Ängste gehören zum Leben

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Ängste gehören zum Leben

Ängste sichern uns das Überleben, schärfen die Sinne vor Gefahren und sind ein wichtiger Motor, um mit Herausforderungen des Lebens zurechtzukommen. Im Übermaß können Ängste aber auch außer Kontrolle geraten, lähmen und krank machen. Wie also richtig umgehen mit Ängsten?

Ich habe Angst, Sie haben Angst, wir alle haben Angst. Und das ist gut so: Denn Angst ist ein Ur-Instinkt, ein wichtiger Schutzmechanismus, der uns Menschen das Überleben sichert. Schon unsere Vorfahren reagierten auf Bedrohungen mit Angst, waren dadurch vorsichtiger und erhöhten ihre Aufmerksamkeit. Das half ihnen, rasch Gefahren zu erkennen und schnell darauf zu reagieren – etwa wenn sie ein wildes Tier bedrohte. Rasch mussten sie entscheiden, ob sie nach dem Motto “fight or flight” lieber kämpfen oder fliehen sollten.

Angstsymptome: eigentlich hilfreich

Unser Körper unterstützt uns in solchen Situationen durch den raschen Ausstoß von Stresshormonen; diese bewirken im Körper nützliche Prozesse. Durch Erweiterung der Pupillen und einer höheren Empfindlichkeit von Seh- und Hörnerven wird die Aufmerksamkeit verbessert. Durch das Erhöhen der Herzfrequenz, des Blutdrucks, der Muskelanspannung und durch eine flachere und schnellere Atmung steigt die Bereitschaft für eine schnelle Reaktion. Gleichzeitig wird mehr Energie in den Muskeln bereitgestellt, um entweder kampfbereit zu sein oder schnell flüchten zu können.

Um dies zu erreichen, wird die Blasen-, Darm- und Magentätigkeit während des Zustands der Angst gehemmt; Moleküle im Schweiß lassen andere Menschen die Angst riechen und lösen ebenfalls unterbewusst Alarmbereitschaft aus. Der Körper, wie der Geist, sind in der Angstsituation sehr konzentriert und leistungsbereit. Ist die Gefahr überstanden, klingen die körperlichen Stress-Anzeichen schnell ab, der Körper entspannt sich.

Warnung vor Hypoglykämien und möglichen Folgeerkrankungen

Die positive Seite der Angst lautet daher: Die Emotion “Angst” hilft uns, Gefahren zu erkennen, rasch Schutzmaßnahmen zu initiieren, aber auch die eigenen Kräfte zu mobilisieren, um Herausforderungen zu bewältigen. Das passiert etwa in einer Unterzuckerung, in der Menschen mit Diabetes durch die Stresshormone vor der drohenden Gefahr einer schweren Hypoglykämie alarmiert werden – und in die Lage versetzt werden, durch das Verzehren von Traubenzucker, Gummibärchen oder einem Glas Orangensaft die Gefahr zu beseitigen.

Auch das mulmige Gefühl vor dem Besuch beim Augenarztoder bei den Kontrolluntersuchungen beim Hausarzt oder Diabetologen hat für viele Menschen mit Diabetes den positiven Effekt, sich erneut die potentiellen Risiken von Folgeerkrankungen bewusst zu machen und Pläne für eine möglichst gute Umsetzung der Diabetestherapie zu schmieden.

Für die einen ein Kick, für andere der reinste Horror …

Angst ist ein alltägliches Gefühl, die Übergänge zur Angststörung sind fließend. Manche Menschen schauen sich liebend gern einen Horrorfilm an, klettern ungesichert als Freeclimber auf Berge oder stürzen sich mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug. Was für die einen ein Adrenalinkick ist, den sie suchen, um das Gefühl intensiv zu erleben und eine Herausforderung zu meistern, ist für andere reinster Horror und stark ängstigend.

Jeder Mensch hat ein unterschiedliches Niveau, ab dem er Angst spürt. Und es kann durchaus sein, dass dieselbe Person in einigen Bereichen des Lebens relativ angstfrei und selbstbewusst ist, in anderen Bereichen jedoch sehr ängstlich. Der Bergsteiger Alexander Huber, der ohne Seilsicherung die schwierigsten Felswände der Welt bezwingt, schreibt in seinem lesenswerten Buch “Die Angst, dein bester Freund” (Verlag Ecowin), wie er im Alltag immer ängstlicher wurde – und es erst mit Hilfe eines Therapeuten schaffte, mit seinen Ängsten klarzukommen.

Während der eine gelassen ins Flugzeug steigt und den Flug genießt, sind andere heilfroh, wenn sie den Flug überstanden haben, oder vermeiden die Reise mit dem Flugzeug ganz.

Ähnlich ist es bei Anforderungen des Diabetes: Während für einige Menschen das Spritzen eine tägliche Überwindung darstellt, ist für andere das Spritzen eine Routine, der sie nicht mehr Beachtung als unbedingt notwendig schenken. Und während für einige Menschen Unterzuckerungen kaum ein Problem darstellen, dreht sich für andere das ganze Leben um die Vermeidung von Hypoglykämien.

Genauso ist es mit der kontinuierlichen Glukosemessung: Was für den einen ein kurzer Check ist, um zu sehen, wie hoch die Glukose ist, was der Trend sagt und wie viel Insulin zu spritzen ist, schauen andere ständig auf das Lesegerät, um absolut sicher zu sein, den Glukoseverlauf kontrollieren zu können.

Wenn die Angst übermächtig wird

Und natürlich gibt es beim Thema “Folgeerkrankungen” die ganze Bandbreite von Angstniveaus, die von “überhaupt keine Angst, fahrlässiger Umgang mit dem Risiko von Folgeerkrankungen” bis hin zu “Panik vor Folgeerkrankungen, Vermeidung von vielen Lebensaktivitäten, große Einschränkung der Lebensqualität” reicht.

Die meisten Menschen mit Diabetes sagen, im Hintergrund sei die Angst stets vorhanden. In bestimmten Situationen tritt sie eine Zeitlang mehr in den Vordergrund – zum Beispiel bei Unterzuckerungen oder den Kontrolluntersuchungen … und nimmt dann von allein wieder ab. Sobald die Ängste permanent gegenwärtig sind und den Alltag beherrschen, ist das ein Anzeichen für eine ernsthafte Angststörung. Oft sind Ängste übertrieben oder irrational, denn sie treten auf, obwohl keine reale Gefahr besteht oder die Bedrohung viel kleiner ist als angenommen.

Richtig beklemmend können die Ängste werden, wie das Wort schon ausdrückt: “Angst” stammt vom indogermanischen Begriff “anghu” ab – was so viel bedeutet wie “eng” oder “beengend”. Ängste neigen dazu, sich auszubreiten und sich wie ein Schatten über das Leben zu legen. Oft entsteht ein Teufelskreis der Angst: Aus Angst vor der Angst schränken sich die Betroffenen in ihrem Leben ein, vermeiden bestimmte Situationen – und dadurch wird die Angst immer massiver.

Meist leidet auch der Diabetes darunter:So etwa, wenn wegen der Angst vor Unterzuckerungen bewusst erhöhte Blutzuckerwerte in Kauf genommen werden oder aus Angst vor den Reaktionen anderer der Diabetes verschwiegen wird, was die Selbstbehandlung sehr erschwert.

Verschiedene Formen von Ängsten

Angststörungen treten in verschiedenen Formen auf – zum Beispiel als spezifische Phobien wie der Angst vor dem Spritzen oder vor der Blutabnahme oder als generalisierte Ängste, bei denen mehrere Lebensbereiche betroffen sind. Verbreitet ist auch die Furcht davor, unter Menschen zu gehen oder auf Partys oder beruflichen Treffen zu bestehen, zu flirten oder eine Rede zu halten.

Ängste sind häufig verbunden mit körperlichen Beschwerden wie Herzrasen, Schwindelgefühlen, Übelkeit oder Atemnot. Panikattacken können also sehr belastend werden.

Zwangsstörungen sind eine Sonderform von Ängsten, bei denen Personen versuchen, diese mittels zwanghafter Gedanken oder Rituale in den Griff zu bekommen. Leute, die Kreuzworträtsel lösen oder am Smartphone “Quiz-Duell” spielen, wissen, dass es eine ganze Menge von Angststörungen gibt – mit seltsamen Namen und die auf Menschen, die nicht an ihnen leiden, merkwürdig wirken: Man kann sich krankhaft vor dem Waschen fürchten (Ablutophobie), vor Bakterien (Bacteriophobie), vor lauten Geräuschen (Ligyrophobie) oder Angst vor Krankheiten haben (Panthophobie) und, und , und.

Übrigens: Die Angst vor Diabetes hat auch einen Namen: Diabetophobie!

Die Angst vor Diabetes steht weit hinten – aber Begleit- oder Folgeerkrankungen des Diabetes stehen recht weit vorne (Krebs, Schlaganfall …).

Befragung: relativ wenig Angst vor Diabetes

Die Angst vor schweren Krankheiten gehört zu den stärksten Ängsten der Menschen – der Wunsch nach dem Erhalt der Gesundheit zählt laut Umfragen zu den stärksten Bedürfnissen. In einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts wurden in diesem Jahr 3 018 Menschen über 18 Jahre über ihre Ängste vor Krankheiten befragt.

Das Ergebnis zeigt, dass viele der Befragten relativ wenig Angst vor Diabetes haben – Diabetes tut eben nicht weh. Ganz anders sieht es jedoch mit potenziellen Folge- oder Begleiterkrankungen des Diabetes aus wie Krebs, Schlaganfall oder Demenz, vor denen eine relativ große Angst besteht (siehe Abbildung).

Die aktuellste Zahl zur Verbreitung der Angststörungen unter Erwachsenen in Deutschland stammt aus dem Jahr 2010. In diesem Jahr waren 15 Prozent der Deutschen wegen krankhafter Angst beim Arzt, also fast jeder sechste Erwachsene, insgesamt fast 12 Millionen Menschen. Damit gehören Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Frauen sind dabei doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Und bei Diabetes sind Angststörungen noch weiter verbreitet als in der Allgemeinbevölkerung. Schätzungsweise jeder fünfte Mensch mit Diabetes hat eine Angststörung. Trotzdem haben viele Betroffene Bedenken, über ihre Ängste zu sprechen. Denn noch immer haben viele die Befürchtung, dass der Satz “Ich habe Angst” wie eine persönliche Schwäche klingt.

Gegen Ängste: die besten Ergebnisse durch Psychotherapie

Bei ausgeprägten Ängsten entwickeln sich diese zumeist nicht einfach von selbst zurück. Neben den Möglichkeiten zur Selbsthilfe (siehe Seite 18) gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Behandlungsansätzen. Die besten Ergebnisse sind mit einer Psychotherapie zu erzielen, hier ist besonders die Verhaltenstherapie sehr erfolgreich. Zuweilen werden auch Medikamente zur Angstbehandlung eingesetzt.

Besonders wenn der Diabetes unter den Ängsten leidet oder die Erkrankung aufgrund von Sorgen und Befürchtungen die Lebensqualität stark einschränkt, ist eine Psychotherapie empfehlenswert. Denn die gute Nachricht lautet: Ängste sind gut behandelbar!

Schwerpunkt: Angst – das ambivalente Gefühl

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
Fachpsychologe Diabetes (DDG), Psychologischer Psychotherapeut,
Diabetes Zentrum Mergentheim, 97980 Bad Mergentheim
E-Mail: kulzer@diabetes-zentrum.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (10) Seite 12-17

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