Gehirn, Zucker und Schlaganfall

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Gehirn, Zucker und Schlaganfall

Das Gehirn spielt bei der Regulation des Zuckerstoffwechsels eine besondere Rolle – und gehört zu den Organen, die durch den Diabetes gefährdet sind: Das Schlaganfallrisiko ist bei Menschen mit Diabetes deutlich erhöht.

Patienten-Bispiel
Frau Müller war schon zweimal das Glas aus der Hand gerutscht: einmal beim Frühstück, einmal beim Abendessen. Einmal bemerkte ihr Mann, dass für einige Sekunden der linke Mundwinkel “hing” und sie beim Kaffeetrinken sabberte. Sie wollte jedoch nicht weiter darauf eingehen.

Als jedoch ein Beinahe-Sturz in der folgenden Woche dazukam (sie stolperte mehrfach nach rechts, ohne eindeutig erkennbare Ursache!), war sie mit einer Untersuchung beim Neurologen in der Klinik einverstanden: Man fand (mit Computertomographie) mehrere kleine Blutungen im Gehirn und einen Blutdruck von 220/110 mmHg – mehrfach gemessen!

Das Schlaganfallrisiko ist bei Menschen mit Diabetes deutlich erhöht: Nach einer finnischen Studie mit über 50.000 Teilnehmern zeigten Männer mit Diabetes ein 5,2-fach, Frauen sogar ein 7,2-fach erhöhtes Schlaganfallrisiko im Vergleich zu Nichtdiabetkern. Auch eine große amerikanische Studie über Jahrzehnte zeigte: Das Risiko für Schlaganfall und Herzinfarkt war bereits im Vorstadium des Diabetes deutlich erhöht!

12 Prozent haben gestörte Durchblutung

Etwa 12 Prozent aller Diabetiker haben Durchblutungsstörungen des Gehirns; Gefäßveränderungen an der Halsschlagader oder der Schädelbasis sind die häufigste Ursache. Leichte Durchblutungsstörungen können so bereits früh in der Entwicklung zu Störungen im Gehirn führen – z. B. lässt das logische Denken nach, ebenso die Aufmerksamkeit und Organisationsfähigkeit.

Ist die Durchblutung in den Gehirnarterien höhergradig eingeschränkt (über 70 Prozent) oder ist ein Gerinnsel in einem Gefäß, kann es zu einer transitorischen ischämischen Attacke (TIA) kommen, einer vorübergehenden Durchblutungsstörung; die Symptome bestehen hierbei kürzer als 24 Stunden.

Dieser kleine Schlaganfall ist nicht selten Vorbote eines großen Schlaganfalls mit möglichen Symptomen:

  • vorübergehende Lähmungen eines Armes oder Schwäche im Arm,
  • hängender Mundwinkel.
  • Sehprobleme,
  • Stolpern, Fallneigung nach einer Seite (Drop attacks),
  • Gefühlsstörungen an einer Hand, im Gesicht etc.

Diagnose des Schlaganfalls

Die wichtigste Rolle bei der Diagnose von Veränderungen der Halsschlagader (wie Verkalkungen) bzw. der Zwischen-Wirbel-Arterie spielen Ultraschalltechniken (Doppler/Duplex, Farbduplex): Sie sind schnell einsetzbar und, weil ohne schädliche Strahlen, beliebig wiederholbar – und ohne die Belastung durch Kontrastmittel bei der Gefäßdarstellung; dies ist wichtig bei Diabetes und Nierenschaden.

Die Farb-Doppler-Sonographie (auch Duplex-Sonographie) der Halsschlagadern erlaubt die Darstellung einer Verkalkung oder eines Gerinnsels (Thrombus) – ebenso die Abschätzung, wie gefährlich eine solche Veränderung und wie eng das Gefäß ist (Stenosegrad!). Schon Jahre vorher kann man an krankhaften Wandverdickungen die weitere Entwicklung abschätzen! Mit Spezialsonden kann ein Arzt, meist der Neurologe bzw. der Gefäßspezialist, sogar einen Teil der Blutgefäße im Gehirn darstellen – ohne Kontrastmittel!

Spezielle Untersuchungstechniken (z. B. Angio-CT/Kernspin) erlauben die Darstellung des gesamten Gehirns mit seiner Durchblutung (NMR-Magnetresonanz- bzw. Computertomographie). Hiermit lässt sich auch am besten die Unterscheidung treffen:

  • Blutung im Gehirn (z. B. nach einer Blutdruckkrise!),
  • Verstopfung einer Arterie (Ischämie) durch ein Gerinnsel (z. B. bei Vorhofflimmern des Herzens).

Die Vorsorge

Wie können Sie vorsorgen, damit ein Schlaganfall unwahrscheinlich wird? Durch

  • optimale Blutzuckereinstellung,
  • gute Blutdruckeinstellung,
  • Einstellen des Rauchens,
  • Normalisierung des Fettstoffwechsels (durch Ernährung und/oder fettsenkende Medikamente),
  • regelmäßige Bewegung und Entspannung (z. B. Joggen, Walken etc., autogenes Training, Qigong etc.),
  • evtl. Blutplättchenhemmer (Thrombozytenaggregationshemmer wie 100 mg ASS oder Clopidogrel täglich).

Gerade hinsichtlich des Gehirns sollte der Blutzucker so eingestellt sein, dass Unterzuckerungen möglichst vermieden werden. Denn auch hier nimmt das Gehirn eine Sonderstellung ein: Es “lebt” von Sauerstoff und Zucker! Das Gehirn verbraucht, obwohl es nur 2 Prozent der Gesamtkörpermasse ausmacht, bis zu 50 Prozent des aufgenommenen Zuckers.


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Gehirn, Hypoglykämie und Herzinfarkt

Bei einer Hypoglykämie wird durch die zuckersenkenden Medikamente (wie Insulin, Sulfonylharnstoffe) der Zucker zwar noch ins Muskel- und Fettgewebe geschleust – dem Gehirn fehlt er aber, da im zirkulierenden Blut nicht mehr genug vorhanden ist. Dies führt über die Aktivierung des Stress-Systems zur Bereitstellung von Zucker aus Leber, Niere und Muskeln, damit möglichst viel davon ins Gehirn gelangen kann – Nebenwirkungen sind ein schneller Puls (Tachykardie) und innere Unruhe; das Herz schlägt viel schneller als normal!

Sind aber die Blutgefäße am Herzen auch schon verengt (Verkalkungen), kann dies zu einer Herzenge (Angina pectoris) bis hin zum Herzinfarkt führen! Deshalb: Vor allem wer schon etwas älter ist und wer bereits Gefäßschäden hat, sollte Unterzuckerungen weitgehend vermeiden. Also: den Blutzuckerlangzeitwert HbA1c über oder bei 7 Prozent halten, nicht darunter – dies zeigen große Studien.

Durchblutungsstörung des Gehirns: Hinweise bzw. Warnsignale
  • Probleme beim Sprechen, verwaschene Sprache – manchmal nur für wenige Sekunden bzw. Minuten
  • Sehstörungen bzw. Sehverlust (vorübergehende Erblindung) – oft auf einem (!) Auge
  • Schwäche oder Taubheit in Armen, Beinen oder Gesicht – meist einseitig
  • herabhängender Mundwinkel auf einer Seite
  • unklarer Schwindel, Fallneigung (“Drop attacks”) zu einer Seite (Stolpern?!), Gangunsicherheit
  • plötzlich auftretende Kopfschmerzen (bis dahin nicht bekannt) – ohne erkennbaren Grund

Übergewicht, Insulinresistenz: Immer weniger Zucker gelangt ins Hirn

Mit zunehmendem Gewicht eines Typ-2-Diabetikers nimmt auch dessen Unempfindlichkeit gegenüber Insulin zu, die Muskel- und Fettzellen werden insulinresistent. Aber was ist mit dem Gehirn? Die Insulinspiegel sind zwar sowohl im Körper als auch im Gehirn erhöht, aber es wird immer weniger Zucker in die Gehirnzellen geschleust. Die Hirnzellen hungern, obwohl der Zucker quasi vor ihrer Haustür liegt – aber er kann nicht hinein.

Es gibt darüber hinaus Hinweise, dass die erhöhten Insulinkonzentrationen im Gehirn den Abbau anderer, schädlicher Eiweiße behindern – eine Förderung der Alzheimer-Demenz könnte sich dadurch teilweise erklären lassen. Die Reduktion der Insulinresistenz erscheint auch aus dieser Perspektive dringend geboten.

Bei Insulin-Unempfindlichkeit fehlt das Signal für “satt”

Im Übrigen fördert Insulin nicht nur die Aufnahme von Zucker in die Zellen (Muskel, Fett etc.), es gibt auch das wichtige Signal für den Zustand satt! nach dem Essen. Wenn das Gehirn jedoch resistent wird, fehlt dieses Signal – eine weitere Kalorienzufuhr ist häufig die Folge (das Gewicht steigt weiter!). In diesem Zusammenhang spielen auch die Bauchfett-Hormone wie Leptin, Adiponektin etc. eine bedeutende Rolle. Hohe Fettsäuren im Blut nach dem Essen haben darüber hinaus eine ähnlich negative Auswirkung.

Die Gehirnforschung geht davon aus, dass das Gehirn seine eigene Versorgung mit Zucker immer vorrangig regelt.Zuerst ich, dann erst die anderen Organe wie Leber, Niere, Herz etc. (das “eigensüchtige” Gehirn). Das Gehirn nimmt sich nicht nur passiv etwas aus dem strömenden Blut – bei Stress fordert es mehr Zucker an: Dieser wird dann nicht in Leber, Niere etc. aufgenommen – sondern er wird an diesen Organen vorbei ins Gehirn geschleust (Brain-Pull-Mechanismus).

Nach aktuellen Forschungen sind Typ-2-Diabetes und krankhaftes Übergewicht (Adipositas) quasi auf einen Stau dieses Mechanismus zurückzuführen. Weil der Zucker nicht im Gehirn ankommt – er wird in die Leber eingeschleust oder als Bauchfett abgelagert –, fordert dieses immer mehr Zucker an, der Mensch isst so immer mehr und nimmt zu – ein Teufelskreis!

Zusammenfassung

Gehirn und Diabetes scheinen eng miteinander verwoben, was die Entwicklung von Folgeerkrankungen und die Wahl der richtigen Therapie angeht. Das Gehirn ist essentiell auf die Zufuhr von Zucker (Glukose) angewiesen – also ist hier wohl auch der Schlüssel für krankhafte Entwicklungen zu suchen.

Die Durchblutung bzw. Durchblutungsstörungen sind der zweite wichtige Faktor, der das Schicksal des Gehirns und seines Trägers bestimmt. Deshalb sind Förderung der Durchblutung und Vermeidung von Unterzuckerungen essentielle Bestandteile einer modernen und somit guten Diabetestherapie.


von Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Internist/Angiologe/Diabetologe, Chefarzt Deegenbergklinik sowie Chefarzt Diabetologie Klinik Saale (DRV-Bund)

Kontakt:
Deegenbergklinik, Burgstraße 21, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71/8 21-0
sowie Klinik Saale, Pfaffstraße 10, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71/8 5-01

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2014; 63 (7) Seite 34-37

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