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Ich sehe mich nicht. Bis auf eine 08/15-Kurzsichtigkeit, die ich im Alltag mit Brille oder Kontaktlinsen auszugleichen weiß, gibt es keine Begründung für dieses Problem, aber ich kann mich nicht sehen.
Ich schaue in den Spiegel, bewerte das Bild – genauer: ich werte es ab – und dann gehe ich weiter und fühle mich hässlich. Ich fühle mich nicht nur hässlich, ich fühle mich abstoßend, dick, schwabbelig, Alien-haft. Und das alles, weil ich nur eines wahrnehme, wenn ich mich anschaue, anfasse, mich an- oder ausziehe: mein Gewicht.
Umso paradoxer ist die Tatsache, dass ich mich nicht dünner fühle, wenn ich weniger wiege. Ich fühlte mich (zu) dick mit 70kg bei einer Körpergröße von 178cm.
Als die Kilogramm-Anzeige auf der Waage in den Jahren immer weiter nach oben wanderte, war ich mir sicher, mich umzubringen, wenn ich über 80kg komme, und nun mit 90kg fühle ich mich genauso unwohl wie mit 20kg weniger.
Es wird offensichtlich, dass mein Problem mit mir nicht an mein Körpervolumen gebunden ist, und trotzdem bin ich überzeugt davon. Irgendein Dämon in mir sagt, dass ich nur glücklich sein kann, wenn ich dünn (und schön) werde. Und ich denke ständig daran, wenn ich etwas zu mir nehme.
Ob Nahrungsmittel, Lebensmittel oder Genussmittel. Essen und Trinken ist all das für mich, aber auch eine Form der Belohnung, der Bestrafung, des Trosts oder der Beschäftigung. Manchmal ist das Gefühl beim Schlucken das Letzte, was ich wahrnehme in einer depressiven Phase.
Ich liebe Essen. Ich weiß es zu schätzen, dass ich genug davon zur Verfügung habe. Und ich genieße es. Aber ich missbrauche es zu oft zur Kompensation von allzu vielen Gefühlen. Das ist mir noch viel bewusster, seitdem ich Diabetes, aber auch die anderen Diagnosen bekommen habe. Doch der Diabetes triggert es manchmal – ab und zu auch öfter.
Ich denke, viele von uns, die Diabetes Typ 1 haben, kennen den Kampf mit der Gewichtsreduktion. Endlich zieht man es durch, gesünder und dementsprechend vielleicht weniger Kohlenhydrate zu essen und auch endlich wieder Sport zu machen. Und dann fühlt man sich gut!
Genau bis zu dem Punkt, an dem der Diabetes meint, den Höhepunkt der Motivation in einen Tiefstpunkt des Blutzuckerwertes zu verwandeln. Ja, man kann da straight von Tag zu Tag Insulindosis und alles andere anpassen und, wenn es zu einer Hypoglykämie kommt, nicht gleich die Nerven verlieren, das kann man. Aber ich kann es nicht.
Ich fühle mich in diesen Momenten persönlich verarscht. Vielleicht schaffe ich es einige Male, die Situation vernünftig zu lösen, aber es kommt immer der Punkt, an dem ich anfange, wieder zu (fr)essen.
Ob mit oder ohne Hypo. Es gibt Menschen, die sind einfach zum Hässlichsein geboren, denke ich dann. Und damit meine ich nicht alle jene, die über ihrem Idealgewicht liegen. Ich kann an anderen so vieles schön finden. Nur an mir, da fällt es mir unfassbar schwer.
Wäre der Diabetes nicht, würde ich mich viel weniger mit meiner Ernährung auseinandersetzen, da bin ich mir sicher. Ich weiß nur nicht, ob das gut oder schlecht wäre. Oder irgendwas dazwischen. Aber in meinem Kopf gäbe es weniger Bewertungen, weil ich mir weniger Gedanken machen würde, was genau das in und mit mir anstellt. Das wäre sicher entspannter, aber andererseits ist der Diabetes eben auch eine Motivation, sich um sich zu kümmern.
Und eben dieses Kümmern funktioniert bei mir übers Essen und Trinken, in Massen, nicht in Maßen. Letztendlich hat das alles mit der Liebe zu sich selbst zu tun. Würde ich mich so lieben, wie ich bin, wäre mir auch die Anzeige auf der Waage egal. Dann käme ich nicht auf die Idee, zu essen, um mich noch unattraktiver zu fühlen. Und danach zu essen, um mich über das selbst erzeugte Gefühl hinwegzutrösten. Um dann noch einmal zu naschen, bevor ich zur Belohnung esse, weil ich mir eingestanden habe, dass das zwischen der Schokolade und mir nicht das ist, was ich eigentlich suche.
Ich suche mich. Ich will mich sehen. Und zeigen.
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