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Seit Ende 2010 hat Sina Flügge Diabetes. In dieser Lebensecht-Geschichte erzählt ihre Mutter Tanja Flügge vom ersten Jahr mit der Krankheit.
Ich halte meine gerade geborene erste Tochter überglücklich in den Armen und flüstere ihr ins Ohr: „Ich wünsche dir Gesundheit, mein Schatz!“
Die Ketoazidose hat Sina voll im Griff. Ihre Blutwerte sind mehr als schlecht, von ihrem sehr hohen Blutzucker redet momentan niemand. Kalium muss her. Bei Sina wurde gerade Diabetes Typ 1 diagnostiziert, der HbA1c-Wert liegt bei 15,8 Prozent.
Mit dieser Zahl kann ich, Sinas Mutter, nichts anfangen. Mir macht die Situation nur Angst, ich kann an gar nichts mehr denken, weder, wie die nächsten Stunden verlaufen werden, noch wie es darüber hinaus weitergeht. Erst recht nicht, ob wir hier alle auf eigenen Beinen rauskommen werden. Ich scheine mich in einer Art Stand-by-Modus zu befinden. Stunden später weiß ich, dass mein Kind wieder zurückfinden wird ins Leben, obwohl mir dies als medizinischem Laien rein optisch mehr als unwahrscheinlich erscheint.
Sina steht zwar noch wackelnd auf eigenen Beinen, aber sie steht. Sie hat sich mit der Situation arrangiert und es scheint, als ob sie ihren Diabetes annehmen kann.
“Mama, ich habe keine andere Chance, ich möchte leben und ich werde alles dafür tun, dass ich leben kann!“ Worte einer 11jährigen, als ich bei ihren ersten Spritzversuchen mit dem Insulinpen anfange zu weinen. Mit einem Schlag fühlt sie sich verantwortlich für sich und ihren Körper. Mit einem Schlag ist aus meinem kleinen Mädchen eine vernünftige, junge Frau geworden. Der Stolz, den ich in diesem Moment für mein Kind empfinde, ist unbeschreiblich riesig.
In den nächsten Tagen lernen wir gemeinsam eine Menge über Nährwerte, die uns bis dahin ziemlich egal waren. Wir lernen vieles über Körperfunktionen, die uns bis dahin nicht bekannt waren. Es ist erstaunlich, wie viel Wissen wir uns in wenigen Tagen aneignen können, und das nur, weil ein paar kleine Zellen in der Bauchspeicheldrüse meiner Tochter beschlossen haben, ihren Arbeitsauftrag zu verweigern.
Ich bin zu diesem Zeitpunkt entsetzt, dass mir nicht bewusst war, wie schnell ein gewohnt problemloses Leben vorbei sein kann. Wie kann ich wochenlang Veränderungen an meinem Kind auf Schulstress, beginnende Pubertät und die Jahreszeit schieben? Wie schnell kann ein Kind gefährlich viel abbauen, zwölf Kilogramm verlieren und aussehen, als sei es dem Tod näher als dem Leben?
Wir mussten es erfahren und haben seitdem viele Einstellungen, die wir bis dahin für wichtig hielten, in die Kategorie „unwichtig“ verbannt. Den Diabetes bekommen wir auch noch in den Griff – packen wir’s an!
Wir werden nach elf Tagen entlassen. Vom Krankenhaus verabschieden wir uns auf dem Parkplatz mit einem dankbaren Blick – und Tränen in den Augen, dass wir dieses Gebäude gemeinsam verlassen können. Ich sitze mit meiner Tochter im Auto und ich weiß, ab sofort bin ich auf mich alleine gestellt, ab sofort kann ich nicht kurz aufs Knöpfchen drücken und dies und das nachfragen. Aber: Ich habe die Sicherheit eines kleinen Zettelchens, der eine Telefonnummer bereithält, die ich rund um die Uhr anrufen könnte, wenn ich Fragen hätte.
Ich bin ein wenig angespannt, allein zu Haus mit der riesengroßen Verantwortung für mein chronísch krankes Kind. Meine Abendlektüre umfasst 400 Seiten Diabeteswissen für Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Typ 1, wie viele Abende vorher. Ich befasse mich zum ersten Mal bewusst mit dem Thema „krank sein“. Was bedeutet „krank sein“? Für mich bedeutet dies, nicht so am Leben teilnehmen zu können, dass der „Kranke“ sowohl psychisch als auch physisch mit seiner Situation zufrieden ist.
Ich denke lange darüber nach und komme zu dem Entschluss: Mein Kind ist nicht krank! Das ist kein Wunschdenken, das ist Realität. Ich habe nach so kurzer Zeit bereits gelernt, dass der Diabetes zwar da ist, aber wenn er gut behandelt wird, ist er auch gut zu meinem Kind. Sina ist nicht anders als andere Kinder, außer, dass sie eine viel größere Verantwortung als Gleichaltrige zu den Zeiten tragen muss, in denen sie alleine ist.
Zusätzlich trägt sie wieder einiges mit sich herum, das sie unterstützt. Allerdings sind das Dinge, die in eine kleine Tasche passen. Man muss nur dran denken.Ja, mein Kind muss sich oft in den Bauch stechen, sie muss, bevor sie herzhaft in ihr Brötchen beißt, sowohl den Blutzucker messen als auch dafür sorgen, dass ihr Körper das Brötchen verstoffwechseln kann. Dennoch kann sie wie alle anderen am Leben teilnehmen.
Die Küchenwaage ist jetzt unser Freund. Nichts geht mehr ohne die Küchenwaage. Sie ist ab sofort immer dabei. Wir wiegen das Essen gemeinsam ab und rechnen aus, wie viele Kohlenhydrate auf Sinas Teller liegen – und hoffentlich auch in ihrem Magen landen werden.
Wir sind noch einmal im Krankenhaus mit unserer Kinderärztin verabredet, die uns jeden Tag in mehreren Stunden zur Seite stand und uns geschult hat. Ihr haben wir zu verdanken, dass wir zu Hause bereits entspannt durch den Tag kommen.
Wir feiern mit unseren Freunden den neuen Jahresbeginn. All die Jahre davor haben wir uns Gesundheit gewünscht. Dieses Jahr wünschten wir uns allzeit gute Werte und keine weiteren Hiobsbotschaften. Erstaunlich, wie unwichtig Erfolg, Karriere, Urlaub, ein neues Auto, gute Schulnoten plötzlich sind.
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Sina geht wieder zur Schule. Der Diabetes mit ihr. Wir haben keine Ahnung, wie der Tag wird. Ich warte in der Schule gespannt auf die Pause. Sina erklärt ihren Mitschülern, was Diabetes ist, was sie ab nun auf Schritt und Tritt begleiten wird, welche Therapie sie macht, wie sie Insulin spritzt und dass sie vor, während und nach dem Sport ihren Blutzucker messen muss.
Sie kommt in der Pause im Kreise ihrer Freunde die Treppe hinunter gestürmt, und ich habe zum ersten Mal wieder den Eindruck, ein ganz normales Kind zu haben. Ich bin einerseits entsetzt, dass sie mir schnell im Vorbeifliegen einen Blutzuckerwert zuwirft, andererseits freue ich mich riesig, dass sie sich so wohl fühlt und der Diabetes hier offenbar nur nebenher läuft. Nach vier Stunden Schule gehen wir beide sehr glücklich nach Hause.
Ab der zweiten Woche nimmt sie wieder voll am Unterricht teil und fährt alleine mit dem Bus. Ihr Handy immer griffbereit – ich meins auch. Wir besprechen in den Schulpausen ihre Blutzuckerwerte und ihre zu spritzenden Insulineinheiten. Ich fahre mittags in die Schule, um meinem Kind in der Mensa zu helfen. Wir beschließen, dass wir aus Zeitmangel mittags kein Essen mehr abwiegen. Eine große Veränderung, eine noch größere Verantwortung.
Wir machen in den letzten Wochen gute Erfahrungen ohne Küchenwaage. Das Schätzen der Kohlenhydratmenge fällt uns immer leichter, wir nähern uns akzeptablen Blutzuckerwerten nach dem Essen. Die Küchenwaage wird wieder in den Schrank verbannt.
Es ist Zeugnistag. Im echten Schulleben und in der Diabetesambulanz. Wir freuen uns über ein sehr tolles, erstes Zeugnis auf dem Gymnasium. Und sind gespannt, ob wir bereits eine 8 als HbA1c-Wert erreicht haben. Der HbA1c bei Manifestation betrug 15,8 Prozent, kann ich nach zehn Wochen Anfänger-Therapie nun eine 8 vor dem Komma wünschen oder ist das zu viel verlangt? Die Nachricht löst einen erleichterten Wow-Effekt aus: Der HbA1c liegt bei 6,9 Prozent.
Der erste Geburtstag steht an. Sina wird in den Klettergarten eingeladen. Sie freut sich riesig. Ich sehe nur ein explodierendes Blutzuckermessgerät! Der Klettergarten muss, wenn es nach mir geht, nicht der erste selbstverantwortliche Probetag außerhalb der Schule sein. Ich kläre die Gastmutter auf und gebe Sina kleine Tipps mit auf den Weg.
Mein Kind sehe ich zehn Stunden später fröhlich und ausgelassen tobend im Garten wieder, frage mich kurz, wie gut sie durch diesen Tag kam und werde von einem „Ich hatte eine 380, aber das ist egal, denn der 16-Meter-Bungeesprung war sehr cool!“ empfangen.
Puh, durchatmen. Ein Wert jenseits der Ist-in-Ordnung-Grenze, aber ein sehr glückliches Kind und die Erkenntnis, dass Adrenalin schneller Spuren hinterlässt, als ich denke. Was will ich mehr? Die 380mg/dl (21,1 mmol/l) bekommen wir wieder runter, Sina hatte einen aufregenden Tag mit sehr viel Spaß und ich konnte Entspanntsein üben.
Urlaub vom Diabetes? Nein, aber auch nicht schlimm. Die Sommerferien sind spannend, für uns und unsere Hilfsmittel: Albert, das Blutzuckermessgerät, lernt Sand und Meerwasser kennen und wir wissen jetzt, dass ins Meer gefallene Teststreifen ihren Arbeitseinsatz verweigern.
Wir wissen auch, dass Wattwandern mit Diabetes zwar völlig in Ordnung ist, die Nervosität aber eine gewisse Höchstgrenze erreicht, wenn die Küste nach zwei Stunden Wandern nur im Kleinstformat am Horizont zu erahnen ist – das Messgerät nicht über 80mg/dl (4,4 mmol/l) hinausgeht und der Traubenzucker fast aufgebraucht ist. Ob Wattwürmer kohlenhydrathaltig sind? Vermutlich nicht. Wie gut, dass das niemand ausprobieren muss. Ich hatte mich noch nie mehr über die Eisdiele am Strand gefreut …
Der Diabetes ist nun fast ein Jahr bei uns. Zu meinem Erstaunen muss ich feststellen, dass er unser Leben nicht so beeinflusst, wie ich anfangs vermutete. Natürlich haben wir Abweichungen zu stoffwechselgesunden Kindern, natürlich muss sich mein Kind Nadeln in den Bauch stechen. Aber das tut sie „gerne“, denn sie weiß, dass ihr dies ein ganz normales Leben ermöglicht.
Sie sagte einmal: “Wenn ich eine Allergie hätte, dürfte ich vielleicht bestimmte Sachen nicht essen oder meine Haut würde schlimm jucken. Wenn ich eine furchtbare Krankheit hätte, dürfte ich vielleicht gar nicht nach Hause. Ich habe aber nur Diabetes und darf alles machen, was ich möchte und alles essen, das mir schmeckt. Ich muss Insulin spritzen und meinen Blutzucker kontrollieren, damit es mir gut geht, aber das ist schon in Ordnung so.“
Wir haben uns an gute, schlechte und manchmal auch unerklärliche Blutzuckerwerte gewöhnt. Auch wenn man denkt, das Leben bleibt stehen, wird es weiter gehen. Irgendwie. Manchmal prima, manchmal schlecht. Manchmal vorhersehbar, manchmal überraschend. Jeden Tag neu. Kein Tag mehr wie der andere.
Der Diabetes stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Er bleibt spannend, auch wenn uns ein kleines bisschen weniger Spannung manchmal lieber wäre! Vor 16 Monaten sah ich, die Welt steht still, jetzt weiß ich, es ist nur wenig anders als es ohne den Diabetes war. Das hätte ich nie gedacht …
von Tanja Flügge
Sinas Mutter (Abb. 1), E-Mail: marielaurin@gmx.de
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