Die Welt – mit Diabetes

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Die Welt – mit Diabetes

Ich habe meinen Blog damals so genannt, weil ich von meinem Alltag mit meiner Diabetes-Sau erzählen wollte. Dass es eben nicht „nur“ Diabetes ist. Dass es auch gut und gerne mal nicht nach Plan läuft und dass es eben vielleicht doch ganz cool ist, Diabetes zu haben.

Die Welt – mit Diabetes: das Logo des Blogs. / Quelle: privat

Diabetes

Das ist oft nicht „nur“ Blutzuckerkontrolle, Insulin, Spritzen etc. Dazu gehören auch noch andere Dinge. Angst. Essstörungen. Depressionen. Unverständnis.

Aber fangen wir mal mit der Angst an. Wovor hat ein Diabetiker Angst? Angst vor Nadeln, vor dem Spritzen, vor Entzündungen der Katheter- oder Sensorstellen, Angst vor Hypoglykämien (Unterzuckerungen), Angst vor Hyperglykämien (Überzuckerungen), Angst vor einem Zuckerschock, vor Ketonen (Giftstoffen), vor Krankenhausaufenthalten, vor Folgeschäden, schlechten HbA1c-Werten, vor den Arztbesuchen, davor, dass man wegen des Diabetes Nachteile bekommt, vor doofen Sprüchen, vor Verurteilung, vor dem ersten Date und vor vielem mehr… Was denken die anderen von mir? Bekomme ich wieder eine Standpauke vom Arzt für ein paar schlechte Werte? Was passiert, wenn ich den Blutzucker nicht herunterbekomme? Was passiert, wenn mein HbA1c weiterhin so hoch ist? Bekomme ich meinen Menstruationszyklus wieder, wenn die Werte besser werden?

Mit Diabetes leben heißt auch, mit der Angst vor alldem zu leben. Diese Ängste zu bekämpfen, ist oft schwer und es dauert lange, bis man einige Ängste überwunden hat. Andere überwindet man einfach nie.

Meine Dia-Sau / Quelle: privat

Essstörungen

Ein Diabetiker denkt fast 24 Stunden an Essen. Wann muss ich wieder essen, um keine Hungerketone zu bekommen, wann darf ich wieder essen? Wie viele Kohlenhydrate und somit wie viele KE (Kohlenhydrateinheiten) bzw. BE (Broteinheiten) hat mein Essen? Was muss ich dafür nun spritzen, wie viel muss ich jetzt essen, damit ich nicht abrausche? Wie viel sollte ich essen, damit ich nicht zu hoch bin (bei einer Unterzuckerung)? Habe ich genügend Essen eingepackt für unterwegs, falls ich unterzuckere? Habe ich einen guten SEA (Spritz-Ess-Abstand) eingehalten? Habe ich mich jetzt verrechnet? Was esse ich da, wie fettig ist das Essen (Pizza ist oft sehr schwer einzuschätzen)? Ist eine Waage bei dem Freund, den ich jetzt besuche, um meine Chips abzuwiegen? Wie berechne ich das jetzt am besten? Fragen über Fragen. Dass wir dabei ein sehr gestörtes Verhältnis zu Essen haben, muss ich nicht mehr erwähnen, oder?

„Aber meine Gesundheit war mir egal.“

Zudem kommt dann in der Pubertät der große Wunsch, sehr schlank zu sein. Oft führt dieser Wunsch zur Bulimie. Wir Diabetiker haben es vermeintlich ein bisschen leichter. Einfach nicht spritzen für die gegessenen Kohlenhydrate und zack! Es geht einem zwar nicht mehr gut, man ist schlapp und hat Kreislaufprobleme, aber: Man nimmt immer mehr ab, obwohl man Unmengen isst. Ging es mir damals schlecht und ich musste mich übergeben, nahm ich mir meinen Insulinpen mit dem kurzwirksamen Insulin, jagte mir 40 Einheiten in den Bauch und schon ging es ein bisschen besser. Mein Langzeit-Insulin benutzte ich in der Zeit zweimal im Monat. Letztendlich ist es aber sehr schädlich. Organe gehen kaputt und man stirbt irgendwann daran. Ich hatte Glück. Bei mir war nur die Leber kurz vor der Transplantation. Aber meine Gesundheit war mir egal. Als Teenager fühlt man sich unsterblich. Ich wollte dem Schönheitsideal entsprechen. Erst ein Jahr später, als ich Hilfe bekam, merkte ich eigentlich, wie dumm das Ganze war. Solche Gedanken, Phasen und Taten sind leider kein Einzelfall. Vielen geht es so. Durch mehr Aufklärung, Schulungsprogramme etc., besonders im pubertierenden Alter, könnte man dem Ganzen entgehen.

Ich wollte unbedingt schlank sein und fand mich bei 1,60 m und 42 kg immer noch zu dick. / Quelle: privat

Depressionen

Man misst den Blutzucker, spritzt für Essen, gegebenenfalls eine Korrektur und dennoch läuft nichts, wie es sollte… Man tut alles Mögliche, wechselt eventuell Katheter, Reservoir, Insulin, dennoch hat man das Gefühl, man spritzt Wasser. Der Blutzucker bleibt dort, wo er ist. Oben. Oder es ist das Gegenteil. Man stellt die Pumpe aus, lässt Insuline weg oder reduziert die Einheiten, dennoch kann man essen, essen und nochmals essen und man bleibt in der Unterzuckerung. Ist das über Wochen der Fall, kann man schon in Depressionen fallen. Es klappt nie so, wie man will. Dann läuft es gerade und dann schlägt das Wetter um, man steht unter Stress, als weiblicher Diabetiker kann die Menstruation alles verhauen oder man bekommt eine Erkältung. Wenn es monatelang nicht läuft, fällt man irgendwann in ein Loch. Es ist ja total egal, was man macht, da könnte man es auch gleich ganz lassen. Wenn man dann noch eine Standpauke vom Diabetologen bekommt, ist es bei mir persönlich ganz vorbei mit der Motivation. Ein mieser Teufelskreis, aus dem man schwer wieder herauskommt.

Unverständnis

Ich stoße sehr oft auf Unverständnis. In der Schule, bei der Arbeit, im World Wide Web…

Ich kann mich noch genau erinnern. Ich war in der 6. Klasse, die Diagnose war frisch und ich war neu in der Klasse. Die Jungs hatten, glaube ich, Angst vor dem Unbekannten. Was unbekannt ist, wird in dem Alter niedergemacht. Und somit war ich das Mobbing-Opfer Nummer 1. Eine Aufklärungsstunde in Biologie hat leider auch nichts gebracht. Leider ist das nicht nur bei den Mitschülern ein Problem gewesen. Es wurden Broschüren an die Lehrer verteilt und dennoch gab es oft Diskussionen, weshalb ich nun essen muss.

Meine „Lieblingsaktion“ war im Biologieunterricht der 7. Klasse. Meine Lehrerin stand plötzlich vor mir und forderte mit einer stummen Handbewegung auf, ihr mein „Handy“ zu geben. Nach dreimaligen Winken schrie sie: „Jetzt gib das Handy her! Das gibt eine Missbilligung!“ Ich zog meinen Pulli hoch, klemmte meinen Katheter ab, gab ihr die Insulinpumpe mit den Worten: „Sie sind ja ehemalige Krankenschwester. Mit Überzuckerungen kennen Sie sich ja aus.“ Der Blick war genial, aber ihre Entschuldigung kam bis heute nicht.

Nur Diabetes?

Solche Aktionen hatte ich so oft. Von „Mach das dumme Gepiepe aus!“ bis hin zu „Hör auf zu essen, du hast doch jetzt genug gegessen“. Blutzucker war bei 33 mg/dl (1,8 mmol/l), aber selbst meine Erklärung war der Lehrkraft egal und ich musste die unregelmäßigen Verben in Englisch abschreiben. In der 10. Klasse… Nachdem auch wieder gefühlt 100 Broschüren verteilt wurden… Ich habe damals einen Nachteilsausgleich bekommen. Sollte ich über- oder unterzuckert sein bei einer Arbeit, sollte ich entweder mehr Zeit bekommen oder es sollte eine Aufgabe gestrichen werden. Das ging ein Jahr lang gut, dann haben die Lehrkräfte gesagt, ich solle mich nicht so aufspielen (ich sagte vor jeder Arbeit Bescheid, ob zu hoch oder zu niedrig, falls dies der Fall war). Ich hätte ja nur Diabetes.

Außenseiter wegen Diabetes

Natürlich tragen Lehrer, Erzieher und Co. mehr Verantwortung für ein krankes Kind als für ein gesundes, aber so etwas darf nicht mehr passieren! Dass ich frisch diagnostiziert (4 Monate) allein auf Klassenfahrt musste (mein Vater durfte sich nicht einmal auf eigene Kosten in der Umgebung einquartieren) und dort angemeckert wurde, dass ich unterzuckere, geht einfach nicht. Und auch so etwas ist kein Einzelfall, wenn ich mich so umhöre…

Besser wird es in der Arbeitswelt leider auch nicht. Kollegen, die einen zum monatlichen, freiwilligen Team-Essen nicht einladen, weil man ja „Zucker“ hat. Man bekommt statt des Kuchens, der zum Geburtstag mitgebracht wurde, einen Apfel, weil das ja gesund ist (dass ein Apfel auch Kohlenhydrate hat, ist ja egal). Mein liebstes Ereignis ist aber das, in dem ich gesagt bekomme, dass erst nach meinem Feierabend Kekse verteilt werden. Auf mein gespielt beleidigtes „Wieso denn immer, wenn ich Feierabend habe“ bekam ich dann ein „Du darfst die eh nicht essen“ zurück… Dabei hatte ich volle Aufklärung geleistet… Natürlich sind nicht alle Mitschüler und Kollegen so. Viele sind interessiert und haben Verständnis.

Die nie endende Aufklärungs-Mission

Unverständnis begegnet man auch häufig auf der Straße. Oft werde ich zum Beispiel gefragt, was da denn an meinem Arm klebt (CGM und Insulinpumpe). Oft kommen dann Sprüche wie: „Oh, du hast wohl ganz, ganz schweren Zucker“, „Meine Oma hat das auch, Du musst mal die Tabletten probieren!“ oder mein Favorit: „Da hilft Zimt!“ Unsensible Sprüche wie: „Ist das eine Bombe?“, „Ist das dein Akku?“, „die neuste Art von Tattoos“, „das Ding für den Bewährungshelfer“ oder „der An- und Aus-Knopf“… Ich erwarte nicht, dass die Leute wissen, dass es sich um Diabetes-Zubehör handelt, ich finde es auch super gut, wenn sie mich darauf ansprechen und fragen, was das denn ist. Aber solch dumme Sprüche abzuliefern… Wie würden die Menschen sich fühlen, wenn sie so angesprochen würden?

Unverständnis auf Konzerten, Festivals oder an Flughäfen trotz Bescheinigung eines Arztes tritt auch sehr häufig auf. Da wird einem beim Abtasten der Katheter oder Sensor rausgerissen und es kommt ein „Oh!“. Keine Entschuldigung, nichts. Es werden erst Sanitäter gerufen, um wirklich sicherzugehen, dass ich Diabetiker bin und kein Terrorist. Dass ich das Wort „Diabetes“ auf meinem Handgelenk tätowiert habe, ist denen egal. Ich ramme mir natürlich super gern Nadeln in meinen Körper, ganz aus Spaß, nur um diesen Flughafen in die Luft zu jagen. Und vorher lasse ich mir noch „Diabetes“ in die Haut stechen. Ja, ’ne, ist klar… Sehr viel Unverständnis, bei dem wir mit mehr Aufklärung gegenwirken könnten…

Unverständnis beim öffentlichen Blutzuckermessen ist auch keine Seltenheit. / Quelle: privat

„Diabetes ist kein Zuckerschlecken!“

Wer auch immer diesen Spruch erfunden hat, hat vollkommen recht! Mein Alltag dreht sich nur um den Diabetes. Auch wenn das nicht der Fall sein sollte. Durch die wunderbar tolle Technik wird uns der Alltag um einiges erleichtert. Dennoch ist es oft einfach nur chaotisch und unverständlich. Diabetes ist nämlich nicht gleich Diabetes. Abgesehen davon, dass es verschiedene Typen gibt (Typ 1, Typ 2, MODY, LADA etc.), ist zum Beispiel jeder Typ-1-Diabetes unterschiedlich. Während ich zum Alkoholtrinken einen Blutzuckerwert von über 350 mg/dl (19,4 mmol/l) benötige, müssen andere vielleicht für den Alkohol spritzen. Während ich bei Stress hochgehe, rauschen andere in eine Unterzuckerung. Auf so viele Dinge ist zu achten, auf so viele Dinge muss man Rücksicht nehmen. Und dann sind da all diese Gedanken.

Gedanken

Gedanken um die Zukunft. Also eigentlich auch nur weitere Ängste… Was mag sie bringen? Was ist, wenn ich als Diabetikerin schwanger werden möchte? Was muss ich alles in der Schwangerschaft beachten? Was ist, wenn ich Probleme als Diabetiker habe in Sachen Geschlechtsverkehr? Viele Themen, die uns betreffen, wie die Zukunftsplanung, alltägliche Probleme wie die Sache mit der Sexualität, werden bei den Ärzten in den kurzen Sprechstunden nicht behandelt. Gedanken, was ich bin, wie ich mich rechtfertigen muss, Gedanken, wie ich die Welt für Diabetiker vielleicht verbessern kann.

So vieles begleitet den Alltag mit Diabetes. Und dann gibt es diese ganzen Situationen. Über- und Unterzucker, den „Unterzuckerungskater“ (das Gefühl morgens nach einer nächtlichen Unterzuckerung) und, und, und… Wer jetzt noch behauptet, es wäre ja NUR Diabetes, dem möchte ich gerne einen Tag lang meinen Diabetes überlassen. Oder eine Woche. Am besten eine, in der nichts läuft, wie es soll. Natürlich gibt es viele schlimmere Krankheiten, mit denen ich auch absolut nicht tauschen will, dennoch ist es nicht einfach „NUR“ Diabetes.

Ich bin ich durch Diabetes.

Ich will aber nicht nur meckern, denn tatsächlich bin ich mittlerweile sehr froh, Diabetes Typ 1 zu haben. Ich habe so viele tolle Menschen kennengelernt durch Schulungen, meinen Aufenthalt im Heim, durch Diabetes-Events und durchs Bloggen. Ich habe so viele tolle Dinge erleben dürfen wie zum Beispiel das Camp D von Novo Nordisk. Ich habe viele tolle Freunde gefunden, die genau wissen, wie es einem geht, und einen nicht komisch angucken, wenn man mitten in der Bahn auf der Zugfahrt seinen Katheter wechselt. Ich lebe durch die heutige Technik ganz gut, auch wenn Ängste, Depressionen und Co. mich begleiten. Durch das Bloggen helfe ich tatsächlich Menschen, bekomme Mut zugesprochen (zum Beispiel beim Ausprobieren neuer Katheterstellen) und sehe einfach: Ich bin nicht allein!

Ich bin ich durch den Diabetes. Und das ist auch gut so! / Quelle: privat

Der Alltag mit Diabetes ist hart, manchmal sogar echt bescheuert, aber mit Diabetes kann man super leben. Und wenn man den Austausch regelmäßig durch Stammtische etc. hat, ist es sogar noch ein kleines Stückchen leichter.
Ich bin ich durch Diabetes.

Eure Annika

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