Dialog 8 – die Diagnose

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Dialog 8 – die Diagnose

Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem der Diabetes schon länger mein unfreiwilliger Mitbewohner war als nicht. Tatsächlich fühlt es sich aber eher so an, als hätte er immer schon hier gewohnt. Natürlich weiß ich, dass ich ganze acht Jahre ohne ihn hatte, aber wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, wie es war, essen zu können, ohne als Beilage Gedanken über Blutzuckerwerte und Insulindosis zu haben, dann finde ich einfach keinen Bezug dazu.

Gleichzeitig ist die Erinnerung an den Tag meiner Diagnose und die folgende Zeit so präsent, als hätte ich damals schon ganz genau gewusst, wie sehr sich mein Leben ändern würde. Und manchmal, da denke ich daran zurück und staune darüber, wie alltäglich der Diabetes seitdem geworden ist. Trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen und obwohl ich ihn meine halbe Jugend lang vehement von mir gestoßen habe, gehört er mittlerweile unweigerlich zu mir.

Quelle: Huda Said

„Hey Diabetes“, sagte ich, „weißt du, was mich bis heute stört?“

„Nein, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du es mir gleich erzählen wirst“, antwortete der Diabetes trocken.

„Genau.“ Ich streckte ihm die Zunge raus. „Ne, ernsthaft jetzt. Weißt du, was mein letztes Gericht ohne dich war? Mit Reis gefüllte Zucchini in Joghurt-Soße. Ich mag Zucchini noch nicht mal!“

Der Diabetes verdrehte die Augen. „Ist dir eigentlich klar, wie viel mehr du in deinem Leben erreichen könntest, wenn du deine Gehirnkapazität nicht mit dem Speichern solcher unnötiger Informationen vergeuden würdest?“

Die Anfangszeit

„Ey!“, rief ich empört, „nicht frech werden hier. Das ist gerade ein wichtiger nostalgischer Moment. Das ist quasi dein Geburtsbericht. Also hör gefälligst zu.“

Der Diabetes seufzte laut. „Na gut. Bringen wir es hinter uns.“

Ich grinste. „Sehr gut. Mein erstes Essen mit dir entsprach zum Glück schon eher meinem Geschmack. Es war schon mitten in der Nacht, weil mein Hausarzt mich damals erst an unser örtliches Krankenhaus überwiesen hatte und ich auch dort aufgenommen wurde, bis die irgendwann realisierten, dass sie keine Ahnung von Diabetes hatten. Also ging es ein paar Stunden später doch wieder nach Hamburg. Dort angekommen gab es dann einen Mitternachtssnack à la Toast mit Butter und – tada – meine erste Insulininjektion.“

„Und von nun an lebten du und ich glücklich in Harmonie“, quatschte der Diabetes dazwischen.

„Haha“, imitierte ich ein Lachen. Aber tatsächlich war die Anfangszeit erstaunlich friedlich. Vor allem die zweiwöchige Schulung im Krankenhaus ist mir recht positiv in Erinnerung geblieben. Ob nun Kugelschreiberkreise auf meine Oberschenkel zeichnen, das fast schon spielerische Erkunden von Kohlenhydraten, das Auswählen meines zukünftigen Blutzuckermessgerätes oder die Tatsache, dass Traubenzucker damals noch lecker schmeckte – alles war zwar neu, aber nicht beängstigend, sondern aufregend. Das erste Mal geweint habe ich an dem Tag, als ich wieder nach Hause kam, und das auch nur, weil mein kleiner Bruder meine coole Ballon-Blume, die ich als Abschied von der Station bekommen hatte, zerplatzt hat.

„Schöne Zeiten, als noch jemand anderes auf dich aufpasste“, kam ich auf die Bemerkung des Diabetes zurück.

Quelle: Huda Said

Jetzt war der Diabetes an der Reihe, empört zu gucken. „Wie, du weißt unser Teamwork nicht zu schätzen?“

„Naja, Teamwork würde bedeuten, dass du auch was machen würdest“, gab ich spitz zurück.

Der Unterschied

„Ich meine ja nur. Das ist für mich einer der größten Unterschiede, wenn du einen schon als Kind begleitest statt erst später. Am Anfang werden einem noch die meisten Entscheidungen abgenommen. Meine Eltern haben die Einheiten ausgerechnet, gespritzt, sind in der Nacht aufgewacht. Ich habe dich im Endeffekt ja erstmal nur mit mir durch die Welt geschleppt. Und das ergibt auch Sinn so – aber ich glaube, wenn ich an unsere Anfangszeit zurückdenke, dann vergesse ich manchmal, dass es für mich nicht nur einfacher war, dich zu akzeptieren, sondern es war wirklich einfacher, mit dir zu leben. Ich habe damals noch nicht die Verantwortung tragen müssen, wie ich es heute tue. Weißt du, du warst eines Tages einfach da. Ich hatte eigentlich keine andere Wahl, als mich so schnell wie möglich damit abzufinden – du hast mir gar nicht die Zeit gelassen, großartig darüber nachzudenken, was das wirklich bedeutet. Das kam erst später, schleichend. So ein nachträglicher Diagnose-Schock eigentlich.“

Mehr als nur die Diagnose

Der Diabetes sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Wow, es überrascht mich immer wieder, wie sehr du mich liebst.“

Ich schlug ihm gegen die Schulter. „Ich kann dich auch wieder in die ewige, stille Verdammnis schmeißen.“

„Ich sag nichts mehr. Bitte, bereichere mich weiter mit deinen höchstinteressanten Ausführungen.“

In diesem Moment fragte ich mich ernsthaft, ob ich ein geeigneter Umgang für den Diabetes war. Der Sarkasmus färbte ab. Aber ich fuhr trotzdem fort: „Diagnose, dass ist vielleicht ein einziges Datum in irgendeiner Akte. Aber mit dir, mit Diabetes zu leben, ist nichts, was man innerhalb eines Tages, wahrscheinlich noch nicht mal innerhalb eines Jahres schon verstehen kann. Diabetes verändert sich und man verändert sich unweigerlich mit. Klar, der Fachbegriff dafür bleibt vielleicht gleich. Aber nicht der, sondern mein Diabetes, den ich vor elf Jahren hatte – mit Pen, mehrmals täglich in den Finger piksen und meinen Eltern – ist nicht derselbe, den ich heute habe – mit Insulinpumpe, CGM und einem ganzen Berg an Erfahrung. Deshalb gibt es auch kein Vor-Diabetes-Ich und kein Nach-Diabetes-Ich. Deshalb ist Diabetes auch mehr als nur diese eine Diagnose. Verstehst du, was ich meine?“

Der Diabetes nickte. „Klar, tue ich. Man soll mir nicht vorwerfen, dass ich keine Charakterentwicklung durchlebt habe. Kannst du dann jetzt bitte aufhören, von mir in der dritten Person zu sprechen? Das ist voll unhöflich.“

Legenden besagen, dass sich danach ein diabetesförmiger Abdruck an der Wand befand.


Hudas letzten DIAlog findet ihr hier: DIAlog 7 – das Staffelfinale

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