Vorbild oder Stressfaktor?

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Tolle Glukoseverläufe im Netz: Vorbild oder Stressfaktor?

Seit einer Weile folge ich auf Facebook dem Chefredakteur der Lauf-Zeitschrift „Runners World“, Martin Grüning. Er nutzt seine Facebook-Präsenz immer wieder für Umfragen unter den Leserinnen und Lesern. Neulich lautete seine Frage: „Wie wichtig sind die Laufstars und ihre Laufrekorde für unseren Sport? Sind sie eine Inspiration? Braucht es nicht Vorbilder?“

Ich fühlte mich gleich von dieser Frage angesprochen. Denn ich hatte erst vor ein paar Monaten mitgefiebert, als der kenianische Top-Läufer Eliud Kipchoge in Wien als erster Mensch die Marathondistanz von 42,195 Kilometern in unter zwei Stunden lief. Wenn ich  mir das Finish seines Rennens auf Youtube anschaue, habe ich auch heute wieder Gänsehaut. Er war die gesamte Strecke in einem Durchschnittstempo gerannt, das ich nicht einmal im Sprint erreiche (wer es genau wissen will: Eliud brauchte 2:48 bis 2:52 Minuten pro Kilometer).

Seine Leistung ist fernab von allem, was ich mit meinem Körper, meinem Geist und meinen Möglichkeiten jemals erreichen kann – und trotzdem begeistert sie mich.

Es war Gänsehaut pur, als Eliud Kipchoge am 12. Oktober 2019 ins Ziel kam und einen bis dato für unmöglich gehaltenen Streckenrekord geknackt hatte. (Quelle: INEOS 1:59 Challenge)

Ein Ansporn, mich selbst immer wieder zu übertreffen

Die Antworten, die unter Martins Post eintrudelten, fand ich interessant. Da schrieb jemand: „Ich persönlich sehe Rekorde eher als etwas, mit dem gezeigt wird, was der Mensch alles imstande ist zu leisten.“ Jemand anderes schrieb: „Die beste Devise ist immer noch: Miss dich an deinen Werten von gestern und an deinen Zielen von morgen. Vielleicht auch noch an den Zeiten eines Konkurrenten in einem Cup, aber niemals an wildfremden Sportlern, zu denen man außer der Sportart Null Bezug hat.“ Eine andere Stimme sagte: „Ich finde es gut und wichtig, dass es in unseren Sport auch Topathleten gibt, die sehr viel investieren um diese Zeiten zu laufen.“ Und hier noch ein letztes exemplarisches Zitat: „Sie motivieren mich, das Bestmögliche aus mir herauszuholen. Wenn auch die Besten immer schneller können, dann kann ich doch bestimmt auch schneller als bis jetzt! Ich sehe dies als Ansporn mich selbst zu übertreffen, ohne mich mit den absoluten Leistungen dieser Topathleten zu vergleichen.“

Auch in der Diabetes-Community gibt es „Spitzenleistungen“

Während ich über diese Kommentare nachdachte, kamen mir auf einmal die „Top-Leistungen“ und „Rekorde“ vieler Menschen mit Diabetes in den Sinn. Auf Instagram, Facebook oder auf Blogs begegnen einem ja immer wieder beeindruckende Bilder von nahezu glatten Glukoseverläufen oder sensationellen Statistiken zur Zeit im Zielbereich (Time in Range, TIR).

Es gibt in unserer Diabetes-Community etliche Menschen, die in ihrer Therapie häufiger gute Ergebnisse erzielen als andere. Immer wieder einmal lese ich in diesem Zusammenhang auch Kommentare, dass Menschen mit solchen Traumergebnissen sich doch besser ein bisschen zurückhalten sollten, um andere nicht zu frustrieren. Andere wieder relativieren diese Leistungen mit dem Einwand, dass derart tolle Glukoseverläufe doch nur mit einem Closed Loop und/oder maximal hohem Aufwand erreichbar sind. Ich aber finde, man sollte nicht so viel nörgeln, sondern tolle Glukosekurven oder andere hervorragende Therapieergebnisse lieber wie die Topleistungen von Spitzensportlern wie Eliud Kipchoge betrachten.

Ab und zu findet man auch bei mir Posts mit Verläufen oder TIR-Statistiken, auf die ich besonders stolz bin. (Quelle: Antje Thiel)

No human is limited: persönliche Grenzen nicht einfach hinnehmen

Lange waren sich Sportexperten darin einig, dass es für Menschen quasi unmöglich ist, eine Marathondistanz in unter zwei Stunden zu laufen. Und dann war es eben doch möglich – eine Leistung, über die der „Spiegel“ schrieb: „Kipchoge ist nun das, was Neil Armstrong in der Welt der Raumfahrer ist. Er hat Grenzen verschoben, Neuland betreten.“ Tatsächlich hatte Eliud seine wahnsinnige Leistung in Wien daher unter das Motto gestellt „No human is limited“. Damit wollte er andere Menschen inspirieren, persönliche Grenzen nicht einfach hinzunehmen, sondern sich selbst zuzutrauen, diese Grenzen zu sprengen. Weil eben oft mehr möglich ist, als man denkt.

Eliud Kipchoge ist deshalb ein großes Vorbild für mich. Spitzensportler wie er zeigen mir, wozu der menschliche Körper unter optimalen Bedingungen in der Lage sein kann. Seinen sportlichen Bestleistungen werde ich, die für einen gelaufenen Kilometer sogar im toptrainierten Zustand immer noch mindestens 6 Minuten braucht, natürlich nicht nacheifern. Das wäre schlicht absurd. Ich bin keine Profisportlerin, habe zu wenig Talent fürs Laufen und auch keine Zeit und Lust auf tägliches stundenlanges Training. Ich trage zu viele Kilos mit mir herum, bin zu alt und außerdem auch überhaupt nicht ehrgeizig genug für sportliche Spitzenleistungen. Doch ich kann mich trauen, mir mutig neue Ziele zu setzen und meine persönlichen Grenzen zu verschieben.

Stabile Verläufe und 100% TIR sind prinzipiell möglich

Und genau eine solche Funktion haben für mich auch die Top-Ergebnisse von Typ-Einsern, die schnurgerade Glukoseverläufe und nahezu 100 Prozent TIR posten. Es steckt meist eine Menge harte Arbeit dahinter, solche Ergebnisse zu erzielen – mehr Arbeit, als viele andere bereit oder in der Lage sind zu investieren. Oft braucht es dafür auch zusätzliches technisches Equipment, zu dem nicht alle gleichermaßen Zugang haben. (Oder dahinter steckt ein etwas gnädigeres Diabetesmonster, das generell nicht so leidenschaftlich gern rasante Achterbahnfahrten veranstaltet – mit so einem Exemplar lebe ich zum Glück zusammen.) Auch ausgewiesene Diabetesexperten hätten das nie für möglich gehalten, bevor z. B. Leute aus der Looper-Community mit ihren Therapieergebnissen an die Öffentlichkeit gegangen sind. Aber es ist machbar! Menschen mit Typ-1-Diabetes können prinzipiell stabile Glukoseverläufe und nahezu 100 Prozent TIR erzielen!

Lasst uns tolle Ergebnisse also nicht als erhobenen Zeigefinger ansehen, der uns ermahnt, dass jeder Typ-Einser ab heute solche Top-Werte vorlegen muss. Es ist nicht für jede und jeden von uns alles machbar. Lasst sie uns lieber als Erinnerung daran begreifen, dass jeder von uns immer an seinen persönlichen Grenzen arbeiten und noch ein bisschen rausholen kann. Mich motiviert das jedenfalls ungemein. No human is limited!


Hier findet ihr mehr zum Thema Time in Range:

„Zeit im Zielbereich“ statt HbA1c-Wert: Was internationale Experten raten

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