Dosenerbsen in Moskau

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Dosenerbsen in Moskau

Im Frühjahr machte ich einen Russischkurs und lebte bei einer Gastfamilie. Ich war dabei, mir den Weg einzuprägen, den ich zwei Wochen lang täglich von der Wohnung meiner Gastfamilie bis zur Sprachschule zurücklegen musste. Meine Gastmutter Svetlana führte mich schnellen Schrittes durch Moskau. Ihre Warnung kam unvermittelt: „Hier solltest du besser nicht essen“, sagte sie mit Seitenblick auf die asiatischen Schnellimbissbuden in der Nähe der Metrostation Belorusskaja. Ich wolle mir doch keine Lebensmittelvergiftung einfangen, oder?

Vor allem wollte ich, Typ-1-Diabetikerin, während meines Bildungsurlaubs die russische Küche kennenlernen. Das Prädikat „pure Sowjetnostalgie“ meines Reiseführers lockte mich nach dem ersten Schultag in die Kantine „Stolowaja“ im berühmten Kaufhaus GUM am Roten Platz. Mein Vegetarierherz schlug höher beim Anblick der Glasvitrine: Rote-Beete-Salat, Auberginen-Rouladen, Ei mit Mayonnaise, grüner Spargel auf georgische Art (mit gehackten Walnüssen und Knoblauch). Von allem landeten Schälchen auf meinem Tablett, dazu ein Teller dampfende Buchweizengrütze. Die russischen „Tapas“ schmeckten köstlich, und mein Blutzucker zeigte an diesem Abend Bestwerte. Freudig berichtete ich Svetlana von meinem kulinarischen Abenteuer.

Überraschung am nächsten Morgen, die Russen beginnen den Tag herzhaft: Auf dem Frühstückstisch erwarteten mich eine Schüssel Buchweizengrütze und ein großer Gemüseteller mit Salatgurke und Tomate in Scheiben sowie Erbsen aus der Dose. 14 Tage lang sollte ich das täglich frühstücken, mit abnehmender Begeisterung. Aber ich benötigte auch zusehends niedrigere Insulindosen. „Das ist sehr gesund bei Diabetes“, erklärte mir Svetlana.

Ihr Wissen hatte sie sich in einem Pflegeberuf und der Ehe mit einem Typ-2-Diabetiker angeeignet. „Seitdem ich mit ihm verheiratet bin, haben sich seine Blutzuckerwerte enorm verbessert“, lautete das schlagende Argument für ihre Diät. Den Ehemann konnte ich leider nicht selbst befragen, weil er im Ausland lebt. Svetlana pries vor allem die fahlen Büchsenerbsen als Geheimwaffe gegen hohen Blutzucker an.

Glücklicherweise hatte ich nur Bed & Breakfast gebucht, so dass ich die Gourmetmetropole Moskau mittags und abends erkunden konnte. Dort kommt jetzt alles auf den Tisch, vor allem was es in 70 Jahren Sowjetherrschaft nicht gab. Besonders japanische und italienische Restaurants liegen im Trend, viele Lokale bieten eine wilde Mischung dieser beiden Länderküchen an. Mein Geschmack ist das nicht, süchtig machte mich stattdessen die georgische Küche mit Auberginen, Granatapfelkernen, Käse, Knoblauch und Walnüssen. Auch georgischer Wein, der inzwischen wieder auf dem traditionellen Hauptabnehmermarkt Russland angeboten werden darf, schmeckt hervorragend.

Wenn ich spät, sehr spät in die Plattenbauwohnung am Stadtrand zurückkehrte, steckte ich mir vorher schnell ein Kaugummi in den Mund. Svetlana durfte keinen Wein riechen. Denn Alkohol, egal ob hochprozentiger Wodka oder Wein, sei nichts für Diabetiker, hatte sie mir bei einem unserer vielen Gesundheitsgespräche versucht einzubläuen. Reines Gift sei auch Cola, egal ob zuckerfrei oder nicht. Eindringlich erzählten mir Svetlana und ihre Tochter eines Nachts im engen Flur, wie sie ein verstopftes Abflussrohr mit der braunen Brause gereinigt hätten. Seitdem kontrollierte ich meine Handtasche jedes Mal vor dem Betreten der Wohnung, damit mich keine leere Cola-Light-Flasche verriet.

Nie erfahren wird meine Gastfamilie auch, wie sehr ich frischen Espresso liebe. Svetlana hatte extra für mich Getreidekaffee zum Frühstück gekauft, dass sei die reinste Medizin für Diabetiker. Höflichkeitshalber nippte ich am ersten Morgen daran, danach trank ich wie die restliche Familie grünen Tee, immerhin auch nicht schädlich. Zu meinem Glück gab es in der Sprachschule einen riesigen Kaffeeautomaten mit vielen Tasten. Eine Klassenkameradin fragte mich am Ende meines Russischkurses: „Trinkst du eigentlich auch was anderes als Kaffee?“

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