Diabetes verleiht Flügel

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Diabetes verleiht Flügel

„Drachen fliegen gegen den Wind – nicht mit ihm.“

Mein Leitspruch begleitet mich seit über dreißig Jahren und hat erst zehn Jahre nach meiner Erkrankung an Diabetes seine wahre Bedeutung für mich entfaltet.

Wo komme ich her?

Ich wuchs mit einem Flugingenieur-Papa, einer Stewardess-Mama, Fallschirmspringer-Onkel und Kampfjet-Piloten-Cousins in einem hessischen Vorort nahe Frankfurt am Main auf.

Der Flugplatz war mein Spielplatz. So wie viele kleine Jungs die schwierigsten Dinosauriernamen kennen, konnte ich alle Flugzeugtypen auseinanderhalten. Ich spielte mit den entsprechenden Plastikflugzeugen, auf denen ich meine Barbies stundenlang fliegen ließ.

Dass Barbies gemäß Klischees eventuell Schwierigkeiten bei einem Aufnahmetest hätten, Diabetes haben und fluguntauglich sein könnten, kam mir nicht in den Sinn. Ich war schon damals unvoreingenommen und daran sollte sich auch nicht mehr viel ändern.

Kurzum: Es gab für mich seit frühester Kindheit keinen alternativen Berufswunsch außer Pilotin. Im Gedankengut meiner Familie gab es darüber hinaus auch kaum Alternativen zum „Gesundsein“.

„Wer gesund lebt, bleibt gesund“, war hier die weit verbreitete Meinung.

Was lief schief?

Es war im Frühsommer 2002, als ich unendlich müde dem Ende meiner Pilotenausbildung entgegenblickte.

Doch wie heißt es so schön: „Besessenheit ist der Motor und Verbissenheit die Bremse“ (Zitat: Rudolf Nurejew, russischer Autor).

Irgendwann Anfang des Jahres 2002 litt ich an einer schweren Erkältung. Ich biss mich ohne Fehlzeiten durch und als es mir Wochen später vermeintlich besser ging, hatte ich diese Erkältung schon vergessen.

Dieser leichtsinnige Umgang mit meiner Gesundheit war im Endeffekt der Ursprung meiner Frühsommer-Müdigkeit. Anfangs dachte ich, der viele Stress ließe meine Pfunde schmelzen und die Hitze sei der Grund meines zügellosen Dursts.

Doch als mein Vater mich zu einer Prüfung fahren wollte und ich ins falsche Auto einstieg, weil ich ihn nicht mehr richtig sehen und erkennen konnte, musste ich mir eingestehen, dass irgendetwas nicht stimmte, und ging zum Flugarzt.

Die „Grenzerfahrung“

Der Arzt diagnostizierte umgehend Diabetes Typ 1. Meinem Vater zuliebe wurden die Tests mehrfach wiederholt, aber das Ergebnis blieb unverändert.

Meine Krankenhauseinweisung verlief unruhig, denn mein Vater machte ungefähr jeden Spezialisten ausfindig und wollte „mich heilen lassen“, damit ich meine Pilotenausbildung hätte abschließen können.

Was „Typ-1-Diabetes“ bedeutet und mit sich bringt, war niemandem in meiner Familie klar und das Interesse dafür war sekundär. Außer Krebs gab es in meiner Familie im Grunde keine Krankheit, die ernst genommen wurde. Mein vorzeitiges Berufsende als Pilotin wurde damit totgeschwiegen anstatt diskutiert.

Mit einem Aufhebungsvertrag und ohne Ausbildungsabschluss oder Berufsalternativen im Kopf verkroch ich mich in der Rehaklinik. Ich schämte und grämte mich zwei Wochen lang, bis eine unfassbare Wut in mir aufstieg.

Würde ich meine Berufschancen wiederaufbauen und verändern können, wenn ich alles über diese Krankheit lerne und sie mit der ehrwürdigsten Disziplin bestmöglich beherrschen würde?

Die Antwort damals lautete NEIN.

(M)Ein Leben ohne Limits

Mein Groll bezog sich darauf, von Menschen fremdbestimmt zu werden, die Diabetes – wenn überhaupt – nur aus Schulbüchern kannten.

„Wer sind diese Menschen, die glauben, alle Diabetiker über einen Kamm zu scheren?“, fragte ich mich.

Auf welcher Grundlage basieren diese fiktiven Risikokalkulationen, die besagen, dass Diabetiker keine Berufe ausüben dürfen, die Verantwortung für andere Menschen beinhalten?

Meiner Auffassung nach sollten unser Talent, unsere Willenskraft und Disziplin über unseren Berufswunsch und unsere Karriere entscheiden – nicht unser Diabetes.

So träumte ich von „einem Leben ohne Limits“. Ein Leben ohne fremdauferlegte Barrieren und Vorurteile.

Ich packte meine Koffer, studierte Business Administration in Nordengland, verschwieg meinen Diabetes und nahm danach eine Stelle als Krisen- und Qualitätsmanager bei einem großen Reiseveranstalter an, der mich über vier Jahre lang in exotische (und für Diabetes schwierige) Destinationen schickte.

Quelle: pexels

Ich sollte in dieser Zeit viele Grenzerfahrungen machen und Bewältigungsstrategien mit meinem Diabetes entwickeln. Ich lernte meinen Körper und seine Schwächen in allen Facetten kennen.

Irgendwann wusste ich meinen Körper so zu kontrollieren, dass es mir gelang, meinen Diabetes zu verheimlichen.

Das Versteckspiel

Meiner damaligen Ansicht nach konnte ich nur Karriere machen, wenn keiner von meinem Diabetes erfahren würde.

Nach meinen Auslandsjahren wurde mir eine hohe Position in einem amerikanischen Konzern angeboten. So war ich im Alter von 28 Jahren verantwortlich für 58 Mitarbeiter. Diese waren teilweise im Alter meiner Eltern und ich kämpfte an allen Fronten um Anerkennung und Respekt.

Um mich in dieser Position durchzusetzen, war es „in Mode“, ohne Pause, bis in die späten Abendstunden und an Wochenenden zu arbeiten. „Schwächeln“ oder sich krankschreiben zu lassen führten umgehend zu Einzelgesprächen mit dem Direktor und zeigten auf, dass sehr viele Nebenbuhler sich um meine Position bemühen würden, wenn ich nicht die Leistungen und Opfer erbrächte, die nötig waren.

So nutzte ich „gefakte“ Lunch-Meetings, um einfach in einem Konferenzraum Schlaf nachzuholen. Meinen Zucker maß und korrigierte ich in abgeschlossenen Toiletten. Konferenzen, Meetings & Co. bereitete ich akribisch vor, so dass ich teilweise mit erhöhtem Zucker einstieg, um Ausdauer zu haben und Unterzuckerungen auszuweichen. Zusätzlich ernährte ich mich auf Geschäftsessen kohlenhydratfrei, um nicht zum Spritzen aufstehen und weggehen zu müssen.

Meine Trickkiste, um meinen Diabetes zu verheimlichen, wurde immer größer und „ausgefuchster“.

So zog mein junges Leben an mir vorüber, bis ich dreißig wurde, mein Vater schwer krank wurde und im Sterben lag.

„Zucker ist süß, aber doch nicht krank.“

Viele Jahre glaubte ich, mein Vater sähe mich als Versagerin. Als er dem Tod nahe war, sagte er zum ersten Mal, dass er stolz auf mich sei. Mein Vater sagte, ich solle mehr leben und weniger arbeiten und mich selbst akzeptieren. Ich hätte doch längst bewiesen, dass „Zucker süß ist, aber nicht krank.“

Wenn andere mein Potential nicht erkennen und mir keine Chancen geben würden, solle ich „drauf pfeifen“, sagte mein Vater.

„Hör auf mit dem Versteckspiel. Wie sollen die Leute um dich herum den Diabetes einschätzen lernen, wenn sie nichts über diese Krankheit und deren Menschen kennen außer Klischees? Konzentriere dich auf eine starke und überzeugende Kommunikation. Du bist Repräsentant deiner Krankheit und dein Umfeld wird den Diabetes so annehmen, wie du damit umgehst. Diese Krankheit ist nicht dein Feind, Sylvia – sie ist ein Teil von dir! Lerne es anzunehmen, sonst wirst du nie glücklich und frei.“

Die Metamorphose

Als mein Vater starb, stellte ich alles in meinem Leben in Frage. Wollte ich eine Karriere oder habe ich das ganze Scharaden-Spiel gemacht, um meinen Vater stolz zu machen?

Ich kündigte meinen Job und meine Wohnung, zog kurzerhand zu meinem damalig neuen Freund nach München und suchte mir eine neue Anstellung – ohne Mitarbeiterverantwortung.

Das Versteckspiel nahm ein Ende und ging komplett ins Gegenteil über.

Ich maß meinen Zucker und spritzte mich fortan am Arbeitsplatz. Wenn Kollegen oder Chefs mich verwundert fragten, was ich denn da mache, stand ich kess Rede und Antwort.

Meine Devise: Kurz, witzig und selbstbewusst – niemals krank und voller Selbstmitleid.

Die Menschen um mich herum wurden immer wissbegieriger und schnell etablierte ich mich in meinem Unternehmen als Diabetes-Expertin. Jeder Kollege, der einen Diabetiker kannte oder dem es selbst nicht gut ging, überrannte mich mit Fragen und wollte Tipps von mir mitnehmen. Das war eine neue und positive Erfahrung für mich, mit meinem Diabetes zu leben.

Drei Jahre später erwartete ich meine erste Tochter. In der ersten Elternzeit entstand der starke Wunsch, meinen bisherigen Weg, die Erfahrungswerte und Trickkiste mit Diabetes niederzuschreiben. Vorerst landete mein Manuskript aber in der Schublade.

Wenn ich damals mit meinem Kind spazieren ging und mich anderen Müttern anschloss, die mit einem Frapuccino in der Hand sich über die neuesten Modetrends austauschten, kam ich im Gespräch jedoch nicht mit und schwieg. Sobald Menschen aber über Gründungen sprachen oder Business Development, spürte ich ein Feuer in mir.

Die Sackgasse

Nach Rückkehr in den Job bemerkte ich, dass es für Mütter viele Herausforderungen gibt, gefördert zu werden. Ich arbeitete beispielsweise 90%, also 36 Wochenstunden, arbeitete hoch effizient, erzielte überragende Ergebnisse und sollte dennoch weder eine Gehaltserhöhung noch eine Beförderung erhalten.

An diesem Punkt bemerkte ich, dass ich mich in einer Sackgasse befand. Karriere würde ich in den kommenden zehn Jahren wahrscheinlich nur machen, wenn ich diese selbst in die Hand nähme.

Dass ich mich selbst für einen solchen Lebensweg begeistere und es nicht die Vorgabe meines verstorbenen Vaters ist, war mir nun endlich klar.

So wurde ich mit meiner zweiten Tochter schwanger und wusste, dass die zweite Elternzeit die Chance sein würde, etwas aufzubauen, was schon lange in mir gärte.

Wie viele Frauen strebe ich flexible Arbeitszeiten an, die meiner Familie zugutekommen, bei denen ich aber – als Frau, Mutter und Mensch – nicht hinten runterfalle.

Das Sugar Boot Camp

Seit Juni 2018 blogge ich auf meiner Website www.sugarbootcamp.com rund um das Thema: „Diabetes & Lifestyle – Für ein Leben ohne Limits“.

Mit „Diabetes & Lifestyle“ greife ich insbesondere Tipps und Produkte auf, die Diabetikern Mehrwerte geben.

Quelle: Sylvia Wurm-Werner

Diabetes verleiht Flügel

Ich bin heute zwar keine Pilotin, aber der Diabetes hat mir in vielerlei Hinsicht Flügel verliehen. Pilotin wäre mein Beruf gewesen, aber Diabetikerin zu sein ist meine Berufung.

Durch den Diabetes habe ich die unglaublichsten Grenzerfahrungen gemacht. Ich habe mich gehasst, meinen Körper verdammt und schließlich in ein gesundes, ausgewogenes Familienleben gefunden, das mich täglich begeistert.

Mein Diabetes zwingt mich zur Achtsamkeit und schenkt mir die Möglichkeit, meine Kreativität voll zu entfalten. Diabetes lehrte mich, ein sinnvolles Vorbild für meine Töchter zu sein. Gesunde Ernährung, Bewegung, Ruhepausen, aber auch der Mut zur Schwäche mit dem Fokus auf einen selbstbewussten Umgang damit ist, was ich heute vorlebe und mich stark macht.

Anderen Mitmenschen auf den richtigen Weg zu verhelfen, denen es ähnlich geht wie mir einst – die vor lauter Strebsamkeit und Tatendrang sich durch ihren Diabetes gedrosselt und gegängelt fühlen, statt ihr Potential mit Diabetes zu entfalten – verleiht mir Flügel.

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