Heilung von Typ-1-Diabetes durch Stammzellen

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Heilung von Typ-1-Diabetes durch Stammzellen

Die Überschrift in der renommierten Tageszeitung New York Times Ende 2021 war aufsehenerregend: „Ein Heilung für Typ-1-Diabetes? Für einen Mann scheint es funktioniert zu haben“. Kurz gesagt: Das stimmt nicht – eine Heilung ist weiterhin nicht möglich, aber in den letzten Monaten sind wesentliche Fortschritte gemacht worden. Was steckt also dahinter?

Wie könnte die Stammzelltherapie zu einer Heilung führen? Die Heilung von Typ-1-Diabetes erfordert eine erneuerbare Quelle von insulinproduzierenden Zellen, die im Labor hergestellt werden, weil von Organspendern nur wenige Zellen für begrenzte Studien gewonnen werden können. Dies versucht man durch Umprogrammierung von Vorläuferzellen – Stammzellen – zu erreichen. Im Körper müssen sie in der Lage sein, die Insulinproduktion bei Menschen wiederherzustellen und den Blutzuckerspiegel automatisch zu regulieren. Zwei Unternehmen, Vertex und Viacyte, haben kürzlich gezeigt, dass im Labor hergestellte Stammzellen in insulinproduzierende Inselzellen verwandelt werden können.

Damit diese Therapie für alle Menschen mit Typ-1-Diabetes anwendbar ist, muss die Abstoßung dieser Zellen mit gut verträglichen immunsuppressiven Therapien verhindert werden, wie sie z. B. gegenwärtig auch durch verschiedene Medikamente zum Erhalt der Restfunktion bei der Diagnose des Typ-1-Diabetes untersucht werden (z. B. in der INNODIA-­Studie).

Genschere oder Verkapselung?

Langfristig hofft man natürlich, auf solche das Immunsystem modulierenden (verändernden) Medikamente ganz verzichten zu können. Hoffnung besteht hier durch das CRISPR/Cas9-System, das derzeit die Gentechnik von Grund auf verändert. CRISPR/Cas9 ist eine Genschere, die wir nutzen können, um präzise Bereiche unserer Erbsubstanz DNA zu verändern, zu löschen oder zu korrigieren. Auf diese Weise könnte man unter Umständen nicht mehr vom Immunsystem als fremd erkannte Stammzellen herstellen. Eine erste klinische Studie dazu wird in Kanada demnächst beginnen.

Theoretisch könnte dies auch durch eine für das Immunsystem nicht durchlässige Verkapselung der Zellen erreicht werden, aber erfolgreiche Ergebnisse dazu sind beim Menschen noch nicht publiziert worden. Im klinischen Bereich hat daher derzeit die Forschung zu einer effektiven, personalisierten und nebenwirkungsarmen Hemmung des Immunsystems durch einzelne Medikamente oder Kombination von Medikamenten Priorität.

C-Peptid misst den Behandlungserfolg

Wie gut eine Stammzell-Therapie funktioniert, wird anhand einiger weniger wichtiger Messungen beurteilt. Da Menschen mit Typ-1-Diabetes sich zum Überleben immer Insulin zuführen müssen, kann man dazu die Insulinbestimmung nicht verwenden, da gespritztes Insulin und solches aus transplantierten Zellen nicht unterschieden werden kann. Eine Möglichkeit ist die Messung des C-Peptid-Spiegels. Das ist ein Marker, der anzeigt, ob Insulin produziert wird oder nicht (oder wie viel).

Bei Brian Shelton, dem Patienten in der Studie, über die in der New York Times berichtet worden ist, war vor der Behandlung mit den neuen Zellen überhaupt kein C-Peptid nachweisbar, was zeigt, dass seine Bauchspeicheldrüse kein Insulin produzierte. Nach der Infusion der Zellen wies der Patient sowohl nüchternes als auch stimuliertes C-Peptid auf, was bedeutet, dass er in der Lage ist, selbst ein Grundniveau an Insulin zu produzieren, und dass er bei Bedarf mehr Insulin herstellen kann.

Die Studie von Vertex

Brian Shelton hat seit über 40 Jahren Typ-1-Diabetes. Er leidet an einer Unterzuckerungswahrnehmungsstörung, so dass er beispielsweise im Hof eines Kunden ohnmächtig wurde, als er Post auslieferte. Nach dieser Episode sagte ihm sein Vorgesetzter, er solle mit 57 Jahren nach einem Vierteljahrhundert im Postdienst in Rente gehen. Anfang 2021 entdeckte er einen Aufruf für Menschen mit Typ-1-Diabetes, an einer klinischen Studie von Vertex Pharmaceuticals teilzunehmen. Das Unternehmen testet eine Behandlung, die über Jahrzehnte von Harvard-Professor Doug Melton entwickelt worden war. Prof. Melton hatte sich dieser Forschung verschrieben, nachdem sein kleiner Sohn Sam im Säuglingsalter und dann seine Tochter Emma als Teenager Typ-1-Diabetes bekommen hatten.

Brian Shelton, jetzt 64 Jahre alt, war der erste Patient. Am 29. Juni 2021 bekam er die halbe Dosis von VX-880, einer Infusion mit Zellen, die aus Stammzellen gezüchtet worden waren. Seine Insulindosis konnte von 34 Einheiten auf 3 Einheiten reduziert werden, das HbA1c verbesserte sich von 8,6 auf 7,2 %, und schwere Unterzuckerungen traten nicht mehr auf. „Es ist ein ganz neues Leben“, wurde Shelton in der New York Times zitiert. „Es ist wie ein Wunder.“
Bei der Bewertung der Daten ist einiges zu beachten: Zum einen handelt es sich nur um die Ergebnisse einer einzigen Person. Das Ergebnis ist noch nicht in einer Fachzeitschrift mit Peer-Review veröffentlicht. Um das Potenzial dieser Therapie in vollem Umfang beurteilen zu können, werden Daten von vielen weiteren Personen benötigt. Außerdem hat Shelton nur die Hälfte der Zieldosis an Zellen erhalten.

Die Studie wird 5 Jahre lang fortgesetzt, 17 Personen mit Typ-1-Diabetes und schweren Unterzuckerungen werden teilnehmen. Die Zellen in VX-880 sind in keiner Weise vor dem Immunsystem geschützt, weshalb immunsuppressive Medikamente erforderlich sind. Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die Sicherheit. Diese Therapien sind nutzlos, wenn sie nicht sicher sind. Während der ersten 90 Tage traten bei Brian Shelton keine schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse auf, die mit VX-880 in Verbindung gebracht werden könnten. Die Teilnehmer an dieser klinischen Studie erhalten aber standardmäßig immunsuppressive Therapien, die mit Nebenwirkungen verbunden sind.

Was kommt als Nächstes?

Im März 2021 erhielt VX-880 von der Food and Drug Administration (FDA) den Fast-Track-Status. Das Fast-Track-Programm zielt darauf ab, die Entwicklung und Prüfung neuer Arzneimittel zu beschleunigen. Vertex plant, im Jahr 2022 bei der FDA einen Antrag auf Zulassung eines neuen Arzneimittels (Investigational New Drug) für sein Programm mit eingekapselten Inselzellen einzureichen – durch die Verkapselung wären immunsupressive Medikamente überflüssig, und es wäre bei erfolgreicher Anwendung in Verbindung mit VX-880 ein großer Schritt zur Heilung von Typ-1-Diabetes.

„Cell Pouch“ von Sernova

Im Januar 2022 berichtete das kanadische Unternehmen Sernova auf einem Meeting für Investoren vom Erfolg ihres implantierbaren Systems Cell Pouch. Diese Art Zelltasche aus Polymermaterial kann dazu benutzt werden, Zellen zur Behandlung von Typ-1-Diabetes und anderen Erkrankungen in den Körper einzusetzen, damit die so implantierten Zellen Hormone oder andere Substanzen freisetzen, um eine funktionelle Heilung zu erzielen. Nach Angabe der Firma wäre mit Cell Pouch ein Patient bereits für 21 Monate nach der Transplantation von menschlichen Inselzellen insulinfrei.

Insgesamt haben wohl bisher 7 Menschen mit Typ-1-Diabetes in der Studie der Universität Chicago ein Cell Pouch erhalten, wobei alle 6 bis 12 Monate neue Inselzellen in die Cell Pouch transplantiert werden müssen und eine Immunsuppression erforderlich ist. Einschränkend muss man aber feststellen, dass auch ohne Cell Pouch vorübergehend erfolgreiche Inselzelltransplantationen gelungen sind. Obwohl dieses System wohl auch beschichtet werden kann, um die Abstoßungsreaktion des Körpers zu vermeiden oder mit im Labor modifizierten (Stamm-)Zellen anstelle der nur sehr raren menschlichen Inselzellen befüllt werden kann, liegen dazu noch keine publizierten Daten vor.

Die Studie von ViaCyte

Im Gegensatz dazu hat das Unternehmen ViaCyte über seine Ergebnisse Publikationen in renommierten Fachzeitschriften vorgelegt. Bereits 2006 berichteten Wissenschaftler von Viacyte über ein mehrstufiges Protokoll zur Differenzierung menschlicher Stammzellen basierend auf der embryonalen Entwicklung der Bauchspeicheldrüse. In zwei wissenschaftlichen Publikationen wurde kürzlich über Zwischenergebnisse einer klinischen Studie berichtet, bei der diese Zellen in Makroverkapselungen aus Polytetrafluorethylen (VC-02TM) bei insgesamt 26 Menschen mit Typ-1-Diabetes subkutan implantiert wurden. Jeder Teilnehmer erhielt 250 – 500 Millionen Zellen und benötigte ein immunsuppressives Behandlungsschema, das üblicherweise bei den Transplantationen eingesetzt wird, da die Verkapselung nicht vor einer Abstoßungsreaktion schützt.

Die C-Peptid-Konzentrationen waren jedoch niedrig und schwankten beträchtlich mit Werten von 20 – 40 pM bei 5 Patienten, aber unter 10 pM bei allen anderen Patienten. Es gab daher keine klinisch relevanten Auswirkungen auf die Blutzuckerkontrolle oder den Insulinverbrauch. Man geht davon aus, dass für Insulinunabhängigkeit nach einer Inselspenderzell-Transplantation C-Peptid-Konzentrationen von etwa > 1.000 pM erforderlich sind, jedoch selbst C-Peptid-Konzentrationen von nur 5 pM mit einer geringeren Anzahl von Hypoglykämie-Ereignissen verbunden sind, und Werte von über 200 pM zu einer Verbesserung der Blutzuckerkontrolle führen.

Trotzdem geben diese Ergebnisse Hoffnung, weil immerhin 26 und 52 Wochen nach der Implantation ein Anstieg der C-Peptid-Konzentration durch eine Mahlzeit festgestellt werden konnte, was eine funktionelle Reifung der verkapselten Zellen zur Insulinproduktion belegt und auf ein Langzeit-Überleben hinweist.

Offene Fragen

Die einzige Heilung, die jemals funktioniert hat, ist eine Bauchspeicheldrüsentransplantation oder eine Transplantation der insulinproduzierenden Inselzellen aus der Bauchspeicheldrüse eines Organspenders. Aber ein Mangel an Organen macht ein solches Vorgehen für die große Mehrheit der Menschen mit Typ-1-Diabetes unmöglich.

Die entscheidenden Fragen sind deshalb: Reagieren die aus Stammzellen gewonnenen Inselzellen gut genug auf Glukose, um einen fast normalen Blutzucker zu gewährleisten, und kann die Funktionalität über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden? Wie ist das langfristige Sicherheitsprofil? Wie kann eine Abstoßungsreaktion ohne Gabe von Immunsuppressiva verhindert werden, oder gibt es Immunsuppressiva, die so gut verträglich sind, dass der langfristige Einsatz vertretbar ist?

Blick in die Zukunft
Der klinische Weg bis zur breiten Einführung einer aus Stammzellen abgeleiteten Inselzellersatztherapie für Typ-1-Diabetes wird wahrscheinlich noch einige Zeit dauern. Die neuen Ergebnisse zur Möglichkeit eines unbegrenzten Vorrats an insulinproduzierenden Zellen sollte aber Menschen, die mit Typ-1-Diabetes leben, Hoffnung geben. Das Zeitalter der klinischen Anwendung der innovativen, aus Stammzellen gewonnenen Inselzellersatztherapie zur Behandlung von Typ-1-Diabetes hat endlich begonnen.

Autor:

Prof. Dr. med. Thomas Danne
Kinderdiabetologe
Zentrum für Kinder- und Jugend­medizin „Auf der Bult“
Janusz-Korczak-Allee 12
30173 Hannover
E-Mail: danne@hka.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2022; 13 (1) Seite 8-10

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