Mit Diabetes auf der Flucht und in einem fremden Land leben

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Mit Diabetes auf der Flucht und in einem fremden Land leben

Ich bin Medizinjournalistin, Typ-1-Diabetikerin und aktives Mitglied des Willkommensteams für Flüchtlinge in meiner Heimatstadt Elmshorn. Da liegt es nahe, sich einmal mit der Frage zu beschäftigen, wie eigentlich Menschen mit Diabetes klarkommen, die aus ihrer Heimat flüchten und auf dem Weg hierher und auch hier in Deutschland ihren Diabetes irgendwie managen müssen. Glücklicherweise musste ich überhaupt nicht lange suchen, um einen Flüchtling zu finden, den ich interviewen und portraitieren konnte. Mein Diabetologe erzählte mir von einem jungen Mann aus Syrien, der als Typ-1-Diabetiker in seiner Praxis gerade komplett neu eingestellt wurde.

Flucht durch halb Europa ohne Teststreifen mit verdorbenem Insulin

Vielleicht hat der eine oder andere mein Portrait von Said Mohammed-Aisha gelesen, das daraufhin im Focus Diabetes erschienen ist. Es war für mich eine der besonderen Geschichten, die ich dieses Jahr schreiben durfte. Sie machte mir einmal mehr deutlich, wie gut es mir hier in Deutschland auch und gerade als Diabetikerin geht. Said nämlich hatte in Syrien bereits zu Friedenszeiten keine sonderlich gute Diabetesversorgung gehabt. Er hatte nach seiner Diagnose vom Arzt ein Mischinsulin mit festem Spritz- und Essensplan sowie ein Rezept für Teststreifen in die Hand gedrückt bekommen, weiter nichts. Schulung? Fehlanzeige. Kohlenhydrate selbstständig berechnen? Völliges Neuland. Zudem musste Said sein Insulin und seine Teststreifen komplett aus eigener Tasche bezahlen. Vor dem Krieg, als er noch eine Arbeit hatte, funktionierte das halbwegs. Doch als er im Laufe der politischen Wirren seinen Job als Schneider verlor, war kein Geld für Teststreifen mehr übrig. Insulintherapie ohne Messwerte als Anhaltspunkt. Während seiner dreiwöchigen Flucht über die Türkei, Griechenland und Mazedonien wurde auch noch sein Insulin schlecht, es hielt den hohen Temperaturen nicht mehr stand.

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© pixabay

 

Sechs Jahre nach der Diagnose des Typ-1-Diabetes die erste ICT-Schulung

Als Said nach seiner Ankunft in Deutschland im Sommer 2014 in der Erstaufnahmeeinrichtung in Neumünster in Schleswig-Holstein endlich einmal wieder ärztlich untersucht wurde, lag sein Blutzuckerwert bei über 400 mg/dl (22,2 mmol/l) und es ging ihm sehr schlecht. In der Erstaufnahmeeinrichtung gibt es zwar einen ärztlichen Dienst, doch dieser kann für Diabetiker nicht mehr leisten, als ihnen Insulin und Teststreifen zu geben, damit sie ihre gewohnte Therapie fortsetzen können. Eine Neueinstellung auf eine intensivierte Insulintherapie, wie sie hierzulande jeder neu diagnostizierte Typ-1-Diabetiker erhält, ist in der Erstaufnahmeeinrichtung aus Kapazitätsgründen nicht möglich. Erst als er in einer Wohnung in Horst, etwa 40 Kilometer nordwestlich von Hamburg gelegen, untergebracht war, konnte er sich einen Diabetologen suchen und landete in derselben Diabetespraxis, in der auch ich betreut werde. Die Neueinstellung fällt ihm noch schwer – und zwar nicht nur, weil ihm in Syrien nie ein Arzt erklärt hatte, wie man im Alltag Insulin und Kohlenhydrate selbst ausbalancieren kann, sondern auch wegen der Sprachbarriere. Bei seinen Diadoc-Terminen begleitet ihn ein Landsmann, der immerhin Englisch versteht und für ihn dolmetscht. Nicht optimal, doch immerhin versucht man heute, in der Diabetestherapie auf die kulturellen Hintergründe von Migranten einzugehen.

Alteingesessene Migranten haben oft Probleme, ihren Diabetes zu managen

Das war nicht immer so, wie ich bei der Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) in Düsseldorf dieses Jahr lernen durfte. Insbesondere Migranten aus der Türkei, die zum Teil schon seit Jahrzehnten hier leben, tun sich oft schwer damit, ihren Diabetes gut zu managen. Der Grund hierfür ist ebenso banal wie brutal: Als während des bundesdeutschen Wirtschaftswunders sogenannte „Gastarbeiter“ aus der Türkei angeworben wurden, rechnete man nicht damit, dass diese Menschen dauerhaft in Deutschland bleiben würden. Entsprechend wenig Anstrengung unternahm man, ihnen durch Sprach- oder Integrationskurse Zugang zu unserer Gesellschaft zu verschaffen. Die Diabetesberaterin Aysel Ünal aus Gelsenkirchen, selbst eine türkische Migrantin der zweiten Generation, kennt die Folgen dieser Versäumnisse aus ihrer täglichen Arbeit: Die „Gastarbeiter“ sind nun im Rentenalter, verfügen über wenig Gesundheitswissen, treiben keinen Sport und haben sehr häufig Typ-2-Diabetes. Ihren Kolleginnen rät Ünal: „Will man diese Patientengruppe schulen, sollte man sich über ihren kulturellen Hintergrund und typische Ernährungsgewohnheiten informieren.“

„Ohne Brot werde ich nicht satt“, sagen viele türkische Migranten

In der türkischen Kultur dient Essen nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern es hat eine wichtige soziale Funktion: „Es wird gegessen, um sich als guter Gastgeber zu beweisen – oder umgekehrt als dankbarer Gast“, erklärt Ünal. Aus ihrer Sicht ist es vor allem das Überangebot an Nahrung, das ihren Patienten eine gute Diabeteseinstellung erschwert: „Fragt man türkischstämmige Migranten, was sie über den Tag verteilt alles essen, dann zählen sie meist nur die warmen Mahlzeiten auf und vergessen die vielen kalorienreichen Zwischenmahlzeiten und Knabbereien.“ Hinzu kommt ein hoher Brotkonsum begleitend zu den eigentlichen Mahlzeiten – natürlich fast ausschließlich Weißmehlprodukte und kaum Vollkornbrot. „Jährlich werden in der Türkei pro Kopf 168 Kilogramm Backwaren verzehrt, in Deutschland sind es nur knapp 87 Kilogramm“, sagt Ünal. „Ohne Brot werde ich nicht satt“, das höre sie oft von ihren Patienten.

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© pixabay

 

Abenteuerliche Theorien, welche Lebensmittel den Blutzucker senken

Um etliche Lebensmittel ranken sich auch Mythen, die zwar nicht zutreffen, sich aber umso hartnäckiger halten: „Viele Türken sind felsenfest davon überzeugt, dass Bulgur den Blutzucker nicht erhöht, dabei handelt es sich um Weizengrieß und ist natürlich blutzuckerrelevant.“ Andere behaupteten hartnäckig, dass Honig ihren Blutzucker nicht ansteigen lässt, außerdem äßen sie im Alltag „so gut wie gar nichts“. Da hilft Ünals Erfahrung nach nur eines: „Der Patient muss die strittigen Lebensmittel mit in die Praxis bringen, dort essen und unter unserer Aufsicht seinen Blutzucker messen, damit er sieht, was tatsächlich passiert.“ Was die Diabetesberaterin in Düsseldorf erzählt, erinnert mich an eine türkischstämmige Frau mit Typ-2-Diabetes, etwa Ende 50, die mit mir zusammen in meiner ambulanten ICT-Schulung zu Beginn meiner Diabeteskarriere gesessen hatte. Sie hatte die anderen Schulungsteilnehmer auch immer wieder mit abenteuerlichen und in gebrochenem Deutsch vorgetragenen Theorien überrascht, welche Lebensmittel ihrer Meinung nach den Blutzucker nicht beeinflussen oder gar senken. Bei ihr hatte ich schon damals das ungute Gefühl, dass sie nicht allzu sehr von unserer gemeinsamen Schulung profitieren würde. Und heute, nach dem Besuch der DDG-Herbsttagung, kenne ich endlich auch den Fachbegriff für das, was die Frau eigentlich gebraucht hätte: „kultursensible Schulung“. Ich hätte es ihr von Herzen gegönnt – denn sie war schlecht eingestellt und sichtlich unglücklich darüber.

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