Ihre Glukosewerte immer im Blick

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Ihre Glukosewerte immer im Blick

Durch häufiges Blutzuckermessen, aber vor allem durch die Methode der kontinuierlichen Glukosemessung werden Sie im gesamten Tagesverlauf immer wieder an Ihren Diabetes erinnert. Wie damit umgehen? Prof. Dr. Bernhard Kulzer weiß Rat.

Ende der 1970er-Jahre war die Blutzuckerselbstkontrolle ein Meilenstein in der Behandlung des Diabetes: Erstmals konnten Menschen mit Diabetes selbst ihren Blutzucker bestimmen, um einerseits die Therapie zu kontrollieren, auf der anderen Seite erhöhte Blutzuckerwerte unmittelbar zu korrigieren. Ein weiterer Meilenstein der Diabetestherapie war die Methode der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM), durch die kontinuierliche Übermittlung der aktuellen Glukosewerte auf ein Lesegerät, das Smartphone oder durch Scannen der Glukosewerte (Flash-Glukose-Monitoring).

Kontinuierliche Glukosewerte erleichtern die Therapie

Die Blutzuckerselbstmessung war die Voraussetzung für die intensivierte Insulintherapie (ICT), und die kontinuierliche Glukosemessung ist die Voraussetzung für die automatische Insulinsteuerung durch Systeme zur automatischen Insulindosierung, kurz: AID-Systeme. Ein Beispiel für diese Systeme zur (halbautomatischen) Steuerung der Insulindosierung ist Diabeloop, bestehend aus einer Insulinpumpe (aktuell: Accu-Chek Insight des Unternehmens Roche), einer CGM-Messung (aktuell: Real-Time-CGM-System Dexcom G6 von Dexcom) und einem Algorithmus (DBLG1 von Diabeloop).

Auf der Basis der kontinuierlichen Glukosewerte analysiert der Algorithmus die Glukosedaten in Echtzeit und gibt der Insulinpumpe das Signal, die Insulinabgabe zu stoppen, die Basalratenabgabe anzupassen oder automatisch Korrekturboli abzugeben. Die kontinuierliche Glukosemessung ermöglicht es, ständig den aktuellen Glukosewert im Blick zu haben, den Glukosetrend zu verfolgen und eine Auswertung der Glukosewerte zu bekommen: entweder direkt auf dem Lesegerät, dem Smartphone oder ausführlicher, wenn Sie Ihre Glukosewerte mithilfe einer Software zum genaueren Auswerten unter die Lupe nehmen.

Man erkennt so Muster oder die wichtigsten Kennwerte der Therapie wie die Zeit im, unter oder über dem Zielbereich, Glukoseschwankungen oder geschätzt den Glukoselangzeitwert HbA1c. Zudem ermöglichen die CGM-Systeme, Alarme und Voralarme einzustellen, die Sie vor Unter- oder Überzuckerungen warnen.

Bei CGM fallen ständig Informationen an!

Obwohl beide Entwicklungen wahrscheinlich kein Mensch mit Diabetes mehr missen möchte, hat jede Neuerung natürlich auch mögliche Herausforderungen oder Nachteile. Bei der kontinuierlichen Glukosemessung stört die Nutzer häufig, dass sie sich durch die vielen Informationen ständig mit dem Diabetes beschäftigen müssen und damit die Erkrankung einen hohen Stellenwert im Tagesablauf bekommt.

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Im Gegensatz zu den Blutzuckermessungen fallen bei der kontinuierlichen Glukosemessung ständig irgendwelche Informationen an, die die Aufmerksamkeit auf den Diabetes richten. Und wie bei fast allen Aspekten der Diabetestherapie sind Menschen im Umgang mit dieser Herausforderung sehr verschieden und gehen damit völlig unterschiedlich um.

„Leben dreht sich um die Glukosewerte“

Hans (61 Jahre, Typ-1-Diabetes) möchte seinen Diabetes möglichst gut unter Kontrolle haben. Daher blickt er häufig auf sein mit dem CGM verbundenes Smartphone oder seine Smartwatch und beobachtet vor allem die Trendpfeile genau. Sinken oder steigen seine Glukosewerte sehr stark, ist er beunruhigt und unterbricht seine Tätigkeiten sofort, um gegenzusteuern. Das nervt nicht nur seine Frau, sondern auch seine Arbeitskollegen. Hans sei, wie es seine Frau ausdrückt, „dann nicht mehr zu gebrauchen“, wenn seine Glukosewerte stärker schwanken – und dies passiert fast jeden Tag.

Während eines stationären Klinikaufenthalts hat Hans gelernt, Schwankungen der Glukosewerte auszuhalten und nicht immer gleich so stark beunruhigt zu sein. Daher hat er die Verbindung seines CGM-Geräts mit seiner Smartwatch gekappt und sich selbst Regeln gesetzt, wie oft er auf seinem Smartphone auf die Glukosewerte schaut. Außerdem hat er beschlossen, die Voralarme eine Zeitlang auszusetzen, und mit der Diabetesberaterin vereinbart, die Werte nicht so häufig mit Insulin zu korrigieren. Denn bei der gemeinsamen Analyse seiner Glukosekurven ist ihm aufgefallen, dass seine Schwankungen auch durch seine häufigen Korrekturen bedingt sind.

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Am wichtigsten war ihm aber die Erkenntnis, dass er seinem Diabetes nicht länger gestatten möchte, sich immer wieder so stark in sein Leben einzumischen und dieses zeitweise zu dominieren – sehr zur Freude seiner Familie, seiner Freunde und Arbeitskollegen.

Augen zu und durch …

Ilka (24 Jahre, Typ-1-Diabetes) ist da ein ganz anderer Typ. Ihre Diabeteseinstellung ist nicht so gut, daher möchte sie ihre Werte gar nicht oft sehen. Lieber vertraut sie ihrem Bauchgefühl und steuert ihren Diabetes ohne Analyse ihrer Glukosewerte. Ihre Diabetologin war daher ganz erstaunt, dass ihre mittlere Scanhäufigkeit auf ihrem Gerät mit „2“ angegeben war. Nachdem sie damals die Methode des Flash Glukose Monitorings erstmals neu ausprobiert hatte, war das ganz anders.

Aber dann hatte sie gemerkt, dass ihre Stimmung immer schlechter wurde, wenn sie die Kurven auf ihrem Lesegerät betrachtete und sie ihr „kleiner Mann im Hinterkopf“ ständig an Folgeerkrankungen denken ließ. Ihre Lösung, um wieder bessere Laune zu bekommen, war: „Augen zu und durch.“ Eine naheliegende Lösung, um sich besser zu fühlen – wenn auch nicht zielführend, denn es kostet Ilka auch viel Energie, die Gedanken an die Folgen ihrer schlechten Glukosewerte zu verdrängen.

In einem Kurs mit anderen jungen Erwachsenen, zu dem sie ihre Diabetologin überredete, hat sie vor allem herausgefunden, warum sie sich bei erhöhten Glukosewerten immer schuldig fühlt, gegen diese innerlich rebelliert und diese dann verdrängt. „Wie ein Jugendlicher in der Pubertät“, sagte eine andere Teilnehmerin des Kurses zu ihr und hatte damit ins Schwarze getroffen. Ilka verstand während des Klinikaufenthaltes, dass sie es noch nicht geschafft hat, ihren eigenen Weg mit ihrem Diabetes zu finden und ihn gut in ihr Leben zu integrieren.

„Bisher habe ich meinen Diabetes als einen ständigen Unruhestifter gesehen, der ständig stört und versucht, meinen Alltag zu bestimmen“, sagte sie in der Gruppe. „Das will ich ändern, denn eigentlich ist es ja kindisch, immer gegen den eigenen Diabetes anzukämpfen.“ Die Gruppe tat ihr vor allem gut, da sie erlebte, welche Einstellung die anderen Teilnehmer zu dem Diabetes haben. „Viel entspannter, entkrampfter und positiver als ich“, war ihr Urteil und: „Die Gruppe gab mir viele Anregungen, wie ich anders mit meinem Diabetes umgehen kann. Friedliche Koexistenz mit meinem Diabetes ist mein Ziel.“

„Das ständige Gebimmel geht mir auf den Wecker!“

Anfangs war Jan (36 Jahre, Typ-1-Diabetes) von seinem CGM-Gerät völlig begeistert. Noch nie hatte er so genau seinen Glukoseverlauf analysieren können. Und da er Sportler ist, fand er eine Reihe hilfreicher Muster, um seine Glukosewerte bei Sport besser zu steuern. Schon immer hatte Jan eine hohe Insulinempfindlichkeit, was sich durch seine sportliche Aktivität noch verstärkte. Besonders nachts meldete sich sein CGM-System fast täglich mit einem Alarm, unterbrach seinen Schlaf und leider auch den seiner Partnerin.

„Das ständige Gebimmel deines CGM geht mir gehörig auf den Wecker – in der Nacht, beim Essen, im Theater, ständig stört dein Diabetes unser gemeinsames Leben“, stellte seine Frau fest. Nach einer wenig erholsamen Nacht im Urlaub mit 3 CGM-Alarmen war für beide das Maß voll: „So geht das nicht weiter“, beschloss Jan und stellte die Alarme ab. Vor der Zeit mit seinem CGM-Gerät hatte er schließlich auch keine schweren Unterzuckerungen erlebt. Nur nach Wettkämpfen, in besonderen Situationen wie bei einer Outdoor-Unternehmung allein oder wenn er sich seine Glukoseschwankungen nicht erklären kann, nutzt er weiterhin die Alarme.

Seine Frau ist begeistert und stört sich jetzt nur noch ein bisschen an dem Schlauch seiner Insulinpumpe – oder mit ihren Worten am „Gehänge und Gebimmel deiner Pumpe und dem CGM“. Seit Kurzem denkt Jan darüber nach, eine schlauchlose Pumpe auszuprobieren …

Selten nur positive Seiten – die Balance finden

Ohne Zweifel sind moderne Technologien – wie die Methode der kontinuierlichen Glukosemessung – ein gehöriger Fortschritt und ein wichtiger Schritt, um die Belastungen aufgrund des Diabetes zu verringern und die gefürchteten Folgeerkrankungen zu verhindern. Aber selten haben Innovationen nur positive Seiten, sondern stellen Menschen auch vor neue Herausforderungen. Es gilt somit, persönlich einen guten Weg zu finden, damit CGM die Lebensqualität verbessert und ein Stück dazu beiträgt, die Last des Diabetes zu verringern – und eben nicht dazu führt, dass der Diabetes ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und zum Mittelpunkt des Lebens wird.

Wie die Beispiele von Hans, Ilka und Jan zeigen, gehört dazu, sich selbst Gedanken darüber zu machen, wie der Umgang mit CGM am besten zu dem eigenen Leben passt. Haben Sie darüber auch schon einmal nachgedacht? Es lohnt sich!

Schwerpunkt „Diabetes – immer dabei“

Autor:

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
Dipl.-Psychologe
Forschungsinstitut Diabetes-Akademie Mergentheim (FIDAM)
Theodor-Klotzbücher-Straße 12
97980 Bad Mergentheim
Website: www.fidam.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (9) Seite 24-26

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