5 Dinge, die ich gerne bei der Diagnose gewusst hätte

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© Juanmonino - iStockphoto
Community-Beitrag
5 Dinge, die ich gerne bei der Diagnose gewusst hätte

Das „Social Life“

Als ich die Diagnose Diabetes bekam, habe ich mich nicht unbedingt gefragt, was sich für mich ändert. Das lag einfach daran, dass mein Bruder ebenfalls Typ-1-Diabetes hat und ich recht gut wusste, was auf mich zukommt. Worüber ich mir aber auch schon als Kind – und besonders später in der Pubertät, Gedanken gemacht habe, ist, wie sich der Diabetes auf meine Freundschaften und mein soziales Umfeld auswirkt.

Werde ich jetzt von den Anderen anders behandelt? Vielleicht sogar ausgeschlossen oder ausgelacht? In der Grundschule war es dann tatsächlich so, dass ich hier und da die berühmte „Extrawurst“ bekam und das hat natürlich nicht jedem gefallen. Wirklich geärgert wurde ich deswegen aber nie. Sobald ich auf die weiterführende Schule kam und es selbst in der Hand hatte, habe ich den Diabetes kaum besonders hervorgehoben.

Ich habe einfach gelernt, dass ich selbst das Bild schaffe, wie andere mich und meinen Diabetes sehen. Je „normaler“ und entspannter ich war, desto mehr übertrug ich dies auch auf die anderen im Umgang mit dem Diabetes. Sie kannten mich nur mit dieser Krankheit, haben mich aber nie als krank gesehen, sondern immer ganz normal behandelt.

Ich habe den Diabetes gerne erklärt, wenn mir Fragen gestellt wurden, habe ihn ansonsten aber nicht groß an die Glocke gehängt. Wenn ich meinen Blutzucker messen oder mich spritzen musste, habe ich es einfach getan. Da habe ich kaum drüber nachgedacht, eben wie das Brilleputzen. Hier und da erntete man dann vielleicht mal einen komischen Blick oder auch einen Kommentar, aber mit einer lockeren Erklärung hatte sich die Sache meistens ein für alle Mal erledigt. Mir war es wichtig zu zeigen, dass ich alles machen und überall dabei sein konnte, so wie jeder andere auch. Und so spielte der Diabetes für meine Freunde nie eine große Rolle.

Ich war zwar Lisa, mit Diabetes, aber genauso war ich auch Lisa mit braunen Haaren oder einer Brille. Alles kein großes Ding. So, wie du mit deinem Diabetes umgehst, so färbt es sich auch auf deine Umwelt ab.

Diabetes schlägt auch auf die Gefühle

Lisa zieht sich die Mütze ins Gesicht
Quelle: Lisa Schütte

Lange vorbei sind die Zeiten, in denen einem nach der Diabetes-Diagnose gesagt wurde: „Du kannst dies und das nicht tun. Damit musst du aufhören und diesen einen Traum, den du hast, den kannst du ab sofort ganz vergessen.“ Mittlerweile gibt es kaum noch Grenzen und große Einschränkungen im Leben mit Diabetes. Und das wird in der Regel auch so erklärt. Gerade frisch nach der Diagnose brauchen die Menschen genau das: positive Worte, Mut und Hoffnung. Man muss zwar verstehen, dass sich das Leben erstmal grundsätzlich ändern wird, man aber eigentlich alles machen und schaffen kann so wie zuvor.

Ein bisschen realitätsnäher hätte meine Vorbereitung auf das Leben mit Diabetes aber doch sein können. So wurde mir zum Beispiel nicht gesagt, dass der Diabetes nicht nur körperliche Auswirkungen hat. Dass es auch mal Zeiten geben wird, in denen ich frustriert und erschöpft sein werde. Dass es Momente geben wird, in denen ich den ganzen Diabetes-Krempel wegpacken und am liebsten nie wieder hervorholen möchte. Dass sowohl zu hohe als auch zu niedrige Blutzuckerwerte und starke Schwankungen enorm auf die Psyche schlagen können. All das wurde bei der ganzen Bestärkung irgendwie mehr oder weniger unterschlagen.

Als ich nach den ersten Jahren irgendwann das erste Mal eine schlechte Phase hatte und vom Diabetes genervt und frustriert war, dachte ich sofort, ich wäre ein Versager. Niemand hatte mir gesagt, dass diese Gefühle normal sind und dass alle solche Momente kennen. Ich dachte, jetzt ist es so weit. Ich gebe auf und komme nie wieder aus diesem Loch heraus. Erst, als ich mich mit anderen Menschen mit Diabetes austauschte, merkte ich, dass es den anderen genauso ging und dass man deswegen kein schwacher Mensch ist. Dass solche Momente zwar kommen, aber sie gehen eben auch wieder.

Der „Hypo-Fressflash“

Fressflashs während Unterzuckerungen sind unberechenbar / Traubenzucker und Süßigkeiten
Quelle: Lisa Schütte

Wie man eine Hypoglykämie richtig behandelt, wird einem schnell erklärt. Ist es doch einer der wichtigsten Aspekte im Leben mit Diabetes. Ab wann ist man in einer Unterzuckerung und wie behandele ich sie richtig? Das kann wahrscheinlich jeder von uns im Schlaf herunterbeten. Doch vom sogenannten „Hypo-Fressflash“ wusste ich lange Zeit nichts. Bis ich mich eines Nachts unterzuckert auf dem Küchenboden wiederfand und alles in mich hineinstopfte, was Kühlschrank, Süßigkeitenbox und Vorratsschrank zu bieten hatten.

Der Schweiß lief nur so in Strömen, ich zitterte und konnte keinen klaren Gedanken fassen außer: Ich.brauche.Essen. Und ich konnte erst damit aufhören, als die Symptome der Unterzuckerung sich abschwächten. Erschrocken und mit Bauchschmerzen sah ich die Mengen an Essen, die ich komplett willkürlich heruntergeschlungen hatte. „Jetzt bist du verrückt geworden!“, dachte ich. „Wie kann man nur so sehr die Kontrolle verlieren? Was stimmt denn nicht mit mir?“ Sofort dachte ich an Dinge wie eine Angststörung oder eine Panikattacke.

Ob ich vielleicht einfach nicht gemacht war für so ein Leben mit Diabetes und nun Hilfe benötigen würde? Würde das jetzt bei jeder kleinen Unterzuckerung passieren? Was mache ich, wenn mir das unterwegs oder in der Schule passiert? Meine Gedanken fuhren Karussell. Das war aber total unnötig, wie ich schnell herausfand und dass es sogar eine Bezeichnung für diesen Zustand gab: der berühmte „Hypo-Fressflash“. Der von Zeit zu Zeit einfach mal vorkommt. Das Gehirn ist mit Glukose unterversorgt und schaltet in den reinen Not- und Überlebensmodus. Alles, was du dann noch denken kannst, ist: Ich brauche Essen, um zu überleben.

Oft isst man dann über den Punkt, an dem die zugeführte Energie längst ausreichen würde, hinaus. Aber, ja, that’s life – zumindest, wenn man Diabetes hat. Das passiert jedem mal. Ein bisschen kann man sich diesen „Hypo-Fressflash“ aber sogar abtrainieren, damit er nicht ganz so häufig vorkommt. Trotzdem wird es auch hier und da einfach manchmal „Hypos“ geben, bei denen ihr einfach nicht aufhören könnt zu essen. Ihr seid allerdings nicht verrückt deswegen.

Der Wut-Bolus

Der Wut-Bolus bringt den Blutzucker nicht schneller runter / blauer Insulinpen
Quelle: Lisa Schütte

Der Gegenspieler – oder auch das Resultat eines heftigen „Hypo-Fressflash“ ist manchmal der „Wut-Bolus“. Wenn die Werte einfach nicht herunterkommen wollen, egal was man versucht oder macht. Man fühlt sich irgendwie hilflos und ratlos und genau das kann manchmal wirklich zu Frustration und Wut werden. Vielleicht hattet ihr auch gerade einen heftigen „Hypo-Fressflash“ und seid seitdem einfach viel zu hoch. Manchmal fühlt es sich dann einfach so an, als gäbe es keinen anderen Ausweg. Es muss Insulin her und zwar schnell – oder eben viel. Der vernünftige Verstand schaltet sich dann einfach aus und man spritzt einen sogenannten „Wut-Bolus“, der in der Regel viel zu hoch ist oder zu vorschnell passiert. Viel hilft in diesem Falle eben nicht viel.

Der „Wut-Bolus“ sorgt nicht dafür, dass der Wert schneller fällt, denn die Menge hat mit der Wirkungskurve des Insulins nichts zu tun. Das Einzige, was er am Ende bewirkt, ist, dass der Blutzucker zu tief fällt. Was wiederum den nächsten „Hypo-Fressflash“ provozieren kann. Ein Teufelskreis. Auch hier dachte ich, ich sei die Einzige, die manchmal so genervt ist, dass sie alle Regeln und Gesetze vergisst und viel zu viel Insulin spritzt, weil nichts anderes mehr zu helfen scheint. Nein, auch dieses Phänomen kennen viele – und alle wissen es eigentlich besser! So oder so: Versucht, einen „Wut-Bolus“ zu vermeiden, denn in der Regel geht das niemals gut aus und endet nur in einer kompletten Achterbahn!

#wirsindviele

Als mir all die oben genannten Dinge zum ersten Mal passierten, dachte ich zunächst, dass mit mir etwas nicht stimmt. Dass ich mit diesem seltsamen Verhalten alleine sei. Erst durch die Diabetes-Community und andere Menschen mit Diabetes realisierte ich, dass ich vollkommen normal bin und dass es den meisten Menschen mit Diabetes genauso geht wie mir. Das ist unheimlich beruhigend! Wie wichtig der Austausch mit anderen Menschen mit Diabetes ist, das lernte ich erst mit der Zeit. Und das es da draußen eine ganze Community gibt, musste ich erst auf eigene Faust herausfinden. Um so mehr weiß ich all das heute zu schätzen. Die Community gibt mir nicht nur das Gefühl von Verständnis, Empathie und Zugehörigkeiten, sie gibt mir auch meine Selbstsicherheit zurück.

Natürlich bedeutet so eine Community nicht, dass ich mit allen Menschen, die ebenfalls Diabetes haben, Freundschaft schließen muss. Es ist wie überall im Leben: Mit manchen versteht man sich gut – mit anderen vielleicht weniger. Der Diabetes kann dabei ein gemeinsamer Nenner sein, muss er aber nicht. Dennoch ist es unfassbar toll, wenn sich aus so einer Community und diesen Umständen echte Freundschaften entwickeln. Ich möchte diese Freundschaften und das Gefühl von „ich bin nicht alleine, denn #wirsindviele“ nie wieder missen!


In der Podcast-Episode 23 reden auch Ramona und Katharina über Dinge, die sie gerne bei der Diagnose gewusst hätten: #BSLounge – der Diabetes Podcast – Folge 23

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