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Doris Nachtigal ist Verhaltens- und Motivations-Trainerin. Sie bietet zum Beispiel Tagesseminare für Diabetiker an … und hat selbst Typ-1-Diabetes. Hier erzählt sie die Geschichte von ihrem Treffen mit dem 14-jährigen Tim.
Ich will, dass Du weder von mir noch von sonst jemandem abhängig bist. Ich will, dass Du Dich selbst befreist …
Es fasziniert mich, wie die Schüler zu Lehrern werden. Gegenseitig. Dann habe ich mein Ziel erreicht; ich habe nichts mehr zu tun. Nach einer kurzen Einleitung und mit einem Arbeitsbuch überlasse ich bald den Workshop-Teilnehmern die Führung. Sie arbeiten an sich selbst, finden ihren Weg und gehen mit neuen Schuhen aus dem Seminar. Sie können sie gleich anziehen und ein neues Leben beginnen. Ein Tag für den Rest ihres Lebens. Es ist egal, ob Typ-1- oder Typ-2-Diabetiker, ob Witwer oder Krebspatientin oder einfach mit der Arbeit Unzufriedene.
Immer wieder liebe ich es, die Geschichte von Tim zu erzählen: einem Meister, der die Übung macht. Und nicht mehr durch Übung zum Meister werden muss:
Ich sitze beim Kaffee, über eine Zeitung gebeugt, als Tim den Saal betritt. Unsere Blicke treffen sich. Seine 14-jährigen braunen Augen strahlen Unsicherheit aus und Stärke. “Ein Jedi-Ritter. In Ausbildung”, denke ich. Er setzt sich zu mir an den schweren Eichenholztisch und bestellt eine Cola Zero.
“Also Tim, worum geht’s?” Nicht, dass ich es nicht wüsste. Doch weiß er es, der Jedi-Ritter?
“Ich war seit einem Jahr nicht mehr in der Schule. Mir geht es nicht gut. Und wenn der Privatlehrer zu uns nach Hause kommt, steigt mein Blutzucker ins Unermessliche. Die Ketoazidose nimmt ihren Lauf, stürzt sich auf meinen Körper und zwingt mich in die Knie … vor die Kloschüssel. Tag für Tag.”
“Wen müssen wir beseitigen? Den Lehrer oder den Diabetes?”
“Den Lehrer.” Gut, sehr gut. Wir sind beide Typ-1-Diabetiker und verstehen einander. “Was noch?”
“Ich möchte Kickboxen.”
“Warum tust du es nicht?”
“Es gibt nur Trainings für 18-Jährige. Ich bekomme auf den Deckel.” Wir gehen nach draußen. Setzen uns an den Bach.
“Ja, vielleicht. 2, 3 Jahre. Dann gibst du den 18-Jährigen auf den Deckel. Und du bist dann erst 16.” Er schweigt. Denkt nach. Er hebt seinen Blick: “Ich weiß nicht recht. Ich bin erst 14 …”
“Was weißt du nicht?”
Wir nehmen unsere Smartphones, halten sie gegen die Sonne und hoffen, so die Sonnenfinsternis zu sehen. Sie findet nicht statt. Nicht für uns, nicht, wo wir sind.
Ich bohre weiter: “Was ist das Geschenk in der sogenannten Krankheit?”
“Mein Körper sagt mir, wenn etwas nicht stimmt. Ich habe die Verantwortung dafür, für mich, für meinen Körper …”
“Und?” Da muss noch was kommen, denke ich.
“Und ich weiß, wie ich mich entspannen kann. Ich habe dafür einen Altar in meinem Zimmer errichtet.” Meine Gedanken überschlagen sich: 14-jährig, Altar im Zimmer? Meditiert? Übernimmt Verantwortung für seinen Körper? Ein Jedi-Ritter!
Wir wagen einen weiteren Blick in die Sonne. Mich friert. “Die Verantwortung für sich und seinen Körper tragen”, denke ich und kriege Gänsehaut.
“Tim, was machst du als Nächstes?”
“Ich werde der Meister meiner Gedanken.” Ich schaue ihn an, sehe seine spitzen Ohren. Yoda himself! Wir verabschieden uns.
Zu Hause setze ich mich aufs Sofa, in den Händen halte ich eine Tasse Kaffee. “Er weiß, was er zu tun hat. Er weiß, wer er ist.” Ich sehe ihn vor meinem geistigen Auge, mit den spitzen Ohren, die seitlich unter den Haaren hervorlugen. Bewunderung, Achtung macht sich in mir breit. Auch Stolz.
Das Wochenende vergeht. Es ist Montag, sein erster Schultag nach einem Jahr Abwesenheit. Meine Finger gleiten übers Handy: “Hi Tim, ging’s gut in der Schule?”
“Ja, alles gut. Danke.”
“Habe nichts anderes erwartet von einem Meister.”
“Der Meister macht die Übung.”
Haut mich aus den Socken. Ich antworte: “Genau so.” (Daumenhoch-Zeichen)
“Von wegen Meister: Ich gehe am Mittwoch ins Schnuppertraining im Kickboxen. Mit den 18-Jährigen.”
Ich verlasse das Büro, gehe nach Hause, rasiere mir den Kopf zu einer Vollglatze, werfe mir eine orange Mönchskutte über und folge ihm; ehrfürchtig.
von Doris Nachtigal
Kirchheim-Verlag, Kaiserstraße 41, 55116 Mainz,
Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90,
E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2015; 64 (10) Seite 40-41
5 Minuten
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