Kinder: Eine 6 vor dem Komma?

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Kinder: Eine 6 vor dem Komma?

Einmal im Jahr trifft sich die Internationale Gesellschaft für Kinderdiabetologie (ISPAD) zu ihrer Jahrestagung. Das 44. Treffen fand im Oktober in Indien statt. Über tausend Diabetologen, Diabetesberaterinnen, Ernährungsspezialisten und Psychologen kamen in Hyderabad zusammen, um sich über die aktuellen Themen auszutauschen.

Lebhafte Diskussionen gab es besonders um die Neuauflage der Behandlungsleitlinien, die – kurz vor dem Kongress und vier Jahre nach der letzten Auflage – überarbeitet worden sind. Im Zentrum stand die Kontroverse um die neuen Behandlungsziele. Während für Erwachsene schon lange ein Zielwert für den Langzeit-Blutzucker HbA1c von unter 7 % (unter 53 mmol/mol) aufgerufen wurde, war man in der Kinderdiabetologie bislang mit Werten von unter 7,5 % (unter 58 mmol/mol) als Ziel zufrieden.

Ehrgeizige Ziele, bessere Ergebnisse

Vorausgesetzt, dass Patienten Zugang zu modernen Medizinprodukten wie Glukosesensoren, Insulinpumpen und modernen Insulinpräparaten haben, soll nach der neuen Leitlinie jetzt der niedrige Zielwert für Erwachsene auch für Kinder und Jugendliche gelten: Ziel beim HbA1c ist demnach eine 6 vor dem Komma.

Während manche Experten argumentieren, dass solche Werte weltweit für weit mehr als die Hälfte der Patienten bislang unerreichbar sind und eine Senkung des Zielwerts nur Frustration bewirkt, hatte die Leitliniengruppe gute Argumente für eine Änderung der Empfehlungen gesammelt. Auch wenn internationale Registerdaten belegen, dass auch in Deutschland besonders während der Pubertät fast drei Viertel der Patienten diesen Laborwert gegenwärtig nicht erreichen, so sind internationalen Vergleichsstudien zufolge die Ergebnisse durchschnittlich deutlich besser, je niedriger die Stoffwechselziele der jeweiligen Klinik sind.

Schwedisches Register: niedrige Werte von Anfang an nötig

Zusätzliche Bedeutung bekam die Diskussion durch eine im August in der Fachzeitschrift Lancet publizierte Studie aus Schweden. Frauen, die vor dem zehnten Lebensjahr an Typ-1-Diabetes erkrankt waren, starben im Durchschnitt fast 18 Jahre früher als Frauen, die nicht an Diabetes leiden. Männer in der entsprechenden Situation verloren fast 14 Lebensjahre. Die Lebenszeit von Patienten, die im Alter von 26 bis 30 Jahren diagnostiziert wurden, verkürzte sich im Durchschnitt um zehn Jahre.

Die Studie basiert auf dem weltweit einmaligen schwedischen Register, das 27 195 Personen mit Typ-1-Diabetes durchschnittlich zehn Jahre lang überwacht hat. Die Gruppe wurde mit 135 178 Kontrollen aus der Allgemeinbevölkerung ohne Diabetes verglichen, wobei die Verteilung hinsichtlich Geschlecht, Alter und Wohnsitz statistisch gleich war. Die Wahrscheinlichkeit schwerer kardiovaskulärer Erkrankungen (z. B. Herzinfarkt) erwies sich im Allgemeinen bei Patienten, die vor ihrem zehnten Lebensjahr an Typ-1-Diabetes erkrankt waren, um das 30-Fache höher als bei Kontrollen.

Araz Rawshani, der Erstautor der Publikation, sagte: „Natürlich muss die Studie auch im Hinblick auf den enormen Fortschritt betrachtet werden, der in den letzten Jahrzehnten gemacht wurde. Die Behandlung von Typ-1-Diabetes ist heutzutage sehr hoch entwickelt und umfasst moderne Möglichkeiten zur Blutzuckermessung, der Insulingabe und der ganzheitlichen Behandlung.“

Viele Patienten und Patientinnen der Registerstudie hatten Diabetes zu einer Zeit bekommen, in der die Behandlungsmöglichkeiten mit denen von heute nicht vergleichbar waren. Der Zusammenhang zwischen HbA1c und Folgeerkrankungen wurde auch erst im Jahre 1993 durch die DCCT-Studie eindeutig belegt.

HbA1c-Senkung durch Technologie

Denn auch das zeigen die schwedischen Registerdaten: Das Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme ist eng mit dem durchschnittlichen HbA1c-Wert verknüpft. „Diejenigen, die gegenwärtig an Diabetes erkrankt sind, und diejenigen, die heute an der Krankheit erkranken, werden in den kommenden Jahren ein längeres und gesünderes Leben führen können“, führten die schwedischen Forscher aus.

Einschränkungen bei den ehrgeizigen Zielwerten empfahl die ISPAD-Leitliniengruppe für Patienten, die über keinen Zugang zu regelmäßiger Betreuung und modernen Therapieverfahren verfügen oder eine Unterzuckerungswahrnehmungsstörung haben. Für Patienten, die dieses Stoffwechselziel nicht erreichen können, wurde eine stufenweise Verbesserung unter multidisziplinärer Betreuung und begleitender psychologischer Beratung unter Einsatz moderner Diabetestechnologie empfohlen.

Die Leitliniengruppe führte weiter aus, dass besonders während der Remissionsphase zu Krankheitsbeginn ein noch niedrigerer HbA1c-Zielwert von unter 6,5 % (unter 47,5 mmol/mol) angestrebt werden soll. Diesen niedrigen Zielwert empfiehlt auch die britische Leitliniengruppe NICE für Kinder allgemein und die ISPAD für alle, die dies ohne Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität und ohne häufige Unterzuckerungen erreichen können. Für die Diabetesteams rund um die Welt ist es jetzt eine große Herausforderung, gemeinsam mit ihren Patienten unter Einsatz aller neuen Behandlungsmethoden Wege zu finden, um diese Ziele zu erreichen.

Die Situation in Deutschland

Der Deutsche Gesundheitsbericht Diabetes 2019 (vorgelegt zum Weltdiabetestag am 14. November) beschreibt die aktuelle Situation: In Deutschland werden über die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit Insulinpumpen behandelt. Besonders in den letzten zwei Jahren hat die Verwendung von kontinuierlichen Glukosesensoren geradezu sprungartig zugenommen.

Auch wenn insbesondere zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr die durchschnittlichen HbA1c-Werte heute noch deutlich vom Leitlinien-Zielwert abweichen, so zeigt sich insgesamt eine kontinuierliche Verbesserung des Durchschnitts-HbA1c bei gleichzeitigem Rückgang von schweren Unterzuckerungen über die letzten Jahre. Grund genug, die neuen Zielwerte als Motivation im Alltag und nicht als unerreichbare „Schulnote“ zu verstehen.


von Prof. Dr. med. Thomas Danne
Kinderdiabetologe, Zentrum für Kinder- und Jugend­medizin „Auf der Bult“,
Janusz-Korczak-Allee 12, 30173 Hannover
E-Mail: danne@hka.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2018; 10 (4) Seite 6-7

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