Kein nennenswert höheres Unfallrisiko

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Kein nennenswert höheres Unfallrisiko

Das Führen von Kraftfahrzeugen und die Teilnahme am Straßenverkehr sind für viele Menschen elementarer Bestandteil des sozialen und beruflichen Lebens. Vor allem unvorhergesehene Unterzuckerungen und extrem erhöhte Werte können bei Diabetikern die Fahrtauglichkeit beeinflussen. Nach derzeitiger Datenlage bestehen jedoch keine Erkenntnisse, die auf ein relevant erhöhtes Risiko hindeuten, im Gegenteil: Tatsächlich könnte aufgrund einer erhöhten Sorgfalt und Vorsicht der Patienten möglicherweise sogar ein geringeres Unfallrisiko bestehen.

Nach aktuellen Zahlen gibt es in Deutschland ca. 7,6 Mio. Diabetes-Patienten, dies dürfte einem Anteil von ungefähr 10 Prozent aller Führerscheininhaber entsprechen. Bei allen diesen Betroffenen können dauerhaft extrem erhöhte Blutzuckerwerte die Fahreignung beeinträchtigen – zum Beispiel durch Konzentrationsstörungen oder zeitweise Veränderung der Sehfähigkeit. Geschätzt 3 Mio. Patienten werden mit Medikamenten, u. a. Insulin, behandelt, die sich aufgrund blutzuckersenkender Wirkung auf die Fahreignung auswirken können.

Bislang gibt es keine Belege dafür, dass Diabetiker ein relevant höheres Risiko im Straßenverkehr darstellen. Studien ergaben zum Beispiel, dass ein Unfall infolge einer Unterzuckerung erst nach einer Fahrleistung von circa 400.000 km beobachtet werden konnte. Auch im Vergleich zu Krankheiten wie ADHS oder Schlafapnoe ist das relative Unfallrisiko bei Diabetes mellitus erheblich geringer – bei diesen anderen Krankheiten kommt es bis zu 400-mal häufiger zu einem Unfall!

Gute Einstellung – und Unterzuckerungen rechtzeitig wahrnehmen

Die von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) herausgegebenen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung stellen unmissverständlich klar, dass “gut eingestellte und geschulte” Menschen mit Diabetes sowohl Pkw als auch Lkw sicher führen können – dies gilt auch für die Personenbeförderung (Taxis, Omnibusse). Voraussetzung ist aber, dass Unterzuckerungen rechtzeitig wahrgenommen werden.

In diesen Leitlinien findet sich eine Zusammenstellung körperlicher und/oder geistiger Einschränkungen, welche die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigen können. Für zahlreiche Krankheiten werden dort Vorgaben und Voraussetzungen definiert, die ärztliche Gutachter bei der Bewertung der Fahreignung berücksichtigen müssen.

Für den Diabetes gilt: Die Teilnahme am Straßenverkehr ist normalerweise kein Problem. Voraussetzung ist aber natürlich, dass Unterzuckerungen (Hypoglykämien) rechtzeitig wahrgenommen werden. Die Begutachtungsleitlinien stellen nämlich fest, dass beim Diabetes mellitus die “Gefährdung der Verkehrssicherheit […] in erster Linie vom Auftreten einer Hypoglykämie mit Kontrollverlust, Verhaltensstörungen oder Bewusstseinsbeeinträchtigungen” ausgeht. Folgerichtig heißt es weiter: “Eine ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung ist Voraussetzung für die Fahreignung.”

Unterscheidung nach Fahrzeuggruppen

Die Begutachtungsleitlinien unterteilen die Führerscheinklassen in zwei Gruppen:

Gruppe 1: Führer von Fahrzeugen der Klassen A, A1, A2, B, BE, AM, L, T

Hier gilt: “Bei Therapie mit Diät, Lebensstilanpassung oder medikamentöser Therapie mit niedrigem Hypoglykämierisiko besteht keine Einschränkung, solange eine ausgeglichene Stoffwechsellage besteht und keine Folgekomplikationen vorliegen. Bei Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko ist bei ungestörter Hypoglykämiewahrnehmung nach Einstellung und Schulung das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 möglich, Stoffwechselselbstkontrollen werden empfohlen.”

Zusammengefasst: Wenn Unterzuckerungen rechtzeitig bemerkt werden, dann kann/darf man auch Auto fahren!

Gruppe 2: Führer von Fahrzeugen der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und die Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung (FzF)

Hier gelten deutlich strengere Maßgaben, denn das Führen von schweren Lkws oder die Personenbeförderung bergen auch höhere Risiken.

Die Begutachtungsleitlinien sagen hierzu: “Für das Führen von Fahrzeugen der Gruppe 2 ist grundsätzlich eine stabile Stoffwechselführung über drei Monate nachzuweisen. Bei Therapie mit Diät und Lebensstilanpassung soll eine fachärztliche Nachbegutachtung durchgeführt werden. Bei Therapie mit oralen Antidiabetika mit niedrigem Hypoglykämierisiko müssen regelmäßige ärztliche Kontrollen gewährleistet sein, eine fachärztliche Nachbegutachtung ist erforderlich.”

“Bei Therapie mit höherem Hypoglykämierisiko (Sulfonylharnstoffe und ihre Analoga, sowie mit hohem Risiko Insulin) ist neben regelmäßigen ärztlichen Kontrollen alle drei Jahre eine fachärztliche Begutachtung erforderlich, bei der Beurteilung der Fahreignung sind Therapieregime, Einstellung und Fahrzeugnutzung zu berücksichtigen. Geeignete Stoffwechselselbstkontrollen sind regelmäßig durchzuführen.”

Zusammengefasst: Das Führen von Lkws über 3,5 t oder die Personenbeförderung setzen selbstverständlich ebenfalls die Fähigkeit zur Hypoglykämiewahrnehmung voraus, auch muss man eine weitgehend stabile Stoffwechselführung über drei Monate nachweisen können. Weiterhin müssen regelmäßige ärztliche Kontrollen gewährleistet sein, bei Therapie mit erhöhtem Hypoglykämierisiko sind zusätzlich fachärztliche Begutachtungen erforderlich.

Mehrere Aspekte maßgeblich für Fahreignung

Bei der Bewertung der Fahreignung ist also in erster Linie auf das Unterzuckerungsrisiko und die Fähigkeit zur Hypoglykämiewahrnehmung abzustellen. Die Leitlinie sieht insoweit vor, dass “wiederholte schwere Hypoglykämien im Wachzustand” in der Regel die Fahreignung so lange ausschließen, “bis wieder eine hinreichende Stabilität der Stoffwechsellage sowie eine zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien sichergestellt ist”.

“Schwere Hypoglykämie” bedeutet die Notwendigkeit von Hilfe durch eine andere Person. “Wiederholte Hypoglykämie” bedeutet das zweimalige Auftreten einer schweren Hypoglykämie innerhalb von 12 Monaten.

Der Text der Begutachtungsleitlinie ist auf der Internetseite der BASt abrufbar.

Dies bedeutet: Wer innerhalb eines Jahres mehr als einmal eine so schwere Unterzuckerung hatte, dass er sich nicht mehr selbst helfen konnte bzw. sogar den Notarzt brauchte, der gilt grundsätzlich und bis auf Weiteres nicht mehr als fahrgeeignet. Durch den Zusatz “in der Regel” lässt der Wortlaut der Norm aber begründete Ausnahmen zu.

Auch ist eine Fahruntauglichkeit nicht dauerhaft festgeschrieben: Sobald eine “zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien” wieder sichergestellt ist, hat man also auch in solchen Fällen dann wieder Anspruch auf die Fahrerlaubnis. Die Fahreignung kann dann in der Regel “auf der Grundlage einer fachärztlichen (diabetologischen) Begutachtung und durch geeignete Maßnahmen wie das Hypoglykämiewahrnehmungstraining, Therapieänderungen und vermehrte Blutzuckerselbstkontrollen wieder hergestellt werden”.

Es wird zwar nicht explizit in der Begutachtungsleitlinie genannt: Auch der Einsatz eines kontinuierlichen Glukosemonitoringsystems (CGM-Systems) könnte ein Mittel sein, um die Fahreignung wieder bejahen zu können.

Achtung bei Therapieumstellung!

Neben der Unterzuckerungsproblematik sind auch die mit einer Therapieumstellung verbundenen Risiken zu beachten. Die Leitlinie sagt hierzu: “Wer nach einer Stoffwechseldekompensation erstmals oder wer neu eingestellt wird, darf kein Fahrzeug führen, bis die Einstellphase durch Erreichen einer ausgeglichenen Stoffwechsellage (incl. der Normalisierung des Sehvermögens) abgeschlossen ist.”

Auch Überzuckerungszustände müssen berücksichtigt werden. Es gibt zwar keine starren Normwerte, aber Arzt und Patient müssen die jeweilige Situation verantwortungsvoll einschätzen. Denn “auch Hyperglykämien mit ausgeprägten Symptomen wie z. B. Schwäche, Übelkeit oder Bewusstseinsbeeinträchtigungen schließen das Führen von Kraftfahrzeugen aus”.

Insgesamt kann man deutlich Entwarnung geben: Diabetes macht in Bezug auf den Führerschein nur noch selten Probleme!


von Oliver Ebert
REK Rechtsanwälte
Nägelestraße 6A, 70597 Stuttgart oder
Friedrichstraße 49, 72336 Balingen
E-Mail: Sekretariat@rek.de

Internet: www.diabetes-und-recht.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (9) Seite 58-60

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