„Der Diabetes ist wie ein drittes Kind“

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„Der Diabetes ist wie ein drittes Kind“

Max ist sechs Jahre alt und geht in die erste Klasse. Als er mit vier Jahren Diabetes bekam, wollte seine Mutter gerade wieder anfangen zu arbeiten; seine Schwester war ein Jahr alt. “Wir brauchten eine ganze Weile, bis wir nicht mehr mit dem Kopf am Boden standen, sondern wieder mit den Füßen”, sagt Hanna Barat heute. Den Diabetes zu akzeptieren, war nicht einfach. Im Interview erzählt sie, wie es war, sich aneinander zu gewöhnen, wie es in der Kita gelaufen ist, wie der Alltag der Familie aussieht und wie sich ihre beruflichen Pläne verändert haben.

Erst stand das Leben Kopf – aber es ging weiter”, sagt Hanna Barat heute. Alles begann damit, dass ihr Sohn Max oft schlapp war und viel mehr trank als sonst. Ein Bluttest in der Kinderarztpraxis ergab einen Wert von 300 mg/dl (16,7 mmol/l).


Diabetes-Eltern-Journal (DEJ): Max und Sie sind wohl gleich nach dem Ergebnis des Bluttests in die Klinik überwiesen worden?

Hanna Barat: Ja, das ist für mich abgelaufen wie ein Film. Auch in der Erinnerung ist das noch so. Und ich habe lange mit der eigenen Akzeptanz der Krankheit gekämpft. Ich habe erst einmal einfach nur funktioniert und immer gedacht, gleich höre ich: “Falscher Alarm!”

DEJ: Wo werden Sie betreut?

Barat: Wir sind bei uns nach Bamberg ins Krankenhaus. Da gibt es einen Arzt, der sich gut auskennt und auch Kinder betreut, aber es ist kein richtiges Zentrum. Wir hätten auch nach Erlangen fahren können, die haben eine größere Abteilung. Aber damals war unsere Tochter gerade ein Jahr alt, und mein Mann hat wahnsinnig viel gearbeitet. Ich war eigentlich zur Diagnose schon so weit, dass ich nicht mehr konnte; eine Mutter-Kind-Kur war schon genehmigt, die musste ich absagen. Die örtliche Nähe der Klinik war für uns ein wichtiger Faktor, und wir fühlen uns dort bis heute gut betreut.

DEJ: Wie hat sich das Familienleben verändert?

Barat: Ich sage immer, der Diabetes ist eigentlich unser drittes Kind – der gehört gehegt und gepflegt, der wächst irgendwie, und man wächst auch selbst mit der Situation. Der Diabetes ist natürlich immer da, aber es ist auch so, wie man es uns immer gesagt hat: “Irgendwann ist es wie Zähneputzen.”

DEJ: Wie ist es in der Kita gelaufen?

Barat: Das war schwierig. An sich war die Akzeptanz für die Krankheit sehr gut. Die Erzieher haben klar gesagt: “Max gehört hier in den Kindergarten. Wir wollen das mittragen.” Zwei Erzieherinnen haben sich schulen lassen. Aber in der Praxis war es nachher nicht so einfach. Es wäre wahrscheinlich einfacher gewesen, hätte es festere Gruppen und Strukturen gegeben. Es wurden auch Absprachen nicht eingehalten. In der ersten Zeit bin ich alle zwei Stunden in den Kindergarten gefahren, weil Max sich mit dem Pen nur von mir spritzen lassen wollte. Das war mir aber auch lieber so.

DEJ: Wie läuft es jetzt in der Schule?

Barat: Max und ich waren vor Schulbeginn in Hannover und haben das “Fit für die Schule”-Programm mitgemacht. Das hat uns beiden viel gebracht und hat Max noch mal einen Schub gegeben. Max hat in Bamberg einen Freund mit Diabetes, aber in Hannover war er zum ersten Mal mit vielen Kindern zusammen, die auch Diabetes haben. Danach wollte er unbedingt seine Pumpe allein bedienen, und das klappt auch. Er spritzt sich selbst über den Bolusrechner; wir sagen ihm nur noch die Zahlen.

Von der Schule haben wir eigentlich die Absage für eine Medikamentengabe; seine Lehrerin war aber immer bereit, den Diabetes mitzutragen und Max zu unterstützen. Die Ängste waren am Anfang schon groß, ich habe aber versucht, die ersten zwei Wochen immer vor Ort zu sein.

DEJ: Es ist auch verständlich, dass Ängste da sind…

Barat: Genau, man muss natürlich über die Risiken aufklären, und ich glaube, bei den meisten bleiben die Risiken im Gedächtnis hängen. Nach und nach ist es besser geworden, und die Lehrerin hat dann in der zweiten Woche gesagt, ich solle doch nach Hause gehen, sie würde mich anrufen, wenn was ist.

DEJ: Sie hatten im Vorgespräch eine Auseinandersetzung mit der Kasse erwähnt. Was steckt dahinter?

Barat: Wir hätten gerne den FreeStyle Libre gehabt – das wäre einfach ein Stück Freiheit gewesen, denn wir hatten wenige Freunde, die sich bereit erklärt haben, Max einfach mal alleine zu nehmen, ohne dass ich dabei bin. Uns war klar, wenn wir den Sensor kriegen, fühlen sich alle sicherer – auch ich selbst. Die Krankenkasse hat es aber abgelehnt, die Kosten zu übernehmen, und das ist für mich so was von unverständlich. Letztendlich haben wir die Krankenkasse gewechselt. Wir hatten vorher immer gedacht, mit einem Kind mit Typ-1-Diabetes wird uns keine andere Krankenkasse nehmen, aber es war dann kein Problem.

Davor hatten wir das System ein halbes Jahr aus eigener Tasche gezahlt, was finanziell ein großer Einschnitt war. Ich konnte ja auch nicht arbeiten gehen, musste meine Pläne über Bord werfen. Aber wir haben gesagt: Der Sensor ist wichtig, das muss sein.

DEJ: Inzwischen bauen Sie sich ja im Diabetesbereich beruflich etwas auf.

Barat: Ja. Als wir die Insulinpumpe bekamen und ich gesehen habe, welche Tragemöglichkeiten es gibt, habe ich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Noch am selben Abend habe ich mich an die Nähmaschine gesetzt. Ich habe ja Modedesign studiert und früher im Bereich Active Wear und Kinderkleidung gearbeitet. Ich habe Taschen genäht, in denen Max die Pumpe verstauen konnte. Dann waren wir auf einer Freizeit mit anderen Diabeteskindern. Denen purzelten dauernd die Pumpen aus den Hosentaschen. Eine Mutter hat da schon zu mir gesagt: “Mensch, das wär‘ doch was, mach‘ da doch mehr draus.”

Über ein Jahr nach der Diagnose war ich dann so weit. Ich habe einen Produzenten gefunden, der mir solche Bauchbänder für die Pumpe ohne Naht strickt – und so halten die Sachen total gut, leiern nicht aus und bleiben körpernah. Ein Muster habe ich Freunden gegeben, und die Mutter sagte immer: “Mensch, mach‘, wir haben nur ein Band, und das muss gewaschen werden, und mein Sohn will einfach nix anderes anziehen.” Irgendwann habe ich gedacht: “Ich mach’s, was anderes zu finden, ist auch schwierig.” So ist mein Unternehmen entstanden.

DEJ:

Barat:

DEJ: Hadert Max mit dem Diabetes?

Barat: Gerade ist es so, dass er ihn manchmal verflucht. Wir hatten jetzt auch eine Zeit, in der er beim Katheter- oder Sensorlegen einen Riesen-Aufstand gemacht hat, obwohl wir die Hautstellen gut betäuben. In solchen Phasen wende ich mich an unsere Diabetesberaterin.

Ansonsten haben wir immer versucht, ihm alles zu ermöglichen und alles so normal wie möglich zu gestalten, auch wenn es oft anstrengend ist. Zum Beispiel waren ständig Kinder zu Besuch. Da habe ich schon manchmal gedacht: “Ich habe auch mal das Bedürfnis, mein Kind bei einem Freund zu lassen und zu sagen: “Ich bin dann mal weg.” Aber wir sagen immer zu ihm: “Du kannst alles, du darfst alles.” Und dieses Versprechen müssen wir Eltern auch einhalten.

DEJ: Und es ist Ihnen wichtig, dass Max andere Kinder mit Diabetes kennenlernt.

Barat: Ja, das tut ihm total gut. Im Krankenhaus hat er immer gefragt: “Mama, wo sind die anderen Kinder, die das auch haben?” Deshalb haben wir versucht, zügig andere Kinder zu finden und sind auch in einer Selbsthilfegruppe in Schweinfurt. Und in Bamberg hat er ja seinen Freund Philipp. Der Kontakt zu ihm kam über das Krankenhaus zustande.

DEJ: Wie haben Sie es geschafft, den Diabetes zu akzeptieren?

Barat: Wenn ich lange mit der Krankheit gehadert hätte – obwohl man das ja immer wieder mal tut – wäre es noch schwieriger geworden, auch für Max. Aber es ist auch immer ein Unterschied, wie es von außen aussieht und wie es einem manchmal abends geht. Man kämpft um die Akzeptanz, am Anfang sowieso.

DEJ: Wie geht Ihr Mann damit um?

Barat: Der ist da oft total rational. Rückblickend war ich in der ersten Zeit gar nicht mehr ich. Ich hatte das Gefühl, ich kann noch nicht mal mehr rechnen. Im Krankenhaus sollte ich das Essen berechnen, dazu war ich nicht in der Lage. Bei mir war es so, dass am zweiten Tag nach der Diagnose die Welt untergegangen ist, weil ich einfach das ganze Ausmaß begriffen habe – bei meinem Mann kam das erst eine Woche später.

DEJ: Im Alltag sind Sie diejenige, die sich mehr kümmert, oder?

Barat: Ja, das ist eher meine Aufgabe. Aber zu den Schulungen war mein Mann immer da. Er kann sich genauso um Max kümmern wie ich, aber er ist zurzeit derjenige, der das Geld verdienen geht.

DEJ: Können die Großeltern helfen?

Barat: Meine Eltern wohnen weiter weg, in Ulm. Aber mittlerweile schmeiße ich sie immer wieder mal ins kalte Wasser. Wir haben jetzt nach zwei Jahren ein Wochenende zu zweit verbracht, nur mein Mann und ich, und in der Zeit waren die Kinder bei meinen Eltern. Wir sind natürlich immer erreichbar.

Dass Max selbständiger wird und sich selbst spritzen kann, macht es viel, viel einfacher. Ich kann mich immer mehr auf ihn verlassen. Meine Mama ist manchmal ganz überrascht, was er schon selbst kann. Er sagt dann zu ihr: “Oma, das ist doch überhaupt kein Thema.” Das ist dann schon schön.


das Interview führte Nicole Finkenauer
Kirchheim-Verlag, Kaiserstraße 41, 55116 Mainz,
Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90,
E-Mail: finkenauer@kirchheim-verlag.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2017; 10 (2) Seite 16-18

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