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Petra ist Mutter von drei Töchtern zwischen 15 und 19 Jahren. Die mittlere, Lara, hat seit ihrem 11. Lebensjahr Diabetes. Auch wenn Lara schon seit mehreren Jahren zunehmend selbst Verantwortung für ihr Diabetes-Management übernimmt, betrifft der Diabetes doch die ganze Familie.
Im Winter vor sechs Jahren fing alles an. Lara wurde immer müder, nahm ab, trank viel und musste ständig zur Toilette. Petra erzählt: “Lara wollte auf keinen Fall ihren großen Auftritt im Schul-Theater verpassen. Allerdings musste sie so häufig zur Toilette, dass sie Angst hatte, nicht das ganze Stück auf der Bühne durchzustehen.” Gleich nach der Aufführung ging es zum Hausarzt, der eine Blut-Untersuchung veranlasste. Drei Tage später klingelte spätabends das Telefon: “Hier ist das Krankenhaus. Machen Sie sich keine Sorgen, aber Sie müssen gleich mit Ihrer Tochter zu uns kommen, es ist dringend”, sagte die Stimme am anderen Ende.
“Es war völlig surreal”, erzählt Petra. “Im Krankenhaus war der Großteil des Personals in den Weihnachtsferien, die Diabetologie hatte frei. Mitten in der Nacht nahm ein Student unsere Daten auf. Irgendwer sagte, wir sollten Urin-Proben sammeln.” Immerhin durfte Lara am Weihnachtstag nach Hause, aber essen musste sie im Krankenhaus. “Die Schwester auf der Kinder-Station nahm ein Sandwich und einen Joghurt aus dem Kühlschrank, schaute ratlos auf die Rückseite und fragte: ‚Diabetes, das ist doch irgendwas mit Kohlenhydraten, oder?‘ Dabei wusste ich doch selbst nichts.”
Nach fünf Tagen wurde die Familie ambulant geschult. “Sie haben uns wirklich als Familie geschult, das war sehr gut”, findet Petra. “Wir haben wahnsinnig viel gelernt und hilfreiche Informationen bekommen, die wir auch heute noch nutzen.” Für die anderen Töchter war es nicht einfach, dass Lara plötzlich so viel Aufmerksamkeit bekam. “Als Eltern haben wir immer versucht, allen Töchtern gerecht zu werden. Aber Lara braucht manchmal einfach mehr Aufmerksamkeit, weil sie sonst im Krankenhaus landet.”
Gerade in den ersten Wochen und Monaten haben Petra und ihr Mann sich oft gefragt, warum ausgerechnet Lara Diabetes bekommen hat, ob sie etwas falsch gemacht haben: “Ich habe alle drei Töchter gestillt, wir haben immer gesund und frisch gekocht, darauf geachtet, dass die Mädchen sich bewegen und gesund sind. Das fühlte sich so ungerecht an. Aber die Dinge sind, wie sie sind, damit muss man arbeiten.”
Die Diabetes-Diagnose zu akzeptieren, dabei hat auch die Selbsthilfegruppe für Familien und Kinder mit Typ-1-Diabetes geholfen. Die Situation in der Schule ist nach wie vor schwierig: “Eine Lehrerin kritisierte beim letzten Eltern-Sprechtag, dass Lara bei einem Ausflug ins Kino ja Cola getrunken und Chips gegessen habe. Eine andere Lehrerin sagte: ‚Ihre Tochter kann sich nach der Mittagspause nie konzentrieren, da ist ihr Zucker immer zu hoch.‘ Aber sie haben nur eine halbe Stunde Pause. In der Zeit muss Lara spritzen und essen, da ist ein hoher Wert vorprogrammiert. Andererseits gibt es mittlerweile auch Lehrerinnen, die merken, wenn es Lara nicht gut geht. Bei einer Probe-Klausur vor einigen Wochen war ihr Zucker zu hoch. Die Lehrerin hat ihr angeboten, die Klausur am nächsten Tag nachzuholen.”
Der Prüfungs-Stress wirbelt auch den Zucker durcheinander. Petra nimmt wahr, wie frustriert ihre Tochter ist: “Sie hat immer wieder Momente, in denen sie am liebsten alles hinwerfen würde. Zum Glück dauert es nie lange, denn sie weiß, dass es nur schlimmer wird, wenn sie ihren Zucker länger ignoriert. Aber sie so leiden zu sehen, schmerzt auch uns als Eltern.” Seit mehreren Jahren hat Lara eine Insulin-Pumpe, doch gerade mag sie auch die überhaupt nicht: “Sie ist genervt von dem Gerät und hat das Gefühl, dass das Insulin oft nicht richtig ankommt und der Zucker dadurch weniger berechenbar wird.” Also steigt sie für einige Wochen wieder auf Pens um.
Petra hofft für ihre Tochter, dass die Pause von der Pumpe ihr Erleichterung bringt, vielleicht gerade, weil so die Anzahl der Entscheidungen verringert wird, die sie am Tag treffen muss: “Mit Diabetes muss man ständig planen.Wenn wir in den Urlaub fahren, hat sie immer eine große Extra-Tasche mit all ihren Diabetes-Sachen dabei. Und das ist nicht nur physischer, sondern auch mentaler und emotionaler Ballast. Auch im Alltag trägt sie den Diabetes immer mit sich: Sie kann nicht einfach aus dem Haus gehen, ohne sich vorher überlegt zu haben, was sie vorhat und was sie dazu an Insulin und Essen mitnehmen muss. Davon gibt es keine Pause, keinen Urlaub, nicht mal einen freien Tag. Als Eltern würden wir alles geben, ihr zumindest einen Teil davon abnehmen zu können.”
“Geteiltes Leid ist halbes Leid”, wie es so schön heißt. Diese Erfahrung konnte Lara bei einer Diabetes-Freizeit machen: eine Woche normal sein, gemeinsam messen, essen, spritzen, sich über den eigenen Körper ärgern und merken, dass andere genau die gleichen Probleme und Herausforderungen haben. Aus diesem Austausch konnte Lara eine ganz andere Unterstützung ziehen, als ihre Eltern oder das Team in der Ambulanz sie ihr geben könnten. Mittlerweile hat sie in der lokalen Selbsthilfe die Rollen getauscht und hilft manchmal bei der Kinder-Betreuung. Dann sitzen alle gemeinsam am Tisch und vergleichen ihre Pumpen oder Messgeräte, und auch die jüngeren Kinder bekommen genau dieses Gefühl: “Ich bin nicht allein.”
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (7) Seite 38-39
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