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Wenn ein Kind Diabetes bekommt, ist nicht nur das Kind selbst dadurch belastet. Auch die Eltern müssen sich an die neue Herausforderung herantasten und lernen, wie sie gut damit umgehen können. Der Psychologe Dr. Berthold Maier vom Diabetes Zentrum Mergentheim gibt Informationen und Tipps.
Diabetes-Journal (DJ): Was bedeutet Resilienz?
Dr. Berthold Maier: Es gibt viele Definitionen von Resilienz. Grundsätzlich ist Resilienz die Fähigkeit, bei hohen psychischen Belastungen auf eigene Stärken und Talente zurückzugreifen. Resiliente Menschen finden Lösungen für Probleme, ohne von den Belastungen überwältigt zu werden. Sie wachsen an den Herausforderungen und entwickeln Zuversicht, auch künftige schwierige Situationen meistern zu können.
Resilienz ist keine genetische Eigenschaft, die man hat oder nicht, sondern etwas, das man sich aneignen kann. Das hängt maßgeblich von den gelernten Erfahrungen ab. An Resilienz muss man immer wieder aktiv arbeiten. Dazu gehört, sich immer wieder selbst zu reflektieren, und der Mut, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Es gibt Zeiten im Leben, in denen man mehr, und solche, in denen man weniger resilient ist.
Der Diplom-Psychologe und Psychotherapeut Dr. Berthold Maier berät seit Jahrzehnten Menschen mit Diabetes und hilft ihnen und ihren Familien in ihrem Management. Er ist seit vielen Jahren am Diabetes Zentrum Bad Mergentheim tätig und engagiert sich in verschiedenen Organisisationen und Verbänden für die Belange von Menschen mit Diabetes.
DJ: Weshalb ist Resilienz von Eltern von Kindern mit Diabetes ein wichtiges Thema?
Maier: Der Diabetes hält für Eltern besondere Herausforderungen bereit. Ein Großteil der Eltern empfindet die Herausforderungen des Diabetes als psychisch belastend oder zumindest beanspruchend. Wenn Eltern ständig “unter Strom” stehen, kostet sie das viel Energie. Das kann sich auch auf die Bindung zwischen Eltern und Kind auswirken. Häufig registrieren Kinder mit Diabetes die Anspannung der Eltern. Manche Kinder entwickeln dann das Gefühl, wegen ihres Diabetes schuld an der bedrückten Stimmung der Eltern zu sein.
DJ: Welche besonderen Herausforderungen kosten Eltern viel Kraft?
Maier: Eltern beschreiben häufig die Dauersorge, “hoffentlich alles richtig zu machen”. Sie äußern die Sorge vor Unterzuckerungen, haben jedoch auch Angst vor Folgeerkrankungen. Viele Eltern räumen ein, dass sie diese Angst jedes Mal dann erfasst, wenn sie auf dem Display einen erhöhten Wert erblicken. Die meisten Eltern berichten auch von Anspannung, wenn sie das Gefühl haben, den Glukoseverlauf des Kindes nicht steuern zu können. Besonders hoch ist das Stresserleben, wenn das Kind im Kindergarten oder in der Schule ist und die Eltern bei erhöhten oder tiefen Werten nicht unmittelbar eingreifen können. Die Belastung kann besonders hoch sein, wenn Eltern die Sensorwerte ihres Kindes an ihrem Smartphone live mitverfolgen können.
Eine wichtige Voraussetzung für einen resilienten Umgang von Eltern ist zunächst eine umfassende und einfühlsame Schulung und Begleitung durch das Diabetes-Team. Sie sollte den Alltag und die Bedürfnisse des Kindes und ihrer Eltern berücksichtigen. Ein gutes Diabeteswissen und viel Erfahrung vermitteln das Gefühl, den Diabetes meistern und kontrollieren zu können. Mit dieser Zuversicht schaffen es Eltern leichter, einen erhöhten Wert einmal auszuhalten, ohne ihn impulsiv zu korrigieren. Sicherheit ermöglicht Gelassenheit und hilft, Schwankungen der Werte als etwas Normales zu akzeptieren.
DJ: Was weiß man über die Lebensqualität von Eltern von Kindern mit Diabetes?
Maier: Eltern von Kindern mit Diabetes berichten insgesamt von einer geringeren Lebensqualität im Vergleich zu Eltern von Kindern ohne Diabetes. Schaut man genauer hin, ist die elterliche Belastung in den ersten beiden Jahren nach der Diagnosestellung besonders hoch. Das trifft besonders für Eltern von Klein- und Vorschulkindern zu. Sie klagen häufig über Erschöpfung und dauerhaften Schlafmangel, weil sie auch nachts die Glukosewerte überwachen und bei Alarmen reagieren müssen.
Vor allem bei Müttern zeigen sich im Mittel deutliche Einschränkungen der Lebensqualität. In einer deutschen Befragung von mehr als 1100 Eltern gaben fast zwei Drittel der Mütter an, infolge des Diabetes psychisch hoch belastet zu sein – deutlich mehr als die Väter. Bedrückend finde ich, dass fast die Hälfte der Mütter ihre Berufstätigkeit reduzierte oder sie ganz aufgab – im Gegensatz zu den Vätern. Das hat in den meisten Familien nicht nur finanzielle Folgen. Es bedeutet besonders für die Mütter einen erheblichen Einschnitt in ihrer Lebensplanung – bis hin zu geringeren Renten-Ansprüchen.
Viele Eltern beklagen auch, dass von außen kaum wahrgenommen wird, wie viel Kraft sie die Sorge um ihr Kind kostet – auch von Behörden oder Krankenkassen. Wenn zum Beispiel der Antrag auf Schwerbehinderung oder auf die Gewährung eines Pflegegrads abgelehnt wird, reagieren viele Eltern mit Verbitterung. Worauf kommt es also an? In der Begleitung durch das Diabetes-Team ist es daher wichtig, immer wieder die Belastung der Eltern zu erfragen und nach Erleichterungen zu suchen.
Denn Eltern brauchen ihre Kräfte ja auch noch für die vielen anderen Aufgaben, die ein Familienleben mit sich bringt – etwa die Sorge um die Geschwisterkinder. Diese müssen ja auch mit dem Diabetes ihres Bruders oder ihrer Schwester zurechtkommen und brauchen ebenso die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern. Ältere Untersuchungen zeigen, dass besonders die Umstände in der ersten Zeit nach der Diagnose das Wohlbefinden der Eltern lange Zeit prägen. Eine gute psychosoziale Unterstützung am Anfang ist daher entscheidend für die spätere Lebensqualität der Eltern.
DJ: Wie schaffen es Eltern, dass der Diabetes ein nicht so großes Thema wird?
Maier: Die Kunst besteht darin, die richtige Balance zwischen dem Diabetes und den Alltagsthemen in der Familie zu finden. Beispiel Abendessen: Wonach fragt man zuerst: nach den Glukosewerten oder, wie es in der Schule war? Das ist eine Kleinigkeit, die einen großen Unterschied machen kann. Eine gute Begleitung ermutigt die Eltern, zunächst das Kind zu sehen – und dann erst die Glukosewerte. Eltern sollten die Erfahrung machen, dass es sich lohnt, die normalen alltäglichen Themen ihres Kindes in Gesprächen aufzugreifen und diese genauso ernst zu nehmen wie die Beschäftigung mit dem Diabetes.
DJ: Sind Diabetes-Schulungen auch darauf ausgelegt, Eltern Resilienz beizubringen?
Maier: Jein. Eine gute Schulung und einfühlsame Beratung bewirken letztlich eine Verbesserung der Resilienz. Durch Lernen, aber mehr noch durch praktisches Üben lernen Eltern, die Therapie umzusetzen und die Erfahrung zu machen, den Diabetes bei ihrem Kind steuern zu können. Das ist ein wichtiger Wirkfaktor von Resilienz, der auch als “Selbstwirksamkeit” bezeichnet wird. Bisher gibt es jedoch im deutschsprachigen Raum noch kein spezifisches Schulungsprogramm für Eltern mit dem Ziel, die Resilienz zu verbessern. Es würde sich lohnen, genau daran zu arbeiten!
DJ: Wenn Eltern von Kindern mit Diabetes eine gute Lebensqualität beschreiben, welche Faktoren machen den Unterschied?
Maier: In einer australischen Studie konnten drei Faktoren bei Müttern gefunden werden, die trotz des Diabetes ihres Kindes eine gute Lebensqualität beschrieben. Erstens: Sie hatten das Gefühl von Selbstwirksamkeit, also das Erleben, den Diabetes beim Kind steuern zu können. Diese Mütter waren zuversichtlich, auch künftige Probleme mit dem Diabetes zu meistern. Der zweite Faktor: Mütter mit einer guten Lebensqualität waren sozial besser vernetzt und empfanden diese Kontakte als hilfreich für den Umgang mit dem Diabetes. Der dritte Faktor: Mütter mit einer guten Lebensqualität beschrieben eine hohe Zufriedenheit in ihrer Partnerschaft.
DJ: An den Kontakten und der Beziehung der Eltern untereinander kann man arbeiten. Aber was ist, wenn der Diabetes keinen guten Anfang genommen hat?
Maier: Es gibt keinen Zeitpunkt, an dem es zu spät für Eltern wäre, anfängliche negative Erfahrungen durch positive zu ersetzen. Auch wenn Eltern eine lange Durststrecke hinter sich haben, können Begegnungen mit dem Diabetes-Team oder anderen Eltern positive Veränderungen bewirken. Je länger Belastungen andauern, desto stärker prägen sie Familien und die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Aber es ist nie zu spät, auch selbst Einfluss darauf zu nehmen, diese Erfahrungen zu überschreiben.
DJ: Welche Bewältigungsstrategien für schwierige Situationen gibt es für Familien?
Maier: Da es meist die Mütter sind, die in Familien am stärksten belastet sind, gilt es, zunächst einmal sie zu entlasten. Dafür können Familien zum Beispiel tägliche Aufgaben umverteilen – am besten immer so, dass sich alle dabei wohlfühlen.
Wichtig ist auch, sich ein gutes Behandlungs-Team zu suchen – auch wenn es weiter weg ist. Familien sollten nicht nur einen Crashkurs erhalten, sondern, wenn nötig, auch psychologisch begleitet werden. Das Team sollte Anleitung zur Selbsthilfe geben und ermutigen, die Dinge selbst auszuprobieren. Gute Teams kalkulieren auch Rückschläge ein. Natürlich haben wir bundesweit sehr unterschiedliche Situationen. In den Ballungsräumen finden sich leichter Praxen und Einrichtungen, die sich mit dem Diabetes bei Kindern auskennen. In anderen Regionen müssen Eltern jedoch teilweise über 100 Kilometer fahren, um einen Termin zu bekommen.
Wenn Eltern wissen, dass sie ihre Teams bei Fragen jederzeit anrufen können, macht sie das auch resilient. Wenn sie dagegen drei Monate bis zum nächsten Termin warten müssen, um ihre Fragen loszuwerden, führt das natürlich zu Stress. Daher brauchen Eltern unbedingt einen Stützpunkt und die Sicherheit, sich jederzeit dorthin wenden zu dürfen.
Eine weitere Empfehlung ist, in Stresssituationen zu versuchen, den Blickwinkel auf die Herausforderung zu ändern. Eltern können zum Beispiel versuchen, sich in ihr Kind hineinzuversetzen, und sich einmal fragen, wie es sich zum Beispiel für die 15-jährige Tochter anfühlt, wenn die Eltern ständig per WhatsApp ans Messen und Insulinabgeben erinnern. Man kann lernen, nicht gleich dem ersten Impuls zu folgen, sondern innezuhalten und sich zu fragen, was dem Kind gerade wirklich helfen würde.
DJ: Wie schafft man es, an Herausforderungen zu wachsen?
Maier: Vieles müssen Eltern einfach immer wieder üben. Erfahrungen und Erfolgserlebnisse stärken die Zuversicht, schwierige Situationen meistern zu können. Dafür muss man Dinge ausprobieren, statt sie von vornherein als unmöglich abzulehnen. Am besten setzt man sich kleine Ziele. Statt beispielsweise auszuschließen, dass das Kind auch mal allein bleiben kann, können Eltern es erst einmal für eine Stunde probieren und dann sukzessive steigern.
Es ist wichtig, positive Erfahrungen und Erfolgserlebnisse zu sammeln und sich immer wieder zu vergegenwärtigen. Entlastend kann es auch sein, wenn sich Eltern zwischendurch immer wieder ihre Stärken vor Augen führen und sich fragen, wie sie andere Krisen im Leben erfolgreich gemeistert haben. Sie können überlegen, was früher bei Herausforderungen geholfen hat und inwiefern sie diese Stärken jetzt für den Diabetes des Kindes nutzen können.
Zu Resilienz gehört außerdem immer auch das Feedback von außen. Eltern können sich dafür andere Personen suchen, die ihnen ab und zu ein konstruktives, wohlwollendes Feedback geben, um sich diese Stärken bewusst zu machen. Es kann auch hilfreich sein, sich Vorbilder zu suchen.
Diese Konzepte stammen aus der “Positiven Psychologie”. Sie befasst sich damit, was Menschen zufrieden macht und innerlich wachsen lässt. Martin Seligman, ein Vertreter dieses Ansatzes, betont zum Beispiel, dass wenige gute Erfahrungen viele schlechte ausgleichen können. Wenn Eltern wieder einmal das Gefühl haben, dass alles schiefläuft und nichts klappt: Wäre es dann nicht eine Idee, sich auf die Ausnahmen und die kleinen Erfolge zu konzentrieren?
DJ: Welche Rolle spielen Entspannung und Selbstfürsorge für Eltern von Kindern mit Diabetes?
Maier: Das ist ein ganz wichtiges Thema. Viele Eltern sind mehrfach belastet. Sie haben Jobs, es gibt Geschwisterkinder, pflegebedürftige Eltern und sonstige Themen. Die amerikanische Diabetes-Kinderpsychologin Marisa Hilliard ermutigt Eltern immer wieder, sich zwischendurch auch um sich selbst zu kümmern und Kraft zu schöpfen. Es ist sogar Voraussetzung dafür, dass sie sich überhaupt gut um den Diabetes ihres Kindes kümmern.
Anders ausgedrückt: Einem Kind mit Diabetes geht es dann gut, wenn es den Eltern gut geht. Eltern sollten sich nicht immer für alles zuständig fühlen, sondern auch den Mut aufbringen, um Unterstützung zu bitten oder unnötige Aufgaben abzugeben. Es hat nichts mit Egoismus zu tun, wenn Eltern immer wieder darüber nachdenken, welche Bedürfnisse sie selbst gerade haben. Martin Seligman rät, “einen Knopf darum zu machen” und Aktivitäten, die Kraft geben, gleich in den Terminkalender einzutragen.
Ich habe kürzlich mit einem Vater gesprochen, der wegen der Diabetes-Diagnose seines Sohns den Radsport aufgegeben hat. Er kam ins Nachdenken und räumte ein, dass er sich seither angespannt und unzufrieden fühlte. Nun hat er wieder angefangen, jeden Tag eine Strecke zu radeln, und ist wesentlich ausgeglichener. Dabei bemerkte er, wie sich die Beziehung zu seinem Kind verbesserte. Bei Glukoseanstiegen konnte er gelassener reagieren, was sich sogar positiv auf die Werte auswirkte.
Bildlich gesprochen, kann man Resilienz bei Eltern mit einer Wippe vergleichen. Auf der einen Seite drücken die Belastungen durch den Diabetes des Kindes. Auf der anderen Seite überwiegen jedoch Dinge, die den Eltern guttun und ihnen Kraft und Zuversicht geben. Damit lassen sich auch künftige Herausforderungen, die der Diabetes des Kindes bereithält, besser bewältigen.
Interview: Verena Schweitzer
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (8) Seite 30-33
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