Automatisiert Insulin abgeben

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Automatisiert Insulin abgeben

AID-Systeme – eine lange Entwicklung führt schrittweise zum Ziel. Menschen mit Diabetes, speziell mit Typ-1-Diabetes, wünschten sich schon vor Jahrzehnten ein System für die automatisierte Insulindosierung (AID-System), auch bezeichnet als Closed-Loop-System. Dies war abgeleitet aus der Therapie mit einer Insulinpumpe, die gewissermaßen ein offenes System darstellt, denn sie allein kann ohne weitere Informationen keine Insulindosen berechnen. Dieses offene System zu schließen, bedurfte der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) und eines Algorithmus, um anhand der gemessenen Glukosewerte die abzugebende Insulinmenge zu ermitteln.

Insulinpumpe allein noch aufwendig

Auch wenn Insulinpumpen den basalen Insulinbedarf, also den Bedarf des Körpers, ohne dass Nahrung aufgenommen wird, selbstständig auf Grundlage der programmierten Basalrate abgeben, war der Aufwand für die Anwendenden immer noch groß. Das mehrfache tägliche Messen des Blutzuckers, das Schätzen der Kohlenhydrat-Mengen sowie das nachfolgende Berechnen des Insulinbolus waren trotz der seit etwa dem Jahr 2003 verfügbaren Bolusrechner in den Insulinpumpen noch aufwendig. Hinzu kam, dass die programmierte Basalrate nur dem durchschnittlichen Insulinbedarf eines Tages entspricht und ein Durchschnittswert nicht immer zutreffend ist.

Messqualität der CGM-Systeme immer besser

Seit Mitte der 2010er-Jahre ist die Messqualität von CGM-Systemen so ausreichend, dass auf Grundlage dieser Glukosewerte therapeutische Entscheidungen ohne vergleichende Blutzuckermessung getroffen werden können. Damit war und ist die Hardware verfügbar, um ein Closed-Loop-System zu realisieren. Die Verbindung zwischen CGM und Insulinpumpe realisiert die dritte Komponente eines Closed-Loop- bzw. AID-Systems: der Algorithmus.

Erste kommerzielle Systeme seit 2016

Die Entwicklungen von Diabetes-Technologie müssen strengen Zulassungskriterien genügen – und die Produkte müssen auch ohne tiefere Kenntnisse auf ingenieurtechnischem und diabetologischem Gebiet im Alltag sicher anwendbar sein. Auch wenn seit Ende 2014 von manchen selbstgebaute AID-Systeme eingesetzt wurden, konnte so das erste kommerzielle AID-System erst 2016 in den Markt eingeführt werden, zuerst in den USA. In Deutschland wurde 2019 das erste Hybrid-AID-System zugelassen. Seitdem sind mehrere Systeme auf den Markt gekommen, von den Unternehmen Medtronic, Tandem, Ypsomed, Insulet und ViCentra. Medtronic bietet dabei Insulinpumpe und CGM-System an, die anderen Anbieter koppeln ihre Insulinpumpen mit CGM-Sensoren der Unternehmen Dexcom bzw. Abbott. Bei allen AID-Systemen muss aber das Insulin zu den Mahlzeiten weiterhin manuell über die Insulinpumpe abgegeben werden – deswegen "Hybrid"-AID-Systeme.

Entwicklung geht weiter

Vollständig automatisierte Systeme sind bald zu erwarten. Aktuell werden Ergebnisse von Studien vorgestellt, in welchen Mahlzeiten nur noch qualitativ angegeben werden, z. B.: Esse ich eine kleine, mittlere oder große Menge an Kohlenhydraten? Die Entwicklung dürfte aber noch weitergehen. Denkbar sind die zunehmende Integration von weiteren Parametern in den Algorithmus, wie Puls oder Hautfeuchtigkeit – beides Zeichen für die Entwicklung einer Unterzuckerung (Hypoglykämie). Auch besondere Aktivitäten des Betroffenen, z. B. erhöhte körperliche Aktivität und Stress, lassen sich anhand des Pulses ableiten. Durch künstliche Intelligenz können Details in den Glukoseprofilen erkannt und ausgewertet werden. Über bestimmte Muster sind ebenfalls Schlussfolgerungen auf Aktivitäten des Anwenders ableitbar, die sich in das Insulinabgabe-Management des Systems automatisch integrieren lassen. Zweifellos lassen die vielfältigen Entwicklungen weiterhin Hoffnungen auf das "perfekte System" zu. All das verringert das Risiko, Therapiefehler zu begehen.

Allerdings ist auch zu beachten, dass das Ganze ein technisches Gerät bleibt. Es bedarf des Vertrauens der Anwendenden, dieses für sich arbeiten zu lassen. Genauso bedarf es auch der Notwendigkeit, dieses zu kontrollieren. Es kann auch einmal defekt sein. Und es ersetzt keineswegs das Diabetes-Team.

Was Insulinpumpen können

Die Anwendung von Insulinpumpen ist eine Standardtherapie bei der Behandlung von Menschen mit Typ-1-Diabetes. In Deutschland gibt es etwa 120 000 Menschen, die eine Insulinpumpe nutzen (etwa 30 Prozent der Menschen mit Typ-1-Diabetes). Die Insulinpumpen-Therapie war motiviert durch Defizite der intensivierten Insulintherapie (ICT), bei der die Verwendung von langwirksamen Insulinen häufig nicht den natürlichen Insulinbedarf nachahmt. So bestanden das Dawn-Phänomen, also frühmorgendlich ansteigende Glukosewerte, und instabile Glukoseverläufe weiter. Die Insulinpumpen-Therapie konnte dieses Defizit teilweise kompensieren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die von Nahrung unabhängige Insulinabgabe weitgehend bedarfsgerecht an den aktuellen Glukoseverlauf anzupassen, was dessen ständiges Messen und damit die Verbindung von Insulinpumpe und CGM-System erfordert. Realisiert wurde das schließlich mit der Zulassung eines ersten Hybrid-AID-Systems.

Patch-Pumpen haben Potenzial

In Bezug auf die Insulinpumpen mit Infusionsset erscheint die technologische Entwicklung zunächst ausgereizt. Anders ist das mit Patch-Pumpen. Deren Infusionsset besteht nur aus einer Kanüle und die Pumpe wird unmittelbar auf die Hautoberfläche geklebt. Modifikationen sind hier zu erwarten in Bezug auf die Möglichkeit, ein CGM-System anzukoppeln und die Pumpe als AID-System zu nutzen. Realisiert ist das bereits bei der Omnipod 5 von Insulet und der Kaleido von ViCentra. Letztere ist einer Patch-Pumpe ähnlich, hat aber ein kurzes Infusionsset. Die Entwicklung geht aktuell dahin, die Größe der Insulinpumpen weiter zu reduzieren. Der Verringerung der Größe waren in der Vergangenheit Grenzen gesetzt, die durch die Handhabung sehr kleiner Geräte bedingt waren. Die Digitalisierung, dazu gehört auch die allgemeine Verfügbarkeit von Smartphones, hebt diese Limitierungen auf.

CGM unabdingbar für AID-Systeme

CGM-Systeme sind als Teil der Therapiesteuerung ein unabdingbarer Bestandteil eines AID-Systems. Für sich genommen sind CGM-Systeme "nur" diagnostische Werkzeuge. Im Rahmen eines AID-Systems sind sie aber essenziell für das Steuern der Therapie. Die Anforderungen an die Messgenauigkeit der Glukosesensoren sind bei einem AID-System besonders hoch, weil die Glukosewerte die Stellgröße für den Algorithmus zum Steuern der Insulinabgabe sind. Dazu darf die MARD (Mean Absolute Relative Difference, deutsch: mittlere absolute relative Abweichung) gegenüber den jeweiligen Blutzuckerwerten maximal 10 Prozent abweichen, was seit 2015 der Fall ist.

Zu beachten ist allerdings, dass Abweichungen in der Messgenauigkeit einerseits durch Produktstreuungen auftreten können, andererseits durch die Kalibrierung, wenn sie noch notwendig ist. Ein CGM-System misst in der Zwischenzell-Flüssigkeit, kalibriert wird mit einem Blutzuckerwert. Die Übereinstimmung der Messwerte ist nur gegeben, wenn der Glukoseverlauf stabil ist. Bei starken Anstiegen bzw. Abfällen kommt es hingegen zu physiologisch bedingten Unterschieden in den Messwerten. Wenn solche abweichenden Werte zur Kalibration genutzt werden, verschlechtert sich die Messgenauigkeit, was Anwendende wissen müssen. Auch lassen sich nicht alle CGM-Systeme kalibrieren. In dem Fall ist ggf. ein Sensorwechsel notwendig, wenn die Werte stark abweichen sollten.

Algorithmen berechnen Insulindosen

Der Algorithmus errechnet auf Grundlage der mit dem CGM-System gemessenen Werte die Insulindosis. Allerdings gibt es dabei zwei Hürden: Bei Menschen mit Diabetes erfolgt die Insulin-Infusion in das Unterhaut-Fettgewebe und nicht ins Blut wie bei Menschen ohne Diabetes. Weitere Verzögerungen ergeben sich durch das Messen der Glukosewerte in der Zwischenzell-Flüssigkeit. Nicht zuletzt haben Algorithmen Sicherheits-Aspekte zu berücksichtigen. Da der Algorithmus die Insulinabgabe nicht nur aufgrund des aktuellen Glukosewerts steuert, sondern sie auch zwei bis drei Stunden vorausberechnen soll, fließen die Insulin-Empfindlichkeit und die Insulin-Wirkung mit ein. Gegebenenfalls werden auch Informationen zu Kohlenhydrat-Aufnahme, körperlicher Aktivität und Stress berücksichtigt. Die aktuellen Algorithmen der AID-Systeme unterscheiden sich in der Art, wie verschiedene Parameter (Insulin-Empfindlichkeit, Insulin-Wirkung, Kohlenhydrat-Aufnahme, körperliche Aktivität, Stress usw.) einbezogen und inwieweit vorausgesagte Glukosewerte errechnet werden.

Algorithmen und ihre Unterschiede

Beim MPC-Algorithmus (Model Predictive Controller) simuliert der Kontroll-Algorithmus vorausschauend den Glukosespiegel. Anhand eines Eingangswerts für die Insulindosis wird der Glukosewert berechnet, der sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, z. B. in zwei bis drei Stunden, ergeben wird. Ist dieser Wert noch zu hoch, wird mit höheren Eingangswerten weitergerechnet. Ist dieser zu niedrig, werden niedrigere Insulindosen zugrunde gelegt. In den verschiedenen AID-Systemen (es betrifft alle mit Ausnahme der Systeme von Medtronic) sind verschiedene Modifikationen des MPC im Einsatz.

Die AID-Systeme von Medtronic verwenden den PID-Algorithmus (Proportional-Integral-Derivative). Ausgehend von einem festgelegten Glukose-Zielwert nimmt der Algorithmus in Abhängigkeit von der Größe der Abweichung Änderungen vor: Liegt der Glukosewert in der Nähe des Sollwerts, wird eine proportionale Menge Insulin abgegeben. Bei Werten über dem Zielwert steigt sie stetig (integral) und bei sehr hohen Werten gibt es einen starken Insulinbolus (derivativ). Die Insulin-Empfindlichkeit ermittelt sich der Algorithmus anhand des durchschnittlichen Insulinbedarfs eines Tages.

Die Ergebnisse der eingesetzten Algorithmen sind vergleichbar. Sie ermöglichen im Alltag durchschnittlich einen Anteil der Zeit im Glukosezielbereich von 70 bis 180 mg/dl bzw. 3,9 bis 10,0 mmol/l von mehr als 70 Prozent.

Versionen von AID-Systemen

AID-Systeme werden schrittweise zum Standard der Therapie bei der Behandlung von Menschen mit Typ-1-Diabetes, was etwa 1 Million Anwendende von AID-Systemen weltweit belegen. Seitens der technischen Ausstattung sind aktuell unterschiedliche Konfigurationen im Einsatz:

Mittlerweile existieren zwei Generationen von AID-Systemen:

Zukünftige AID-Systeme

AID-Systeme entwickeln sich weiter. So gibt es das Konzept von bihormonellen Varianten. Hier erfolgt simultan die Steuerung von Insulin- und Glukagon-Infusion. Denkbar ist deren Einsatz bei Menschen mit Diabetes, die besonders zu schweren Hypoglykämien neigen, wie solche mit Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen oder nach Entfernung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatektomie; Typ-3c-Diabetes). Mit einem bihormonellen System wäre eine entstehende Hypoglykämie gut beherrschbar. Andere bihormonelle AID-Systeme könnten eine Kombination von Insulin und GLP-1 oder Amylin (Pramlintide) sein. Durch diese Substanzen, GLP-1 wird zum Beispiel bei der Therapie des Typ-2-Diabetes eingesetzt, würden die Glukosespitzen nach den Mahlzeiten verringert.

Generell lässt sich feststellen, dass AID-Systeme zum Standard der Therapie des Typ-1-Diabetes werden. Sie führen zu besseren klinischen Ergebnissen als jede andere Therapie, die Menschen mit Typ-1-Diabetes zur Verfügung steht. AID-Systeme verringern die diabetesbedingten Belastungen, verbessern die Therapiezufriedenheit und erhöhen die Lebensqualität.


Schwerpunkt

Kontakt:

Dr. Andreas Thomas
An der Elbaue 12
01796 Pirna

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