Hypoglykämien – eine unterschätzte Gefahr

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Hypoglykämien – eine unterschätzte Gefahr

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Gleich nach der Diagnose habe ich (wie wohl viele andere auch) als Erstes zu hören bekommen: Halte deine Werte unten, achte auf ein tiefes HbA1c. Sonst werden deine Nieren versagen, du wirst offene Beine bekommen und erblinden. Wir alle wissen das. Wir wissen, wie schlecht wir uns fühlen, wenn wir eine Ketoazidose haben. Wie schlecht uns ist, wenn der Wert stundenlang bei 400 mg/dl (22,2 mmol/l) hängt. Und wie wir bei hohen Werten unterschwellig Panik bekommen, weil wir das Bild der drohenden Folgeschäden irgendwie immer im Hinterkopf haben.

Aber wenn ich über das Wort „Panik“ spreche, drängt sich mir eine andere Situation noch viel mehr ins Gedächtnis: die Hypoangst. Nicht die Angst VOR einer Hypoglykämie, nein. Sondern vielmehr der Stress und die puren Paniksignale, die mein Körper aussendet, wenn die Glukose im Blut gefährlich gering ist. Wenn mein Körper um jedes Milligramm, um jede Zelle kämpft, die er versorgen muss. Wir alle kennen diese Gefühle. Das Schwitzen, das Zittern, das Herzrasen und: der Fressflash.

Wir wissen, dass wir eigentlich eine kurzwirkende und zwei langanhaltende BEs essen sollten, damit unser Blutzucker nach der überstanden Hypo nicht katapultartig nach oben schießt. Und deshalb wissen wir, noch während wir uns die zehnte BE zwischen die Zähne schieben, dass wir grade einen „Fehler“ begehen. Denn diese Situation hat uns niemand beigebracht. Niemand hat uns vorgewarnt, dass wir die Kontrolle über unseren Körper, über unsere Handlungen verlieren werden – weil unser Körper uns schlichtweg dazu zwingt.

Wenn wir ehrlich sind, wissen wir, wie oft es knapp war. Wie oft wir aus dem Auto gestiegen sind, gemessen haben und dachten: „Mist. Das hätte auch anders ausgehen können.“ Oder wie oft wir zitternd, schwitzend, kaum fähig zu denken, in ein Restaurant oder einen Kiosk getorkelt sind, um eine Cola hinunterzukippen.

Was ist eigentlich die Hypo?

Laut der Definition, die ich z.B. von Anfang an höre: ein niedriger Blutzuckerwert unter 60 mg/dl (3,3 mmol/l). Ein Messwert, eine Zahl soll also entscheiden, ob es unserem Körper noch gut geht oder nicht. Über dem Grenzwert soll alles okay sein, darunter sollen wir nach dem uns antrainierten Schema handeln.

Wenn wir uns aber nach unserem eigenen, ganz individuellen Körperempfinden richten, stellen wir fest, dass diese Zahl nicht einfach den sich ständig ändernden Glukoseverbrauch und -bedarf wirklich jemals real abbildet. Selbst bei deutlich höheren Werten überraschen uns Hyposymptome von Zeit zu Zeit. Und wieder fangen wir an zu stopfen – BE um BE wandert in unseren Organismus.

Ein Auto ohne Sprit bleibt stehen

Wenn uns doch aber unser Verstand und die Ärzte sagen, dass wir hohe Werte nicht riskieren dürfen, weil sie schädlich für uns sind – wieso tun wir es dann trotzdem? Warum handelt unser Körper mit solcher Kraft, als ob es ihm ums nackte Überleben gehen würde? Eigentlich ist es simpel. Ein Auto ohne Sprit bleibt stehen. So auch unser Körper. Ein Auto startet nach dem Tanken wieder einwandfrei…  Ein Lebewesen ohne Energie (also Glukose) ist schlichtweg eines: tot.

Und weil es genau das ist, was unser unglaublich intelligenter Körper versucht zu verhindern, kämpft bei jeder Hypo der Verstand gegen den Überlebensinstinkt – und das Insulin gegen das Glukagon. Glukagon – das ist unser heimlicher Lebensretter. Von jeder Mahlzeit packt der Körper das, was er für die momentane Versorgung nicht braucht, sorgfältig in Leber und Muskeln, um für schlechte Zeiten vorzusorgen.

Doch was, wenn die Reserven leer sind? Oder unser Körper sie nicht erreichen kann, weil Insulin oder Alkohol das verhindern? Dann verlieren wir den Kampf. Viele von uns haben auch das bereits erlebt. Wenn das empfindliche Gleichgewicht unserer Energieversorgung nicht stimmt, gerät unser nahezu perfektes, extrem sensibles System durcheinander – und dem größten Energiefresser unseres Körpers wird schlichtweg der Strom abgestellt: Wir werden bewusstlos – denn unser Hirn ist für die Lebenserhaltung eigentlich vollkommen unwichtig.

Eine Hypo kann uns das Leben kosten

Die Hypo endet am Baum, am Fuße der Treppe oder mit dem Kopf gegen die Tischkante. Die Bewusstlosigkeit ist gefährlich – ja. Doch bedenken wir alles, was wir über uns und die extremen Reaktionen unseres Körpers auf eine Hypo wissen, dann muss uns auch klar sein: Auch eine Hypo an sich kann uns das Leben kosten – vor allem dann, wenn unsere Reserven nicht nutzbar sind.
Unser subjektives Empfinden der Panikreaktion unseres Körpers bestätigt also das, was auch Studien beweisen: 6% aller Tode von Typ-1-Diabetikern unter 40 Jahren gehen auf das Konto von nächtlichen Hypoglykämien.

Das gewohnte Herzrasen, die bleierne Müdigkeit und das schleppende Denken kennt wohl jeder, der jemals eine Hypo hatte – und sorgt vor allem nachts dafür, dass wir aus einer Hypo nicht aufwachen und unser Körper damit kein Signal erhält, das ihn zur Hormonausschüttung anregt…wodurch wir dem Tod entgegengehen. Gefährdet sind wir also durch hohe Insulindosen, durch Alkohol, durch Bewegung – schlichtweg: durch das pure Leben. Wir können bloß versuchen, für unser Überleben gefährliche Werte zu vermeiden – durch Beobachten, Ausprobieren und Messen.

Können wir unser Befinden an einer Zahl festmachen?

Doch genau dort liegt auch das Problem: Wie können wir uns sicher sein, uns in dem „nicht kritischen“ Bereich zu befinden, wenn unsere Blutzuckermessgeräte allein schon eine Standardabweichung von 15% haben (dürfen)? Können wir unser Befinden, die Reaktionen unseres Körpers wirklich an einer Zahl festmachen?

Auch die Internationale Gesellschaft für kindlichen und jugendlichen Diabetes (ISPAD) hat dies 2014 thematisch aufgegriffen – sie definiert eine Hypoglykämie mittlerweile als Blutzuckerabfall mit möglicher Gefährdung, ohne diesen Zustand mit Zahlen zu beschreiben. Und wie können wir auch davon ausgehen, dass diese Zahlen immer richtig wären? Mal rast der Blutzucker nach 4 BE in die Höhe, ein anderes Mal reichen 4 BE unter gleichen Bedingungen nicht aus, um den Abfall zu stoppen.

Wir sehen also: Unser Körper ist oft schwierig zu verstehen. Einerseits sollen wir uns nach Zahlen und Schemata richten – andererseits sagt uns unser Organismus häufig etwas völlig anderes. Ich für meinen Teil höre meistens auf mein Gefühl und versuche dann, geduldig mit mir zu bleiben – um nicht mit zu schnellen Insulingaben in die gleiche Situation zurückzurutschen.

Denn letztlich sollte uns immer bewusst sein: Hohe Blutzuckerwerte schädigen uns zwar langfristig – aber eine Hypo kann uns jederzeit den Kopf kosten.

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