“Es geht darum, Fett zu verlieren und Muskeln zu erhalten”

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“Es geht darum, Fett zu verlieren und Muskeln zu erhalten”

Sind Kohlenhydrate besser als ihr Ruf? Schädigt Eiweiß die Niere? Kann man allein durch Sport abnehmen? Im Interview erläutert der Ernährungsmediziner Dr. Hardy Walle aus Kirkel, Saarland, Ernährungs- und Bewegungstrends.

Im Rahmen des Kirchheim-Forum 2015 hat der Ernährungsmediziner und Vorstandsvorsitzender der Bodymed AG, Dr. Hardy Walle, Redakteurin Angela Monecke ein Interview für die Zeitschrift “Diabetes-Forum” gegeben, das auch für Menschen mit Diabetes interessant ist.

Übrigens: Noch mehr Artikel aus der Zeitschrift “Diabetes-Forum” finden alle, die beruflich mit Diabetes zu tun haben (medizinische Fachkreise mit Berufsnachweis), auf www.diabetologie-online.de.

Bei gesunder Ernährung und Bewegung geht es nicht um Gewichtsreduktion, sondern um den Stoffwechsel. Und eine Ernährungsumstellung ist effektiver als Bewegung. Das sagen Sie. Können Sie das auch beweisen?

Viele Menschen machen viel Sport, wenn sie abnehmen wollen. Das ist grundsätzlich gut. Aber allein durch Sport abzunehmen, ist für die meisten frustran. Es gibt spannende Meta-Analysen, mit denen Studien von über 20 000 Teilnehmern ausgewertet wurden. Nach einem Jahr kam heraus, dass am Schluss ein Kilo an Gewichtsabnahme übrigbleibt.

Das liegt einfach daran, dass sich adipöse Patienten nicht intensiv genug bewegen können. 500 Kilokalorien durch Bewegung verbrennen – das müsste das energetische Defizit sein, damit Sie vernünftig abnehmen. Das erreichten sie durch Sport aber nicht. Denn dafür müssten sie in einer Stunde 10 Kilometer laufen.

Die Leitlinien empfehlen u. a., sich mehr als 150 Minuten pro Woche mit einem Energieverbrauch von 1 200 bis 1 800 kcal/Woche zu bewegen. Jeder Bundesbürger läuft im Schnitt aber nur 940 Meter pro Tag. Für wie realistisch halten Sie das?

2,5 Stunden pro Woche sind richtig viel. Es geht aber nicht primär ums Abnehmen, sondern darum, Fett zu verlieren und Muskeln zu erhalten. Und je bewegungsärmer jemand ist, desto stärker muss er die Kohlenhydrate runterfahren. Kohlenhydrate muss man sich verdienen. Sie werden in letzter Zeit allerdings verteufelt, das ist absolut falsch. Man muss sie nur individuell anpassen. Wie viele Gramm jemand pro Tag essen soll, kann man nicht pauschal sagen, es kommt darauf an, wie viel er sich bewegt.

Was halten Sie generell von den Empfehlungen in den aktuellen Leitlinien – sind sie zeitgemäß?

Sie sind wieder zeitgemäß. Stufe 1 besagt: Reduktion von Fett oder Kohlenhydraten; die 2. Stufe geht noch weiter: Reduktion von Fett und Zucker, hier kommt der Begriff der Energiedichte ins Spiel. Stufe 3 betont: Mahlzeitenersatz bei Body-Mass-Index (BMI) ≥ 30. Stufe 4: Formula (BMI ≥ 40 kg/m²). Die jetzige Leitlinie vom April 2014 berücksichtigt alle Neuerungen, die es in den letzten Jahren gab.

Was sind für Sie die größten Irrtümer bei den Ernährungsempfehlungen?

Fett macht fett, Eier enthalten zu viel Cholesterin, nur die Vollwertkost ist gesund, je weniger Fleisch, desto besser, und allein durch Sport abnehmen. Ein Irrtum ist auch: Komplexe Kohlenhydrate sind gesund, einfache ungesund. Es muss heißen: Ballaststoffreiche Kohlenhydrate sind günstiger, weil sie langsamer verstoffwechselt werden.

Sie raten zu einer eiweißoptimierten Ernährung: 1 bis 1,2 Gramm pro Kilo Körpergewicht. Viele Typ-2-Diabetiker sind multimorbide, nehmen oft viele Tabletten ein, die die Niere schädigen können. Und dann noch so viel Eiweiß?

Diese Regel gilt für nierengesunde Menschen. Ein Diabetiker ohne Nephropathie kann 20 Prozent oder mehr Eiweiß am Tag zu sich nehmen. Bei einer Nephropathie muss der Bedarf angepasst werden auf 0,8 g oder weniger.
Wir wissen aber auch: Eiweiß schädigt nicht die Niere. Sonst wären alle Bodybuilder, die 3 oder 4 g Eiweiß pro Kilo Körpergewicht zu sich nehmen, an der Dialyse. Der beste Schutz einer geschädigten Niere ist eine gute Blutzucker- und Blutdruckeinstellung.

Heute weiß man, dass nicht jeder adipöse Mensch automatisch an Typ-2-Diabetes erkrankt. Welche Rolle spielt die Fettleber?

Prof. Dr. Hans-Ulrich Häring aus Tübingen hat den Satz geprägt: “Ohne Fettleber kein Diabetes.” Wir wissen, dass bis zu 90 Prozent der Diabetiker eine nicht-alkoholische Fettleber haben. Die Leber ist dann insulinresistent.

Wie sieht effektives Leberfasten aus?

Es gibt viele Arbeiten der letzten Jahre, die bestimmte Kriterien festlegen. Ein Faktor ist, Kalorien runterzufahren. Als Grundform gelten die Hafertage.
Das Problem ist hier die Compliance: Nach 3 bis 4 Tagen macht das kein Patient mehr mit. Wir haben daher ein Konzept entwickelt im Bereich der Formula (Diät, bei dem eine oder mehrere Mahlzeiten pro Tag z. B. durch einen Fertigdrink ersetzt werden: Anm. d. Redaktion), das die Grundprinzipien der Hafertage adaptiert, aber genügend Eiweiß liefert, damit sich der Muskel nicht abbaut.

Sie haben ja das Bodymed-Programm konzipiert, das auf eine eiweißoptimierte Ernährung setzt und überwiegend in Arztpraxen angeboten wird. Wie erfolgreich ist es, und wird es inzwischen von den Kassen bezahlt?

Es ist in Deutschland das derzeit effektivste Programm mit einem hohen Gewichtsverlust. Eine aktuelle Arbeit mit 700 Teilnehmern zeigt, dass sie durchschnittlich 10 Kilo verloren haben. Selbst nach 3 Jahren gibt es noch eine Gewichtsabnahme von 5 Prozent. Die Bezuschussung durch die Kassen ist ein Problem, sie sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet. Inzwischen sind wir aber fast flächendeckend in 600 Arztpraxen vertreten.

Was ist besser: schnelles oder langsames Abnehmen?

Es gibt keine Daten, dass nur langsames Abnehmen nachhaltig wirkt. Man denkt inzwischen eher umgekehrt: Je mehr und je schneller ein Patient abnimmt – wenn er überwiegend Fett abbaut – desto motivierter ist er für eine nachhaltige Lebensstil-Modifikation.

Was halten Sie von der bariatrischen Chirurgie/Adipositas-Chirurgie?

Bei stark übergewichtigen Patienten, die schon alles versucht haben, wie ein halbjähriges Abnahmeprogramm, halte ich das für sinnvoll.

Wie lassen sich Neuheiten der Ernährung in die Schulung integrieren, ohne die Patienten zu überfordern?

Neu heißt nicht automatisch besser. Orientierung bietet die Leitlinie. Man muss aber immer den einzelnen Patienten sehen und individuelle Entscheidungen treffen. Die beste Motivation ist ein verbesserter Blutzucker. Was das Stoffwechselwissen angeht, sind wir heute viel weiter als vor 20 Jahren. Stichwort Leber: Wir setzen an der Ursache an.

Quelle: Diabetes-Forum, 2015; 27 (3) Seite 17-18


Redaktion Diabetes
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