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„Ich möchte dich gerne meinen Eltern vorstellen.“
Der Diabetes starrt mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
„Uhm…“, stottert er herum, „aber wir sind doch noch lange nicht mit der Renovierung fertig. Du kannst hier unmöglich jemanden einladen. Guck mal, ups…“ Und schon fiel eine Vase neben ihm krachend zu Boden.
Tatsache ist, dass ich ihm noch nicht mal großartig widersprechen konnte. Es sieht hier wirklich nicht gemütlich aus.
Der Diabetes fuhr fort: „Ich kapiere es außerdem nicht. Deine Eltern wissen doch schon seit Anfang an, dass es mich gibt.“
„Natürlich tun sie das, aber sie kennen dich nicht. Es ist so, als ob dich jemand fragen würde, wie das Gebäude aussieht, in dem du lebst, und du zeichnest ihm ein Nikolaushaus auf.“
Einfach den Diabetes herunterspielen. Mich nicht beschweren. Symptome von Über- oder Unterzuckerungen so sorgfältig verstecken, dass ich fast schon ausblenden konnte, wie schlecht es mir dabei eigentlich ging. Nicht darüber sprechen, ihm einfach keinen Raum geben. Schneller das Thema wechseln, als mein Blutzucker nach dem Besuch beim Weihnachtsmarkt in die Höhe schießen konnte.
Meistens schob ich es darauf, dass ich meinen Eltern keine Sorgen machen wollte. Dass sie ja schon genug ertragen mussten. Aber vor allem fürchtete ich mich vor Schuldzuweisungen.
„Weißt du, ich kann es total verstehen. Du hast da dein Kind und es ist krank. Doch es kann trotzdem ein ziemlich gutes Leben führen, wenn es aufpasst und sein Medikament nimmt. Was macht das Kind stattdessen? Schmeißt dir förmlich eine Kriegserklärung entgegen.“ Ich warf dem Diabetes einen scharfen Seitenblick zu, aber der hob nur verteidigend die Hände.
„Ich kann verstehen, dass sie sich hilflos gefühlt haben und dass sie vielleicht wütend waren. Ich meine, ich habe mir selber Vorwürfe gemacht. Ich war mir doch allem bewusst. Aber ich glaube, was mich damals am meisten gestört hat, war das Gefühl, sie enttäuscht zu haben.“
Ausnahmsweise sagt der Diabetes daraufhin nichts und so schweigen wir ein wenig gemeinsam.
Wir beide wissen nicht, ob man in so einer Situation etwas richtig machen kann, ob es nicht vorherbestimmt ist, überfordert zu sein. Eltern bleiben nun mal auch Eltern.
Als ich mich kurz gesammelt habe, spreche ich weiter: „Du hast damals einfach die Tür eingetreten und bist hineinmarschiert. Also dachte ich, das Beste wäre, genau diese Tür zweimal abzuschließen und noch drei Bretter davorzunageln. Wenn du nicht verschwinden willst, muss dich zumindest niemand außer mir sehen. Aber – und nimm mir das jetzt nicht übel – alleine bist du am schwierigsten zu ertragen. Darum werde ich nicht darauf warten, bis hier alles perfekt ist. Jeder kann selbst entscheiden, ob er sich bei diesem Anblick kreischend umdreht und wegrennt oder ob er einfach mit anpackt.“ Ich grinse ihn an und nach kurzem Zögern kommt ein Lächeln zurück. Der Diabetes würde die neue Aufmerksamkeit voll und ganz ausnutzen.
„Alles klar, es ist Zeit für Besuch“, gibt er endlich nach.
Und so versuche ich es. Ich erzähle von meinen Ängsten, meinem Frust, meinen Niederlagen. Von meinen Hoffnungen, meinen Zielen, meinen Erfolgen. Von den Gesprächen mit meinem Diabetes und dass mir das Hypobarcamp im vergangenen Oktober das Gefühl gab, etwas gefunden zu haben, was ich all die Jahre lang gebraucht hätte. Mal meinen Eltern, mal Freunden, mal auch einfach nur einer mysteriösen Ansammlung an Menschen, die sich irgendwie Blood Sugar Lounge nennt.
Ich erzähle davon, dass es noch lange nicht okay ist. Aber es ist okay, davon zu erzählen.
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