Schwerbehindertenausweis und Bewerbung: Was tun?

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Schwerbehindertenausweis und Bewerbung: Was tun?

Sie haben medizinische, psychosoziale und/oder rechtliche Fragen bezüglich Kindern und Jugendlichen mit Diabetes? Die Experten des Diabetes-Eltern-Journals geben Ihnen in der Rubrik Nachgefragt Antwort!

Die Frage von Claudia P. aus Hamburg:

Vielen Dank für Ihre Tipps zur Bewerbung aus dem letzten Heft (DEJ 1/2020, S. 22; „Bewerbung: Muss Max den Diabetes angeben?“). Es ist beruhigend zu wissen, dass man die Diabetes-Erkrankung im Bewerbungsgespräch in aller Regel nicht mitteilen muss.

Wir haben in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Frage: Wir haben für unsere Tochter Svenja (15 Jahre) einen Schwerbehindertenausweis beantragt und erhalten, dazu wurde bei ihr das Merkzeichen H (H für „hilflos“) festgestellt. Nun will sie sich auf einen Ausbildungsplatz (Industriekauffrau) bewerben.

Im Internet und von anderen Eltern haben wir nun erfahren, dass man bei der Bewerbung den Arbeitgeber über den Schwerbehindertenausweis informieren muss. Das wollen wir aber nicht, denn ich glaube nicht, dass Sonja dadurch bessere Chancen hat, eher im Gegenteil. Was ist jetzt richtig: Muss Sie den Schwerbehindertenausweis mitteilen? Hat sie dadurch bessere oder schlechtere Chancen?

Die Antwort von Oliver Ebert:

Egal, ob im Internet, in Schulungen oder auf Diabetes-Tagen: Zum Thema „Diabetes und Bewerbung“ wird leider sehr viel Unrichtiges verbreitet. Gerade bei heiklen juristischen Themen ist daher wirklich Vorsicht angebracht: Selbst auf den ersten Blick kompetent scheinenden Schreibern im Internet sollte man daher keinesfalls blind vertrauen, zumal deren tatsächliche Qualifikation und Identität meist im Dunkeln liegt. Nicht selten gilt hier daher: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht.

So verhält es sich auch bei der Frage, ob der Schwerbehindertenausweis im Bewerbungsgespräch angegeben werden muss. Natürlich gibt es gute Gründe für den Arbeitgeber, warum er über eine etwaige Schwerbehinderung eines neuen Mitarbeiters Bescheid wissen will. Denn wenn jemand einen Schwerbehindertenausweis hat, ist dies für den Arbeitgeber mit teilweise erheblichen Belastungen verbunden:

Neben einem deutlich erhöhten Kündigungsschutz, der Sorge um möglicherweise überdurchschnittlich hohe Fehlzeiten und der Belastung mit zusätzlichen bezahlten Urlaubstagen muss der Arbeitgeber unter Umständen auch noch seine betrieblichen Abläufe auf den Behinderten einstellen.

Auch aus anderem Grund kann die Kenntnis der Schwerbehinderteneigenschaft für den Arbeitgeber wichtig sein: Ab einer bestimmten Betriebsgröße sind Unternehmen verpflichtet, eine bestimmte Anzahl schwerbehinderter Menschen zu beschäftigen, ansonsten müssen sie eine Ausgleichsabgabe zahlen.

Umgekehrt ist es leider so, dass behinderte Menschen noch immer benachteiligt werden. Nur in Ausnahmefällen wird man davon ausgehen können, dass Schwerbehinderte tatsächlich gleiche Chancen bekommen wie nichtbehinderte Bewerber. Arbeitgeber haben oft Sorge, dass es Probleme mit der Leistung gibt oder es zu hohen Kranken- und Ausfallzeiten kommt; auch der erhöhte Kündigungsschutz wirkt mitunter abschreckend.

Viele Unternehmen weisen in der Stellenausschreibung zwar ausdrücklich darauf hin, dass schwerbehinderte Menschen bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt werden. Tatsächlich ist das aber oft nur alibihaft; der Arbeitgeber wird im Zweifel immer einen Vorwand finden, warum der letztlich eingestellte Bewerber dann doch ein klein wenig besser qualifiziert bzw. geeignet war.

Bewerbung: Die Frage nach der Schwerbehinderung ist unzulässig

Um vor solcher Diskriminierung geschützt zu sein, wird die Frage nach einer Schwerbehinderung im Bewerbungsgespräch als unzulässig angesehen. Dies bedeutet, dass man den Schwerbehindertenausweis bei der Bewerbung nicht mitteilen muss und auf eine entsprechende Nachfrage des Arbeitgebers sogar die Unwahrheit sagen darf, ohne dass man Sanktionen befürchten muss.

Auch wenn man den Job bekommen hat, muss man den Arbeitgeber nicht unaufgefordert informieren – manche Menschen verzichten auf den Sonderurlaub und behalten den Ausweis nur „in der Schublade“, damit er im Falle einer Kündigung dann prozesstaktisch optimal eingesetzt werden kann. Denn eine Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters ist nur zulässig, wenn der Arbeitgeber zuvor die Zustimmung der Integrationsbehörde angefragt und erhalten hat.

Weiß der Arbeitgeber jedoch vom Ausweis gar nichts, dann wird er die Zustimmung natürlich nicht einholen – mit der Folge, dass die Kündigung unwirksam ist. Gerade bei Mitarbeitern mit längeren Kündigungsfristen kann dies einen erheblich geldwerten Vorteil bringen, denn der Arbeitgeber muss dann ja erst einmal eine neue, wirksame Kündigung aussprechen. Auch für Abfindungsverhandlungen kann sich das vorteilhaft auswirken.

Allerdings gibt es nun natürlich ein gewisses Dilemma: Woher soll der Arbeitgeber denn wissen, dass ein Mitarbeiter schwerbehindert ist und er für eine Kündigung daher die Zustimmung der Integrationsbehörde braucht, wenn er bei der Einstellung doch gar nicht nach der Schwerbehinderung fragen darf?

Arbeitgeber darf später fragen

Das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 16.2.2012, 6 AZR 553/10) hat daher entschieden, dass eine spätere Frage des Arbeitgebers nach der Schwerbehinderung zulässig sei, sofern das Arbeitsverhältnis mindestens 6 Monate besteht. Dies gelte insbesondere zur Vorbereitung von beabsichtigten Kündigungen. Denn dann hat man ja den Job bereits und kann wegen der Schwerbehinderung nicht mehr bei der Einstellung diskriminiert werden.

Da der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen nach sechsmonatiger Betriebszugehörigkeit entsteht, kann die Frage des Arbeitgebers zu diesem Zeitpunkt daher auch keine nennenswerten Nachteile mehr bringen.

Vor obigem Hintergrund halte ich es für wenig wahrscheinlich, dass durch die Mitteilung der Schwerbehinderteneigenschaft bessere Chancen auf eine Einstellung bestehen. Ich empfehle daher, dass Svenja den Schwerbehindertenausweis bei der Bewerbung besser nicht angibt.

So ist es im öffentlichen Dienst

Anderes gilt bei der Einstellung im öffentlichen Dienst. Hier kann eine Schwerbehinderteneigenschaft aus zweierlei Gründen vorteilhaft sein:

  • Zum einen müssen behinderte Menschen bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt werden, was beim Staat in der Regel auch gemacht wird. Die Angabe des Schwerbehindertenausweises schadet daher zumindest bei der Bewerbung bei Bundes- oder Landesbehörden nicht und kann die eigene Ausgangsposition verbessern
  • Ein weiterer Vorteil: Wenn es um eine Verbeamtung geht, muss eine amtsärztliche Bewertung der Dienstfähigkeit bzw. Diensttauglichkeit erfolgen. Bei schwerbehinderten Menschen gelten hier deutlich günstigere Bedingungen, insbesondere muss der Amtsarzt seine Prognose nur für einen relativ kurzen Zeitraum in die Zukunft abgeben. Bei nichtbehinderten Beamtenanwärtern müssen dagegen die gesundheitlichen Risiken bis zum Erreichen des Pensionsalters abgeklärt werden.
Fragen an unseren Rechts-Experten Oliver Ebert
Haben Sie Fragen zum Bereich „Diabetes und Recht“, zu Pumpe, CGM, Schwerbehinderung etc.? Dann schreiben Sie unserem Rechtsexperten Oliver Ebert – über seine Website diabetes-und-recht.de oder per Mail. Sie können sich auch an Diabetes-Eltern-Journal-Redakteurin Nicole Finkenauer (E-Mail: finkenauer@kirchheim-verlag.de
) wenden. Sie leitet Ihr Anliegen umgehend weiter.

von RA Oliver Ebert
REK Rechtsanwälte Stuttgart, Balingen
E-Mail: sekretariat@rek.de
Internet: www.diabetes-und-recht.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2020; 12 (2) Seite 22-23

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