Persönliche und zeitsparende Kontaktform der Zukunft?

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Persönliche und zeitsparende Kontaktform der Zukunft?

Was bringt eine regelmäßige zusätzliche Videosprechstunde für Kinder und Jugendliche mit Diabetes und deren Eltern? Das wurde in der ViDiKi-Studie untersucht. Studienleiterin Dr. Simone von Sengbusch stellt die Ergebnisse vor.

Die Virtuelle Diabetesambulanz für Kinder und Jugendliche (ViDiKi) war eine Studie für Kinder mit Typ-1-Diabetes, die von 2017 bis 2020 in Schleswig-Holstein und Hamburg durchgeführt wurde. Das Besondere daran war, dass sie durch den Innovationsfonds, eine neue Forschungsförderung, finanziert wurde. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) legt die konkreten Leistungen für Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung fest.

Der G-BA definiert also die Richtlinien für die medizinische Versorgung und hat u. a. den Auftrag, zukünftige, neue Versorgungsmodelle, die es als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung noch nicht gibt, zu fördern und deren Erforschung über den Innovationsfonds zu fördern. Der Innovationsfonds unterstützt zahlreiche Studien, die das Potential in sich tragen, die zukünftige Versorgung der Bevölkerung Deutschlands zu verbessern. Daher ist es für das Verständnis dieser Studie wichtig zu wissen, wer sie finanziert hat und warum.

Telemedizin und Videosprechstunde waren im Jahr 2017 zum Studienstart noch etwas hoch Innovatives und niemand hätte sich damals vorstellen können, dass nur drei Jahre später die medizinische Versorgung von Menschen in der Corona-Pandemie von diesen Technologien abhängig sein könnte.

Vorgeschichte zur Studie

Mit der Einführung der Geräte zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) in Deutschland im September 2016 gab es nicht nur die Chance, Kinder und Erwachsene mit Diabetes mit einem solchen System zu versorgen, sondern auch erstmals komplette Therapiedaten in cloudbasierten Softwarelösungen zu speichern. Eine solche cloudbasierte Software ermöglicht es, dass die Eltern von an Typ-1-Diabetes erkrankten Kindern und – sofern die Eltern es erlauben – ihr Diabetesteam gleichermaßen von jedem Ort und zu jeder Zeit auf die Daten zugreifen konnten.

Tatsächlich haben solche Softwarelösungen die Grundlage für eine telemedizinische Beratungslösung geschaffen. Ambulanztermine, die in erster Linie dem gemeinsamen Betrachten von Insulinpumpen-, Insulin-, Blutzucker- oder CGM-Daten dienen, können so von der Ambulanzorganisation in Kliniken und Praxen abgekoppelt werden. Das schafft mehr Flexibilität in der Terminvergabe und eröffnet auch die Chance, häufiger mit dem Diabetesteam zu sprechen und Rat zur Insulinanpassung zu erhalten.

Ob das aber tatsächlich im Alltag funktioniert, und welche Effekte häufigere Kontakte zur Insulinanpassung z. B. auf die Stoffwechsellage der Kinder oder die Belastung der Eltern haben, sollte in der ViDiKi-Studie untersucht werden. Der Antrag wurde 2016 von der AOK NordWest unterstützt und 16 weitere Krankenkassen traten später dem Vertrag bei, so dass ihre Versicherten an der Studie teilnehmen konnten. Alle Kosten wurden vom Innovationsfonds getragen.

Die Durchführung der Studie

Die Vorbereitung dieser Studie war umfangreicher als voraussehbar war. Neben zahlreichen Verträgen mit 16 teilnehmenden Krankenkassen, zuweisenden Ärzten und Kliniken, musste erstmals ein umfangreiches Datenschutzkonzept erstellt werden.

In dieser Studie arbeiteten nicht nur drei Kinderkliniken als Telemedizin-Kliniken zusammen (das UKSH Lübeck als Studienleitung, das UKSH Kiel und das Städtische Klinikum Kiel), sondern Diabetes-Daten als PDF-Dateien mussten sicher zwischen Familien und Telemedizinarzt, zwischen Telemedizinarzt und Datenbank sowie dem eigentlich behandelnden Dia­betesteam hin- und her gesendet werden können. Verträge mit einer Firma für E-Mail-Verschlüsselung und einem Anbieter eines Arzt-Video-Portals wurden geschlossen, und die Kinderdiabetologen und Diabetesberaterinnen der Studienklinik und die Familien mussten in der Anwendung geschult werden.

Ab Juli 2017 begann der Einschluss der Studienteilnehmer. Es gab nur ganz wenige Voraussetzungen für die Teilnahme: Alter 1-16 Jahre, mindestens 6 Monate seit der Diagnose Typ 1 Diabetes, ausreichende Sprachkenntnisse (Deutsch, Englisch oder Türkisch), um die umfangreiche Aufklärung zur Schulung zu verstehen, und die Nutzung eines CGM-Systems.

Die Qualität der Stoffwechsellage oder die Art der Therapie (Pentherapie, Insulinpumpe, CGM mit oder ohne Alarm, mit oder ohne Insulinpumpensteuerung) spielten keine Rolle. Die Vorauswahl von Kindern z. B. nur mit einer speziellen Insulinpumpentherapie und einem speziellen CGM oder nur mit HbA1c-Werten zwischen 7,5 - 9 Prozent hätte das Ergebnis durchaus positiv beeinflussen können, war aber nicht gewünscht.

Damit die Ergebnisse optimal auf jede Diabetessprechstunde übertragen werden können, musste auch die gesamte Bandbreite der Versorgungssituation abgebildet werden. Der Fachbegriff dafür ist real life study.

Warten oder Starten

Die Studie ViDiKi versuchte durch einen Vergleich mit der Regelversorgung herauszufinden, welche Effekte eine Ergänzung mit einer monatlich angebotenen Beratung per Videosprechstunde erreichen kann. Dazu wurde ein „Wartekontrollgruppen-Design“ gewählt: Je nach Wohnort und Postleitzahl wurden die Familien der Wartegruppe oder der Startergruppe zugeteilt. Die Familien der Wartegruppe lernten die Kieler Studienärzte bei der Einschreibung kennen, erhielten aber noch keine Videosprechstunde. Die Kinder der Startergruppe erhielten sofort nach der Einschreibung monatliche Videosprechstunden als Ergänzung zur Versorgung in ihrer Ambulanz.

Nach sechs Monaten stiegen auch die Kinder der Wartegruppe in die Telemedizin ein. Alle teilnehmenden Kinder hatten nun also zwei Behandlungsteams, das Telemedizin-Studienteam und das Behandlungsteam vor Ort. Letzteres hatte die Hauptverantwortung, während das Telemedizin-Studienteam das Insulin anpasste und jedes Quartal einmal Rückmeldung an das hauptverantwortliche Team gab. So sollte immer sichergestellt sein, dass alle Behandler zusammenarbeiten. Insgesamt wurden bis zum Mai 2018 240 Kinder eingeschlossen.

Vorher wichtig: der Datenaustausch

Die Studienteilnehmer bzw. Eltern mussten 2 - 3 Tage vor dem Videosprechstundentermin die Daten in eine Software ihrer Wahl laden oder dem behandelnden Telemedizin-Diabetologen verschlüsselt als PDF senden. Der Telemedizinarzt hatte nun die Aufgabe, die Daten in Ruhe auszuwerten, positiv zu kommentieren (Denn wer mag sonst schon die Kommentare lesen?), einen Therapievorschlag in das PDF einzufügen und verschlüsselt an die Familien zurückzusenden.

Diese wussten also schon im Voraus, was das Thema des Gesprächs seitens des Arztes sein würde. Die Videotermine wurden zeitlich flexibel, aber fest alle 4 Wochen angeboten. Ein gewisser Anteil der Termine fand auf Wunsch der Familien und der Telemedizinärzte auch abends statt, so dass alle Beteiligten Arbeit und Familie besser koordinieren konnten.

Ergebnisse der ViDiKi Studie

Die Studie wurde von der Universität zu Lübeck evaluiert, also ausgewertet (Daten der Fragebögen, HbA1c-Werte, CGM-Verlaufsdaten, Interviews mit Eltern und Jugendlichen). Die Hauptergebnisse wurden 2020 in den Fachzeitungen Pediatric Diabetes und Diabetic Medicine veröffentlicht.

In den ersten 6 Monaten, in denen nur die Startergruppe monatliche Videokontakte ergänzend zur Versorgung in der Ambulanz hatte, fanden sich zwei sehr positive Ergebnisse: Die Belastung der Mütter ging durch die Videosprechstunde sehr stark zurück, und die Therapiezufriedenheit der Eltern stieg sehr stark an. Die Auswertung der Fragebögen zeigte hier eine hohe „Signifikanz“, das heißt, dass das Ergebnis nicht zufällig so ausfiel, sondern tatsächlich auf den Effekt der Videosprechstunde zurückgeführt werden konnte.

Die Stoffwechsellage der Startergruppe verbesserte sich jedoch nur leicht. Ein möglicher Grund dafür kann sein, dass ausgerechnet in den ersten Monaten der Studie viele technische Probleme auftraten, so dass die Beratungstermine erst einmal zum Trouble-Shooting genutzt werden mussten.

Danke!
Das Forschungsteam bedankt sich bei allen Eltern und ihren Kindern, die an der ViDiKi-Studie teilgenommen haben. Sie haben die Videosprechstunde und Verschlüsselungstechnologien erprobt und sich nicht frustrieren lassen, auch wenn es technische Probleme gab. Sie haben lange Fragebögen ausgefüllt, sich für Interviews zur Verfügung gestellt und die Kostendaten ihrer Kinder zu Forschungszwecken freigegeben.

Betrachtet man nun aber alle Teilnehmer zusammen, kam es nach einem Jahr zu einer signifikanten Verbesserung der gesamten Gruppe, in der nun alle Telemedizin erhielten. Wenn man nur die Kinder betrachtet (2/3 der Gruppe), deren Einstiegs-HbA1c über 7,5 Prozent lag, so kam es nach 12 Monaten und weiter nach 15 Monaten zu einem Abfall des HbA1c im Mittel um über 0,5 Prozent. Das war nicht nur statistisch kein Zufall (hoch signifikant), sondern ist auch für den Versorgungsalltag „klinisch relevant“. Die Videosprechstunde war nur ein Beratungstermin, also „Sprachmedizin“, zusammengezogen maximal ca. 6 Stunden in 12 Monaten, und dafür ist der Effekt dann doch enorm.

Die daraus abgeleitet Erkenntnis ist, dass die monatliche Videosprechstunde die Belastung der Mütter senkt, die Therapiezufriedenheit der Eltern erhöht und das HbA1c senkt, aber letzteres braucht etwas mehr Zeit. Eine Gruppe von Eltern wurde bei Studieneintritt und nach 12 Monaten zu ihren Erfahrungen mit der Videosprechstunde interviewt. Sie hoben die hohe Terminflexibilität, die Zeitersparnis (nicht zur Ambulanz fahren zu müssen, Kinder und Geschwister „organisieren“) und das erhöhte Gefühl von Sicherheit durch häufigere Insulinanpassungen und Kontakte hervor.

Die Videosprechstunde wurde als sehr persönlich wahrgenommen. Fast 4.000 Videosprechstunden wurden in der ViDiKi Studie durchgeführt, und die allermeisten Familien blieben bis zum Schluss (Dezember 2019) in der Studie. In der letzten Phase wurden die Beratung zum Teil von Diabetesberaterinnen im „Tandem“ mit einem Telemedizin-Diabetologen durchgeführt.

Wie geht es nun weiter?

Nach Ende der Studie mussten alle Daten ausgewertet und für die Veröffentlichung vorbereitet werden. Erstmals wurden auch Kostendaten mit Einverständnis der Familien, der Krankenkassen und der Aufsichtsbehörden erhoben. Diese Auswertung nahm die längste Zeit in Anspruch. Im Jahr 2020 wurden drei Abschlussberichte für den G-BA geschrieben, von denen zwei später öffentlich zu lesen sein werden. Auf Basis der Studienergebnisse wird der G-BA vermutlich noch in diesem Jahr entscheiden, ob die Videosprechstunde zur Leistung der Gesetzlichen Krankenkasse wird.

Wie könnte die Versorgung der ­Zukunft aussehen?

Für den Abschlussbericht wurden zwei Modelle herausgearbeitet, die für die meisten Kinderdiabetesteams an Kliniken und in Praxen umsetzbar sein könnten:

  • Das Modell „Add-on“: Das Kind ist weiterhin mindestens einmal pro Quartal in der Spezialsprechstunde vor Ort. Wenn aber mehr Beratungsbedarf besteht, z. B. nach dem Wechsel auf eine sensorgesteuerte Insulinpumpe oder in den Wochen nach der Manifestation, können Termine per Videosprechstunde ergänzend (Add-on) eingesetzt werden.
  • Das Modell „digital“: Die ViDiKi-Familien wünschten mehrheitlich diese Art der Betreuung, das heißt bis zu dreimal pro Quartal eine Videosprechstunde und dafür nur 1 - 2 Termine pro Jahr in der Spezialambulanz.

Die Videosprechstunde soll dabei den persönlichen Kontakt nie ersetzen, aber für häufigere Insulinanpassungen sorgen, damit die Stoffwechsellage des Kindes durch rasche Therapieanpassungen gut wird oder bleibt und die Belastung der Familien trotz mehr Kontakten letztlich abnimmt.


Der besseren Lesbarkeit zuliebe wurde auf die Benutzung beider Sprachformen verzichtet, stets sind dabei die männliche und weibliche Sprachform gemeint. Weiterhin stellen wir bei Bedarf gern eine für Menschen mit Sehbehinderung per Software vorlesbare Textform zur Verfügung.


Autor:

Dr. Simone von Sengbusch
Diabetologin DDG
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin UKSH Lübeck

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2021; 13 (2) Seite 8-10

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