Erfolgreich den Diabetes bewältigen

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Erfolgreich den Diabetes bewältigen

Diabetes stellt für alle Betroffenen eine lebenslange Herausforderung dar. Was zeichnet Menschen mit Diabetes aus, die sehr gut mit ihrer Erkrankung zurechtkommen? Eine wichtige Voraussetzung dafür ist Resilienz.Mit dem folgenden Test können Sie selbst einschätzen, wie gut Ihre Fähigkeiten sind, mit Schwierigkeiten im Leben zurechtzukommen.

Eigentlich sind die mit Diabetes verbundenen Anforderungen für fast alle davon betroffenen Menschen ähnlich. Trotzdem gehen verschiedene Personen gänzlich unterschiedlich damit um. Einige schütteln sich nach der Diagnose kurz und versuchen danach aktiv, den Diabetes in ihr Leben zu integrieren, und bemühen sich rasch um die bestmögliche Therapie. Andere hadern ein Leben lang mit dem Umstand, dass Diabetes ein ungebetener Gast in ihrem Leben ist, und können sich nicht damit abfinden, chronisch krank zu sein. Einige Menschen schaffen es gut, den Diabetes zu akzeptieren – bei anderen überwiegen auch lange Zeit nach der Diagnose negative Gefühle wie Wut, Ärger oder Ängstlichkeit hinsichtlich ihres Diabetes. Auch bezüglich des Umgangs mit Risiken des Diabetes unterscheiden sich Personen mit Diabetes. Für die einen stellt die Gefährdung durch Unter- und Überzuckerungen sowie Folgeerkrankungen einen Antrieb dar, den Stoffwechsel bestmöglich in den Griff zu bekommen. Andere Menschen mit Diabetes erleben dieses Risiko wie eine Art ständiges Damoklesschwert, eine andauernde Belastung.

Diabetes: Chance oder Schicksal?

Ich kenne viele Personen mit Diabetes, für die ihre Erkrankung eine Art Herausforderung und Ansporn darstellt, trotz – und manchmal sogar wegen des Diabetes – besondere Leistungen zu erbringen: erfolgreiche Schauspieler, Weltenbummler, die die ganze Welt bereisen, Bergsteiger, die den Mount Everest oder andere herausfordernde Berge bestiegen haben, Ultramarathon-Läufer, die tagelang auf den Beinen sind, oder auch Olympiasieger in den verschiedensten Disziplinen, die hart für ihren Erfolg trainiert haben. Für sie alle gilt, dass sie sich in der Regel gut um ihren Diabetes kümmern, um ihren persönlichen Traum, ihre Lebensziele trotz und mit Diabetes leben zu können. Manchmal hat man sogar das Gefühl, dass der Diabetes ihnen Flügel verleiht und sie antreibt, um sich und anderen Menschen zu zeigen, dass ungewöhnliche Leistungen auch mit Diabetes möglich sind.

Auf der anderen Seite habe ich in meiner Arbeit mit Menschen mit Diabetes auch genügend Personen erlebt, für die der Diabetes zeitlebens eine große Belastung darstellt. Sie können aufgrund des Diabetes nur sehr eingeschränkt ihre Lebensträume verwirklichen oder sind aufgrund von Folgeerkrankungen des Diabetes gesundheitlich sehr angeschlagen. Für einige Menschen ist diese Herausforderung auch zu groß, wie dies etwa der Schriftsteller Tilman Jens in seinem Buch “Die Freiheit zu leben und zu sterben” beschreibt und der sich nicht zuletzt wegen der Folgeerkrankungen des Diabetes das Leben nahm.

Ausmaß der Belastung durch Diabetes ist sehr verschieden

In einer Studie des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) sind wir der Frage nachgegangen, wie viele Menschen durch den Diabetes belastet sind oder eine Depression aufweisen. Überraschenderweise gab es kaum Unterschiede zwischen Menschen mit Typ-1-Diabetes (TD1) und Typ-2-Diabetes (T2D). Wie auf der Abbildung oben zu sehen ist, stellt Diabetes für rund ein Drittel der 2419 Befragten keine große Belastung dar. Für rund ein weiteres Drittel ist der Diabetes zwar in einem gewissen Ausmaß schon belastend, dies führt jedoch nicht zu einer gravierenden psychischen Beeinträchtigung. Anders verhält es sich für das letzte Drittel: Sie erleben den Diabetes als stark belastend und haben auch eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, eine Depression zu bekommen. Es stellt sich daher die Frage, was Menschen, die erfolgreich mit dem Diabetes umgehen und daran sogar persönlich wachsen, von den Menschen unterscheidet, die sich mit der Bewältigung des Diabetes sehr schwertun oder sogar daran zerbrechen.

Umgang mit Widrigkeiten des Lebens

Seit Langem beschäftigt sich die Forschung mit der Frage, wie Menschen es schaffen, trotz widriger Umstände Schwierigkeiten im Leben gut zu meistern und psychisch gesund zu bleiben. Eine der bekanntesten Studien dazu wurde von der Pionierin der Resilienz-Forschung Emmy Werner auf der Hawaii-Insel Kauai durchgeführt. Bereits in der Schwangerschaft und im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren untersuchte sie alle 698 Kinder, die dort 1955 geboren wurden. Werner und ihr Team stellten fest, dass rund 30 Prozent der Kinder unter besonders belastenden Bedingungen aufwuchsen. Dazu gehörten z. B. Komplikationen in der Schwangerschaft, Armut und Vernachlässigung. Von diesen 30 Prozent zeigten fast 70 Prozent einen eher ungünstigen Entwicklungs-Verlauf, wiesen vermehrt psychische Störungen auf und wurden auch häufig straffällig. Das war ein erwartbarer Befund. Allerdings entwickelte sich rund ein Drittel dieser “Hochrisiko-Kinder” zu psychisch gesunden, tatkräftigen und beruflich oft sehr erfolgreichen Erwachsenen. Bei der Frage, welche Faktoren für diese positive Entwicklung verantwortlich waren, kamen die Forscher zu interessanten Antworten. So wiesen die erfolgreichen Kinder fast alle eine enge emotionale Bindung zu einer wichtigen Bezugsperson auf. Das mussten nicht unbedingt die Eltern, sondern konnten z. B. auch die Großeltern sein. Die Kinder hatten außerdem ein unterstützendes soziales Umfeld und Vorbilder, wie Probleme effektiv gelöst werden können. Zudem zeichneten sie sich im Vergleich zu den anderen Kindern durch eine hohe soziale Kompetenz aus und zeigten ein aktives, positives Bewältigungsverhalten angesichts von Problemen und der Überzeugung, Probleme selbst lösen zu können – ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit war hoch.

Anscheinend verhinderten diese Faktoren, dass die ungünstigen Entwicklungsfaktoren bei diesen Kindern zu Problemen in der weiteren Entwicklung geführt haben. Deshalb bezeichnet man diese als Resilienz-, Schutz- oder Puffer-Faktoren gegenüber Stress und Belastungen.

Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit

Das Aufrechterhalten oder rasche Rückgewinnen der psychischen Gesundheit während widriger Lebensumstände oder danach wird als Resilienz bezeichnet. Der Begriff stammt ab vom lateinischen Wort “resilire”, was im Deutschen abprallen und zurückspringen bedeutet. Es wurde ursprünglich in der Physik und Materialkunde verwendet, um die Eigenschaften von Werkstoffen zu beschreiben, die wieder in die Ausgangsform zurückkehren, nachdem sie verformt wurden – wie sich ein Fußball bei einem Kopfball zwar verformt, danach aber schnell wieder die alte Form annimmt. Übertragen auf Menschen versteht man darunter die Fähigkeit, mit Herausforderungen im Leben klarzukommen und nach der Auseinandersetzung mit den Stress-Faktoren wieder das innere Gleichgewicht zu erlangen. Einige Forscher bezeichnen Resilienz auch als das “Immunsystem der Seele”.

Starke Wurzeln geben Halt fürs Leben

So wie einem Baum mit starken Wurzeln ein Sturm wenig anhaben kann, sind auch positive Erfahrungen in der Kindheit ein guter Schutz davor, bei größeren Problemen den Halt zu verlieren. Dazu zählen Erfahrungen aus der Kindheit wie, bedingungslos geliebt zu werden, sich durch die Eltern oder andere Personen sicher und nicht überfordert zu fühlen. Wichtig ist aber auch, frühzeitig zu erfahren, wie Erwachsene Probleme aktiv und positiv lösen und als Vorbilder dienen. In der Erziehung ist es wichtig, Kinder nicht in Watte zu packen, sondern ihnen die Chance zu geben, selbstständig Schwierigkeiten zu lösen. In unseren Kursen für Eltern mit Kindern mit Typ-1-Diabetes ermuntern wir diese daher, ihren Kindern frühzeitig die Möglichkeit zu geben, schrittweise ihren Diabetes selbstständig zu steuern, dabei aber auch im Hintergrund zur möglicherweise notwendigen Unterstützung präsent zu sein.

Stress, Krisen, Krankheiten und Schicksalsschläge gehören zum Leben

Der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky vergleicht das menschliche Leben mit einem Fluss, der manchmal in ruhigen Gewässern verläuft, manchmal aber auch Strömungen bis hin zu gefährlichen Stromschnellen aufweist. Im Sinne dieses Bildes werden wir im täglichen Leben mit kleinen, alltäglichen Widrigkeiten wie einem verlorenen Schlüssel, kritischen Ereignissen wie dem Tod eines geliebten Angehörigen, Krankheiten wie Diabetes oder gar Traumata wie einem schweren Verkehrsunfall konfrontiert. Dies alles gilt es, positiv zu bewältigen.

Bestimmt ist niemand begeistert, wenn er oder sie erfährt, dass man selbst oder das eigene Kind an Diabetes erkrankt ist. Wer will schon krank sein, eine Krise durchleben oder Schicksalsschläge verkraften müssen? So schwer es auch in der Situation zu ertragen ist, so wichtig ist es, zu akzeptieren, dass Stress, Krisen, aber auch Krankheiten zum Leben dazugehören. Es ist unsere Aufgabe als Menschen, diese in unser Leben zu integrieren und möglichst wenig zuzulassen, dass diese das eigene Leben negativ bestimmen. Wenn man diesen Gedanken zulässt und aktiv nach Lösungen sucht, wie einem das bestmöglich gelingt, schafft man es viel besser, sich mit kritischen Situationen auseinanderzusetzen, als wenn man das eigene Schicksal beklagt und sich dadurch immer wieder aufs Neue mit dem Problem oder den möglichen Ursachen für dessen Entstehen beschäftigt.

Es fällt manchmal ebenfalls schwer, einen weiteren Gedanken zu akzeptieren, aber er ist bekannt aus dem Bereich des Sports: “Nur durch Niederlagen wird man wirklich erfolgreich” oder “Richtige Champions haben am besten aus Niederschlägen, Fehlern gelernt”. Und tatsächlich entwickeln wir Menschen uns am besten im Umgang mit schwierigen Situationen weiter. Resilienz entsteht vor allem in der Auseinandersetzung mit belastenden Ereignissen.

Eine andere Perspektive einnehmen können

Eine wichtige Strategie, um auch Krisen, Krankheiten oder Fehler akzeptieren zu können, besteht darin, auch einmal eine andere Perspektive einzunehmen – es fällt nämlich sehr schwer, mit einer schwierigen Situation zurechtzukommen, wenn man das Ereignis nur negativ bewertet. In einer Untersuchung hatten wir Personen mit Diabetes gefragt, ob es für sie auch etwas Positives im Zusammenhang mit ihrem Diabetes gibt. Wir waren über die Fülle an Antworten überrascht. Dies sind einige dieser Antworten:

  • “Seit ich Diabetes habe, lebe ich bewusster und viel gesünder.”
  • “Ich bin oft sehr stolz auf mich, dass ich es immer besser hinbekomme, super Glukosewerte zu haben.”
  • “Mir wurde durch Diabetes erneut bewusst, wie toll es ist, dass ich mich zu 100 Prozent auf meinen Partner verlassen kann – eben in den guten wie in den schwierigen Zeiten.”
  • “Ich nehme mich viel wichtiger als vor dem Diabetes, das ist sehr gut und tut mir gut.”
  • “Ich denke mir manchmal, ich glaube, mich kann im Leben nichts mehr umhauen, da ich das mit meinem Diabetes bisher eigentlich mit Hilfe meines tollen Diabetesteams klasse hinbekommen habe.”

Anpassungsfähig sein

Ein Merkmal von Resilienz ist die Fähigkeit, mit unterschiedlich herausfordernden Situationen gleichermaßen zurechtzukommen. Das kann nicht mit immer derselben Strategie gelingen, sondern erfordert unterschiedliche Strategien für unterschiedliche Situationen. So ist es zwar eine kluge Strategie, den Diabetes möglichst gut im Griff zu haben, aber z. B. im Umgang mit den modernen Sensor-gesteuerten Insulinpumpen ist es erforderlich, die Kontrolle auch einmal abgeben zu können und dem Algorithmus die Steuerung der Glukosewerte zu überlassen. Vor dem Sport kann es durchaus in bestimmten Situationen sinnvoll sein, mit erhöhten Glukosewerten zu starten, während dies vor einem Essen in einem italienischen Restaurant eher nicht ratsam ist. Und manchmal ist es durchaus sinnvoll, anderen Personen vom eigenen Diabetes zu berichten, während es auch Situationen gibt, wo es eher nicht passend ist. “Flexible Problemlöse-Strategien” nennen Psychologen diese Fähigkeit, in unterschiedlichen Situationen mit unterschiedlichen Strategien Probleme zu lösen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für Resilienz.

Resilienz ist lernbar

Einige Grundbedingungen für Resilienz bekommen Menschen von ihren Eltern genetisch mitgegeben oder vorgelebt – daran kann man nichts mehr ändern. Aber die Forschung zeigt, dass resilientes Verhalten auch lernbar ist. Wie man das Immunsystem durch richtige Ernährung, Sport, ausreichend Schlaf und eventuell eine medikamentöse Stimulation verbessern kann, kann auch das “Immunsystem der Seele” – die Resilienz – verbessert werden. Aus der Forschung sind einige Faktoren bekannt, die nachweislich die Resilienz erhöhen.


Schwerpunkt Resilienz: Diabetes die Stirn bieten

Kontakt:
© zukunftsboard digitalisierung/Ludwig Niethammer
Prof. Dr. Bernhard Kulzer

Diabetes Zentrum Mergentheim
Forschungsinstitut Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM)
Johann-Hammer-Straße 24
97980 Bad Mergentheim
E-Mail: kulzer@fidam.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (8) Seite 18-23

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