Gicht: Der Kobold an der Großzehe

6 Minuten

© JEAN-LOUP CHARMET/SCIENCE PHOTO LIBRARY / Agentur Focus
Gicht: Der Kobold an der Großzehe

In den letzten Jahrzehnten ist die Anzahl der Erkrankungen an Gicht weltweit extrem gestiegen: Bis zu ein Fünftel der Menschen sind betroffen. Das dürfte vor allem an der Zunahme des Übergewichts und des “Metabolischen Syndroms” liegen – und an unserem mehr und mehr passiven statt aktiven Lebensstil! Wir sagen, was zu tun ist.

Der Fall

Peter M. ist es peinlich: Mitten aus der Party seines Freundes musste er wegen plötzlich stärkster Schmerzen im linken Fuß den Raum verlassen. In einem Nachbarraum zog er vorsichtig den Strumpf aus und sah, dass sein Großzehengrundgelenk massiv geschwollen und gerötet war – er konnte kaum auftreten.

Vorausgegangen war nichts Besonderes: Er hatte einige Biere getrunken und eine krosse Schweinshaxe genossen.Sein Hausarzt hatte ihn allerdings schon länger vor einem möglichen Gichtanfall gewarnt und ihm wegen erhöhter Harnsäurewerte (8,9 mg/dl, 534 μmol/l) zu einer Reduktion seines Gewichts von 101 kg und zu Vorsicht mit Alkohol geraten.

Wir bewegen uns im Alltag immer weniger. Dieser “passive Lebensstil” ist bei vielen Menschen verbunden mit vermehrtem Konsum “purinreicher Lebensmittel”: Fleisch, Alkohol und fruktosehaltige Softdrinks. Die Gicht kommt mit zunehmendem Alter auch häufiger vor; das scheint zusammenzuhängen mit dem häufigeren Auftreten einer Nierensinsuffizienz (Ausscheidungsstörung der Niere), in zunehmendem Alter aber auch mit der Verordnung oder der Einnahme gichtfördernder Medikamente – Entwässerungsmittel (Diuretika) oder Aspirin (Acetylsalicylsäure).

Die Harnsäure entsteht beim Abbau von Purinen, wobei Purine zu fast 80 Prozent über die Nieren ausgeschieden werden – und nur zu einem geringen Teil über den Magen-Darm-Trakt. Quelle für die Purine sind Nahrungsmittel – oder sie entstehen beim Abbau von Zellen im eigenen Körper (z. B. bei bösartigen Bluterkrankungen), aber auch z. B. bei einer zytostatischen Therapie im Rahmen einer Krebserkrankung. Man spricht von einer Hyperurikämie, wenn im Blut dauerhaft Harnsäurewerte von etwa 6,5 mg/dl (390 μmol/l) und höher vorliegen.

Sind die Harnsäurewerte im Blut ständig erhöht, und sie überschreiten irgendwann einen gewissen Sättigungspunkt, steigt die Neigung zur Auskristallisation im Gewebe. Erhöhte Harnsäure im Blut ist also immer Folge entweder einer vermehrten Bildung oder einer verminderten Ausscheidung von Harnsäure über den Urin.

Metabolisches Syndrom (Wohlstandssyndrom)

Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass bereits eine Erhöhung der Harnsäure im Blut auch ohne Gelenkbeschwerden ein unabhängiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist – aber auch für eine erhöhte Sterblichkeit durch Herzinfarkt und Schlaganfall. Bedenklich ist vor allem, dass erhöhte Harnsäurewerte im Blut vor allem im Rahmen des Metabolischen Syndroms vorkommen, von dem heute weltweit immer mehr Menschen betroffen sind, die “sich etwas leisten können”.

In 80 Prozent der Fälle sind Gichtpatienten Männer. Meist tritt die Erkrankung zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr auf, selten in jüngeren Jahren, bei Frauen in der Regel nicht vor Eintreten der Wechseljahre. Bei den meisten Patienten findet sich in der Krankengeschichte der Hinweis, dass auch Familienangehörige davon betroffen waren.

Wenn man von typischen Beschwerden beim Gichtanfall spricht, denkt man meistens an eine extrem schmerzhafte Schwellung mit Rötung des Zehengrundgelenkes (Podagra) – der Betroffene kann kaum mehr auftreten.

Die typischen Beschwerden

Die Beschwerden können jedoch gerade mit zunehmendem Alter auch andere größere Gelenke betreffen wie das Schultergelenk, die Handgelenke, die Fingergelenke oder sogar die Hüfte, weshalb im Einzelfall ein Gichtanfall mit anderen rheumatoiden Erkrankungen verwechselt werden kann. Eine Klärung ist meistens nur durch entsprechende Röntgenaufnahmen bzw. durch die Punktion des entsprechenden Gelenks mit Nachweis von Harnsäurekristallen möglich.

Die Harnsäure kann sich als Uratkristalle ablagern in Gelenken, Schleimbeuteln und Sehnen der Haut, im Ohrknorpel – und auch in der Niere selbst und dort zu Nierensteinen und chronischen Nierenschäden führen. Je länger die Harnsäure im Blut erhöht ist, desto eher kommt es irgendwann zu einem Gichtanfall, aber eben nicht immer!

Vorsicht vor zu viel Colchicin im Gicht-Anfall …

… vor allem vor zu vielen Tropfen – Einnahme nur in Absprache mit dem Arzt!

Im Akutanfall anfangs 1 mg Colchicin (2 Tabl. à 0,5 mg oder 2 ml Lösung als Tropfen; maximal 8 mg pro Tag! Eine Überdosierung kann lebensgefährlich sein. Beschwerden sind:

  • Übelkeit, Erbrechen,
  • Bauchschmerzen,
  • Durchfall,
  • Blutsalzverschiebungen.

In diesem Fall sofort den Arzt benachrichtigen!

Die Auslöser der Gicht

Neben dem übermäßigen Alkoholgenuss (z. B. Bier enthält reichlich Purine) und einem üppigen Essen können auch extremes Fasten oder eine extrem einseitige Ernährung eine Gicht begünstigen. Aber auch der Diabetes selbst sowie körperlicher Stress (z. B. nach Verletzungen), ungewöhnliche Anstrengungen oder Infektionen können einen Gichtanfall auslösen.

Nicht immer tritt ein Gichtanfall mit entsprechenden Vorboten auf – im Gegenteil, manchmal aus völligem Wohlbefinden, meist nachts oder in den frühen Morgenstunden. Das betroffene Gelenk ist in der Regel extrem berührungsempfindlich, gerötet, geschwollen, heiß und bewegungsschmerzhaft. Meist ist die Schwellung auch von teigiger Konsistenz. Nicht selten ist ein Gichtanfall von Fieber begleitet. Dieser akute Anfall kann mehrere Stunden oder auch Tage anhalten, wenn keine entsprechende Therapie eingeleitet wird.

Ohne entsprechende Medikation und ein dauerhaftes Senken der Harnsäure und entsprechendes Ernährungsverhalten können die akuten Attacken immer häufiger und in immer kürzeren Abständen auftreten und so auch die Gelenke schließlich zerstören.

Ursachen der “Hyperurikämie”
  • Im Essen sind zu viele Purine.
  • Der Körper produziert zu viel Harnsäure, da z. B. zu viele Zellen zerfallen.
  • Nieren scheiden zu wenig Harnsäure aus.
  • In der Regel sind diese Fälle kombiniert mit einer vererbten Anlage:

    • Die primäre Gicht: vererbte Störung des Purinstoffwechsels. Es wird fast immer zu wenig Harnsäure ausgeschieden, als notwendig wäre. Nur sehr selten liegt ein Gendefekt vor (Enzymdefekt), weshalb der Körper dann zu viel Harnsäure herstellt.
    • Die sekundäre Gicht: Hierbei werden erhöhte Harnsäurespiegel im Blut (Hyperurikämie) durch andere Erkrankungen oder auch Störungen des Stoffwechsels verursacht (z. B. im Rahmen einer bösartigen Bluterkrankung oder von Nierenerkrankungen, bei Einnahme bestimmter Medikamente)

Die Diagnose der Gicht

Eine Blutuntersuchung mit erhöhten Harnsäurewerten bringt meist den Nachweis. Im akuten Anfall kann es jedoch sein, dass die Blutwerte selbst völlig unauffällig oder sogar niedrig sind, da die gesamte Harnsäure in den Gelenken abgelagert wurde. Merke: Eine niedrige Harnsäure sagt nicht immer, dass es sich nicht um eine Gicht handelt.

Im akuten Gichtanfall finden sich oft zusätzliche Entzündungswerte im Blut. In völlig unklaren Fällen hilft gelegentlich eine Gelenkpunktion mit Untersuchung der Gelenkflüssigkeit, dem mikroskopischen Nachweis von Harnsäurekristallen. Bei fortgeschrittener Gicht mit Gelenkveränderung sind typische Veränderungen im Röntgenbild zu sehen – eine aktuelle Methode ist auch der Gelenkultraschall. In Zweifelsfällen kann das Durchführen einer speziellen Computertomographie (Dual-Energy-CT, DECT) die Diagnose bestätigen.

Vermeiden Sie purinhaltige Nahrungsmittel
  • Innereien
  • Fleisch und Wurst
  • Hülsenfrüchte (Erbsen, Linsen, weiße Bohnen)
  • Hefe
  • Schalen- und Krustentiere
  • Spinat und Rosenkohl
  • alkoholische Getränke, vor allem Bier

Bevorzugen Sie

  • Milch und Milchprodukte
  • Eier
  • Obst
  • Gemüse (Ausnahmen oben) und Salate
  • Kartoffeln

Grundsätzlich gilt

  • viel trinken (2 – 3 l täglich): Leitungswasser, Mineralwasser, Tee und Kaffee
  • auf eine fettarme Zubereitung achten
  • Extreme vermeiden (üppiges Essen, Hungern oder längere Durstphasen!)

Die Therapie der Gicht

Das Hauptziel in der Akutsituation ist es, dem Betroffenen die Schmerzen zu nehmen, die Schwellung des Gelenks zu reduzieren und weitere Gichtanfälle zu verhindern, um so einer chronischen Gicht mit Ablagerungen in den Gelenken zuvorzukommen. Harnsäuresenkende Medikamente können die Bildung der Harnsäure hemmen (Urikostatika wie Allopurinol, Febuxostat) oder die Ausscheidung der Harnsäure fördern (Urikosurika wie Benzbromaron, Probenecid).

Im Gegensatz zu bisherigen Empfehlungen, während eines akuten Gichtanfalles nicht mit einer harnsäuresenkenden Therapie zu beginnen, zeigen aktuelle Studien, dass dies trotzdem sinnvoll und angebracht ist. Um den Patienten akut die Schmerzen zu nehmen und um einen weiteren Anfall zu vermeiden, hat sich Colchicin (Gift der Herbstzeitlosen oder Colchicum) bewährtin einer niedrigen Dosis von 0,5 bis 1 mg pro Tag, wenn erforderlich auch über mehrere Monate.

Wenn Colchicin nicht vertragen wird oder nicht gegeben werden sollte, kommt auch Kortison oder ein nichtsteroidales Antirheumatikum (wie Voltaren, Ibuprofen etc.) kurzfristig in Frage. Unterstützend sollte das Gelenk gekühlt und hochgelagert werden. Bei Ruhigstellung sollte unbedingt einer Thrombose vorgebeugt werden. Langfristig erstrebenswert ist, die Ernährung umzustellen – am besten besucht man parallel eine Schulung –, das Gewicht zu reduzieren, purinhaltige Nahrungsmittel sowie grundsätzlich zu viel Alkohol zu vermeiden.

Die Harnsäure sollte langfristig und andauernd gesenkt werden – durch Allopurinol oder mit einem neuen Medikament, das auch bei einer leichten Nierenschwäche gegeben werden kann: Adenuric (Febuxostat). Febuxostat erfordert keine Dosisanpassung bei leichter bis mittelgradiger Nierenschwäche. Nebenwirkungen sind seltener als bei Allopurinol, können aber auch auftreten.

Maßnahmen bei einem Gichtanfall
  • Gelenk hochlagern und kühlen, z. B. mit Umschlägen
  • ggf. Bettruhe – dann aber einer Thrombose vorbeugen
  • “schwere” Bettdecke vom betroffenen Gelenk fernhalten
  • leichte purinarme Kost, viel Flüssigkeit
  • ggf. Schmerzmittel und Medikamente, die die Harnsäure senken bzw. ausscheiden helfen

Die Zusammenfassung

Die Erhöhung der Harnsäure im Blut, verbunden mit Gichtanfällen, hat extrem zugenommen. Wegen der akuten Schmerzen und wegen der chronischen Gelenk-/Nierenschäden und Schäden an anderen Organen lohnt es sich, die Hyperurikämie im Auge zu behalten und ggf. durch Gewichtsreduktion und Ernährungsumstellung, kombiniert mit Medikamenten, zu reduzieren.

Starten Sie nicht erst mit der Therapie, wenn Folgeschäden vorhanden sind. Neuere Medikamente, die auch bei einer Nierenschwäche eingesetzt werden können, können dabei helfen.


Autor:

Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Internist, Angiologe, Diabetologe und Sozialmediziner
Lehrbeauftragter der Universität Würzburg
Chefarzt Deegenbergklinik
Burgstraße 21, 97688 Bad Kissingen

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (4) Seite 28-31

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