Gicht – „Feuer“ im großen Zeh

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Gicht – „Feuer“ im großen Zeh

Im Mittelalter war die Gicht einmal die „Krankheit der ­Könige“. Warum? Nur die Könige konnten sich Fleisch in größeren Mengen leisten. Heute ist die Gicht eine Volkskrankheit, vor allem durch eine opulente Ernährungsweise bedingt – die auch zu Übergewicht führt.

Der Fall


Johannes M. (67 Jahre alt und Typ-2-Diabetiker, Gewicht 120 kg) hat seit etwa 10 Jahren immer mal wieder plötzliche Schmerzen im rechten Knie, verbunden mit einer Rötung, und auch leichtes Fieber. Bisher war man von einer Knie-­Arthrose (Gonarthrose) ausgegangen. Übliche Schmerzmittel hatten meist nur eine geringe Besserung gebracht. Nachdem er an seinem 67. Geburtstag nachts plötzlich nicht mehr sein rechtes Knie wegen massiver Schmerzen bewegen konnte, suchte er am folgenden Morgen seinen Hausarzt auf. Außer einem üppigen Buffet mit reichlich Bier zusammen mit seinen Freunden war nichts Besonderes vorgefallen.
Nachdem bisher im Röntgenbild nichts Besonderes zu sehen war, punktierte sein betreuender Orthopäde schließlich sein geschwollenes Knie: Harnsäurekristalle – welch eine Überraschung! An eine Gicht hatte er bisher nicht gedacht!

Es sind vor allem Fleisch, Alkohol und Fruktose-haltige Softdrinks, die in den USA bereits dazu geführt haben, dass etwa 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine nicht durch Alkoholkonsum bedingte Fettleber haben – was eine Gicht vorprogrammiert. In den westlichen Ländern sind 1 bis 2 Prozent der Erwachsenen von Gicht betroffen.

Formen der Gicht


primäre (erbliche) Hyperurikämie
  • 99 Prozent durch eine reduzierte ­Ausscheidung über die Niere
  • 1 Prozent Enzymdefekt

sekundäre Hyperurikämie

  • gesteigerte Bildung
  • erhöhter Zell-Abbau (z. B. durch Chemo­therapie wegen einer Krebserkrankung)
  • reduzierte Ausscheidung über die Nieren (bei Nierenschwäche/-insuffizienz)
  • Bei Männern tritt sie etwa viermal so häufig auf wie bei Frauen, die bis zur Menopause in der Regel durch das vorhandene Hormon Östrogen geschützt sind. Deshalb kommt es bei ihnen in der Regel nicht vor Eintreten der Wechseljahre erstmalig zu einem Gichtanfall – oft an den Großzehen. Die Beschwerden können, gerade mit zunehmendem Alter, auch andere Gelenke betreffen, wie das Schultergelenk, die Handgelenke, die Fingergelenke, die Knie oder die Hüfte.

    Warum kommt es zu Gichtanfällen?

    Sind die Harnsäurewerte im Blut ständig erhöht und überschreiten irgendwann einen Sättigungspunkt, kann die Harnsäure im Gewebe auskristallisieren. Dass dieses überhaupt geschieht, liegt daran, dass beim Menschen die Harnsäure nicht zu dem viel besser wasserlöslichen Allantoin abgebaut werden kann. Dazu ist ein bestimmtes Enzym, die Urikase, erforderlich. Bei anderen Säugetieren als den Menschen geht der Abbau der Harnsäure meistens bis zum Allantoin, sodass diese keine Gicht bekommen können.

    Gicht ist ein Risikofaktor für die Gefäße

    Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass bereits eine erhöhte Harnsäure-Konzentra­tion im Blut auch ohne Gelenkbeschwerden ein Risiko­faktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein kann, auch für eine erhöhte Sterblichkeit durch Herzinfarkt und Schlaganfall. Ebenso belegen Studien, dass durch einen Anstieg der Harnsäure im Blut um 1 mg/dl das Risiko, einen Diabetes mellitus Typ 2 zu entwickeln, um etwa 20 Prozent steigt.

    Typische Symptome


    • in 50 Prozent der Fälle plötzliche Schmerzen am Großzehen-Grundgelenk (Podagra) oft aus heiterem Himmel, verbunden mit einer Rötung und Überwärmung; bei Frauen häufiger die Handgelenke betroffen (Chiragra) oder die Fingergrund- oder Mittelhandgelenke oder eine Schleimbeutelentzündung am Ellenbogen (Bursitis olecrani)
    • das betroffene Gelenk ist in der Regel extrem berührungsempfindlich, gerötet, teigig geschwollen, heiß und bewegungsschmerzhaft
    • Gefühl, als ob kleine zerbröselte Scherbenstücke im Gelenk jede Bewegung das Gelenk zum Knirschen bringen würden
    • meist beeinträchtigte Ausscheidungsfunktion der Nieren
    • anhaltende Erhöhung der Harnsäure im Blut (Hyperurikämie)
    • oft erhöhte Entzündungswerte im Blut
    • l

    • eichtes Fieber

    Warum kommt es zum Anstieg der ­Harnsäure-Konzentration?

    Die Harnsäure entsteht beim Abbau von Purinen aus Lebensmitteln (siehe Tabelle nächste Seite). Purine entstehen auch beim Abbau von Zellen im eigenen Körper, z. B. bei bösartigen Blutkrankheiten oder einer Chemotherapie im Rahmen einer Krebserkrankung. Dass die Gicht mit zunehmendem Alter häufiger vorkommt, scheint damit zusammenzuhängen, dass die Nierenfunktion im Alter nachlässt. Denn Purine werden zu etwa 80 Prozent über die Nieren und nur zu einem geringen Teil über den Magen-Darm-Trakt ausgeschieden. Eine erhöhte Harnsäure im Blut (Hyper­urik­ämie) ist also Folge entweder einer vermehrten Bildung durch verstärkten Purin-­Abbau oder einer verminderten Ausscheidung von Harnsäure durch die Nieren über den Urin. In seltenen Fällen kann auch ein Enzym, das am Purin-Auf- und Abbau beteiligt ist, defekt sein.

    Grundsätzlich kommen also zwei Ursachen in ­Betracht:

    • Es muss mehr Purin abgebaut werden, sodass mehr Harnsäure entsteht:
      • durch einen hohen Purin-Anteil in der Ernährung: viel Fleisch, viele Innereien wie Leber und Kalbsbries,
      • im Rahmen einer Chemotherapie wegen einer Krebserkrankung.
    • Die Ausscheidung der Harnsäure über die Nieren ist reduziert.

    Folgende Erkrankungen treten häufig gemeinsam mit einer Gicht auf:

    Was löst einen Gichtanfall aus?

    Übermäßiger Alkoholgenuss – Bier zum Beispiel enthält reichlich Purine – und ein üppiges Essen können eine Gicht begünstigen. Aber auch extremes Fasten oder eine extrem einseitige Ernährung stellen ein Risiko dar. Nicht immer tritt ein Gichtanfall mit entsprechenden Vorboten auf. Manchmal kommt er aus völligem Wohlbefinden. Nicht selten ist ein Gichtanfall von Fieber begleitet. Dieser akute Anfall kann mehrere Stunden oder auch Tage anhalten, wenn keine entsprechende Therapie eingeleitet wird.

    Gicht ist eine chronische Krankheit

    Eine akute Gelenkentzündung (Arthritis) bei einem Gichtanfall erreicht ohne Therapie nach 2 bis 3 Tagen ihren Höhepunkt und klingt nach etwa 2 Wochen vollständig ab. Typischerweise treten wiederholt Gichtanfälle auch unter Therapie auf, denn die Harnsäure-Kristalle bleiben in den Geweben oft über Jahre erhalten. In Geweben, die sich nur langsam erneuern, können Kristall-Ansammlungen (Tophi) sichtbar sein. Zu solchen Geweben gehören Bindegewebe, Knorpel usw., aus denen z. B. die Ohrmuschel besteht. Bei der chronischen Gicht findet man überall im Körper verteilt Harnsäurekristalle.

    Gicht – oder keine Gicht?

    Um die Diagnose Gicht zu sichern, muss man letztlich das betroffene Gelenk punktieren, um so eine Gewebeprobe zu bekommen. Denn im akuten Anfall findet man häufig normale Harnsäure-Konzentrationen im Blut. Auf Röntgenbildern sind Veränderungen oft erst im Verlauf nachweisbar. Typische Tophi lassen sich mit einem speziellen Computer­tomogramm (CT), dem „Dual-Source-CT“, nachweisen.

    Man muss unterscheiden zwischen der Gicht und anderen Kristall-Arthropathien (Gelenkveränderungen). Es gibt z. B. die Pseudo-Gicht (Chondrokalzinose). Hierbei sind Sehnen- und Knorpelveränderungen typisch, die zu Verkalkungen im Gelenk führen. Auch eine Arthritis durch eine Blutvergiftung, eine aktivierte Arthritis oder ein akuter Schub einer Arthritis im Rahmen einer Psoriasis sind denkbar.

    Allgemeine Maßnahmen bei einem Gichtanfall


    • das betroffene Gelenk hochlagern und kühlen, z. B. mit Umschlägen
    • ggf. Bettruhe, dann evtl. Thromboseprophylaxe
    • die „schwere“ Bettdecke von dem betroffenen Gelenk fernhalten
    • leichte purinarme Kost, viel Flüssigkeit
    • ggf. Schmerzmittel und Medikamente, die die Harnsäure senken bzw. helfen, sie auszuscheiden

    Therapie akut und auf Dauer

    Im akuten Anfall gibt man üblicherweise nicht steroidale Antirheumatika wie Diclofenac (Handelsname z. B. Voltaren), Ibuprofen oder einen Wirkstoff aus der Gruppe der ­Coxibe (z. B. Arcoxia).

    Die effektivste Therapie ist bei 80 Prozent aller Fälle Colchicin, das Gift der Herbstzeitlosen, das als Medikament verfügbar ist. Es muss mehrfach in bestimmten Abständen gegeben werden. Treten Übelkeit und Durchfall auf, muss das Medikament abgesetzt werden! Sobald sich die Beschwerden des Gichtanfalls bessern, erfolgt eine Dosisreduktion am zweiten Tag. Eine Dauertherapie mit Colchicin ist nach Absprache mit dem behandelnden Arzt manchmal bis zu 6 Monate möglich bzw. notwendig. Dann müssen regelmäßige Blutkontrollen der Leberwerte und des Blutbilds erfolgen, denn es kann zu einer Reduktion der weißen Blutkörperchen (Leukopenie) kommen.

    Ernährung kann vorbeugen


    Vermeiden Sie purinhaltige Nahrungsmittel:
    • Innereien
    • Fleisch und Wurst
    • Hefe
    • Schalen- und Krustentiere
    • alkoholische Getränke, insbesondere Bier

    Bevorzugen Sie:

    • Milch und Milchprodukte
    • Eier
    • Obst
    • Gemüse, Salate
    • Kartoffeln

    Grundsätzlich gilt:

    • Trinken Sie reichlich (2 bis 3 Liter) Leitungswasser, Mineralwasser, Tee und Kaffee.
    • Achten Sie auf eine fettarme Zubereitung.
    • Vermeiden Sie Extreme:
      • üppiges Essen,
      • Hungerzustände (extremes Fasten),
      • längere Durstphasen.

    Die Gabe von Kortison erfolgt nur, wenn Anti­rheumatika oder Colchicin kontraindiziert sind, also nicht gegeben werden dürfen. Man beginnt mit hoher Dosis und fängt nach einer Woche an, die Dosis zu reduzieren.
    Nach Abklingen des ersten Schubs sollte man mit dem Wirkstoff Allopurinol, ggf. auch Febuxostat (Handelsname Adenuric) als Reservepräparat, eine Dauertherapie einleiten, bei Unverträglichkeit evtl. Benzbromaron. Neuere Medikamente (Interleukin-Antikörper) können in besonderen Fällen ebenfalls sehr erfolgreich helfen.

    Zusammenfassung


    Ein Gichtanfall ist immer noch ein „einschneidendes“ Ereignis/Erlebnis. Stärkste Schmerzen können „wie aus heiterem Himmel“ auftreten – es ist eine Erleichterung, wenn sie wieder aufhören! Aber auch langfristige Schäden drohen, wenn man nichts dagegen unternimmt. Vorzubeugen nach einem Anfall, ist immer noch die beste Lösung – Allgemeinmaßnahmen wie eine Änderung der eigenen Essens- und auch Trinkgewohnheiten helfen dabei!

    Autor:

    Dr. Gerhard-W. Schmeisl
    Internist, Angiologe, Diabetologe und Sozialmediziner
    ehem. Lehrbeauftragter der Universität Würzburg und Chefarzt Deegenbergklinik
    PrivAS Privatambulanz (Schulung)

    Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (2) Seite 28-31

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