Selbst-Check: Leiden Sie an Ängsten?

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Selbst-Check: Leiden Sie an Ängsten?

Wenn Ängste gehäuft auftreten und das Leben stark belasten, sollte man besser früher als später mit dem behandelnden Arzt darüber sprechen, damit sich einengende Gedanken und Reaktionsmuster nicht verfestigen und chronifizieren. Mit diesem Selbsttest finden Sie heraus, ob bei Ihnen eine Angst- oder Zwangsstörung vorliegt.

Ein gewisses Maß an Ängsten und Sorgen im Zusammenhang mit dem Diabetes ist völlig normal; schließlich ist das Leben mit Diabetes mit einigen akuten und langfristigen Risiken verbunden. Solche Empfindungen können dabei helfen, Unter- und Überzuckerungen zu vermeiden und mit einer guten Stoffwechseleinstellung dazu beizutragen, dass Folgeerkrankungen nicht auftreten.

Wenn die Ängste jedoch stärker werden und länger andauern, sollten Sie sich genauer damit beschäftigen. Sobald die Ängste den Alltag beherrschen und die eigene Handlungsfähigkeit deutlich einschränken, spricht man von Angststörungen. Diese sind zumeist ein großes Hindernis im Bemühen um eine gute Diabeteseinstellung und führen zu einer vermeidbaren Beeinträchtigung der Lebensqualität.

Im Folgenden finden Sie eine Liste der wichtigsten Angststörungen sowie jeweils an Sie gerichtete Fragen. Eine Auswertung finden Sie am Ende.

Angststörungen – Fragen zum Selbsteinschätzen

Spezifische Phobie

“Haben Sie Angst vor dem Anblick von Blut, Spritzen, bestimmten Tieren, Höhen, Flugreisen oder vermeiden Sie solche Situationen?”

Darunter versteht man Ängste, die durch Konfrontation mit bestimmten gefürchteten Objekten (z. B. Angst vor Spinnen oder Hunden) oder Situationen (z. B. Höhe, Blutabnahme, Spritzen) ausgelöst werden.

  • Die Angst ist auf das gefürchtete Objekt oder die Situation beschränkt.
  • Zumeist werden diese Objekte oder Situationen vermieden.

Diabetes: Bei Diabetes sind dies beispielsweise die Angst vor dem Spritzen, der Blutabnahme oder Ängste vor Ärzten, was dazu führt, dass Insulin nicht oder nur unregelmäßig gespritzt wird, Blutabnahmen vermieden werden oder Menschen mit Diabetes nicht zum Arzt gehen.

Generalisierte Angststörung

“Leiden Sie sehr häufig unter unangemessen starken Sorgen – zum Beispiel über gesundheitliche, familiäre, berufliche oder finanzielle Angelegenheiten?”

Wenn Ängste und langandauernde Sorgen sich nicht auf bestimmte Situationen, sondern auf verschiedene Lebensbereiche beziehen, spricht man von generalisierten Ängsten.

  • Die Angst besteht dabei an den meisten Tagen über mindestens mehrere Wochen, meist sogar mehrere Monate.
  • Die langanhaltende ausgeprägte Angst, Sorgen und Befürchtungen führen zu einem anhaltenden inneren Spannungszustand, verbunden mit körperlichen Reaktionen wie innerer Unruhe, Herzklopfen, Schwindelgefühlen, Schwitzen, Spannungskopfschmerz, Muskelspannung oder Benommenheit.
  • Es fällt den betroffenen Menschen sehr schwer, sich von diesen Gedanken zu distanzieren und sich zu entspannen.

Diabetes: Übermäßige Ängste und Sorgen, die sich zum Beispiel auf die Unter- und Überzuckerungen oder mögliche Folgeerkrankungen beziehen, können im Rahmen einer generalisierten Angststörung auftreten. Allerdings gibt es zumeist auch Ängste in anderen Lebensbereichen.

Agoraphobie

“Haben Sie Angst vor bestimmten Situationen wie Autofahren und Menschenmengen und vor Orten wie Kaufhäusern, Fahrstühlen oder geschlossenen Räumen oder vermeiden Sie diese?”

Dahinter verbirgt sich eine starke und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von Plätzen und Situationen, in denen eine Flucht schwer möglich oder peinlich wäre. Manchmal ist es auch die Angst, dass im Fall einer Panikattacke oder panikartigen Symptomen keine Hilfe zu erwarten wäre.

  • Für eine Diagnose muss die Angst in mindestens zwei der folgenden Situationen auftreten: Menschenmengen, öffentliche Plätze, Reisen mit weiter Entfernung von zuhause, Reisen allein.
  • Die Angst führt zur Vermeidung dieser Situationen.

Diabetes: Besonders die Angst vor Unterzuckerungen kann dazu führen, dass Menschen konsequent Situationen vermeiden, in denen ihnen eine mögliche Unterzuckerung peinlich oder möglicherweise keine Hilfe zu erwarten wäre. Besonders ausgeprägt ist dies bei Personen, die die Anzeichen von Angst und ersten Hypoglykämiesymptomen nicht unterscheiden können und sich damit ständig in einem inneren Spannungszustand befinden.

Soziale Phobie

“Haben Sie Angst vor Situationen, in denen sie von anderen Menschen beobachtet oder bewertet werden könnten wie öffentliches Sprechen, Zusammenkünfte, Partys oder Gespräche oder vermeiden Sie solche Situationen?”

Merkmal einer sozialen Phobie ist die Vermeidung gesellschaftlicher Zusammenkünfte. Betroffene fürchten, dass sie die Erwartungen anderer nicht erfüllen und auf Ablehnung stoßen könnten.

  • Zudem haben sie Sorgen, dass ihnen ihre Nervosität oder Angst angesehen werden könnte, was die Angst oftmals weiter verstärkt.
  • Die Angst wird oft von körperlichen Symptomen wie Erröten, Zittern, Herzrasen, Schweißausbrüchen, Sprechhemmungen oder Atemnot begleitet.

Diabetes: Soziale Ängste können sich bei Patienten mit Diabetes auf ihre Erkrankung beziehen und negative Auswirkungen auf die Therapie haben: etwa wenn aus der starken Angst, unangenehm aufzufallen, beim Essen in der Öffentlichkeit auf das Blutzuckermessen und Insulinspritzen verzichtet wird oder wenn der Diabetes vor anderen Personen verheimlicht wird und deshalb Situationen vermieden werden, in denen andere Menschen davon erfahren könnten.

Panikstörung

“Kommt es vor, dass Sie plötzlich und unerwartet Angst haben, ohne dass eine reale Gefahr vorliegt?”

Die Betroffenen leiden unter plötzlichen Angstanfällen, ohne dass objektiv gesehen eine reale Gefahr besteht.

  • Die Panikattacken treten plötzlich auf, dauern meist nur wenige Minuten und sind von einer extremen Angstreaktion mit starken körperlichen Symptomen begleitet wie Herzrasen, Schwitzen, Zittern und Atemnot und Befürchtung eines drohenden Unheils (z. B. Angst, einen Herzinfarkt zu erleiden oder verrückt zu werden).
  • Eine Panikattacke kann die Person überall und scheinbar aus heiterem Himmel treffen, häufig ist für die Betroffenen kein direkter Auslöser erkennbar.
  • Erst wenn mehrere Panikattacken im Monat auftreten über mindestens einen Monat, sich vermehrt eine “Angst vor der Angst” – die “Erwartungsangst” – entwickelt und die Panikattacken zu Beeinträchtigungen im täglichen Leben führen, spricht man von einer Panikstörung.

Diabetes: Das Verhalten in einer Unterzuckerung hat mit einer Panikstörung nichts zu tun. Allerdings können starke Ängste vor Hypoglykämien oder tatsächlich erlebte schwere Unterzuckerungen und die damit verbundene Angst vor einem Kontrollverlust das Auftreten von Panikstörungen fördern.

Anpassungsstörung, Angst und depressive Reaktion gemischt

“Leiden Sie in einem Zeitraum bis zu 6 Monaten nach einem kritischen Lebensereignis oder einer außergewöhnlichen Lebensveränderung als Reaktion darauf an Angstzuständen und depressiven Verstimmungen?”

Hierunter versteht man Zustände von Angst und depressiven Symptomen in Folge einer entscheidenden Lebensveränderung (z. B. bedrohliche Erkrankung) oder eines kritischen Lebensereignisses (z. B. Unfall).

  • Die Symptome müssen unmittelbar nach dem Ereignis auftreten und dürfen nicht länger als 6 Monate anhalten.
  • Erst wenn mehrere Panikattacken im Monat auftreten über mindestens einen Monat, sich vermehrt eine “Angst vor der Angst” – die “Erwartungsangst” – entwickelt und die Panikattacken zu Beeinträchtigungen im täglichen Leben führen, spricht man von einer Panikstörung.

Diabetes: In seltenen Fällen kann dies nach der Diagnose des Diabetes auftreten. Häufiger kann dies nach dem Eintritt gravierender Folgeerkrankungen (z. B. Amputation eines Fußes, Verlust der Sehkraft, Dialysepflicht) auftreten, die zu gravierenden Einschränkungen im Leben führen.

Zwangsstörung

“Leiden Sie unter Gedanken oder zwanghaften Handlungen, die Sie als unsinnig ansehen und welche immer wieder auftreten, bzw. müssen Sie bestimmte Handlungen immer wieder ausführen, auch wenn Sie es gar nicht wollen?”

Wesentliches Merkmal dieser Sonderform der Angst ist ein wiederkehrender Zwang oder Drang, bestimmte Dinge zu denken (Zwangsgedanken) oder zu tun (Zwangshandlungen).

  • Zwangsgedanken sind Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die eine Person immer wieder stereotyp beschäftigen. Häufig sind dies angstvolle Gedanken und Überzeugungen, sich selbst oder einer anderen Person zu schaden (z. B. Befürchtung, eine Arbeit nicht richtig gemacht zu haben oder sich an einer Krankheit anzustecken) oder durch Unterlassen von Handlungen für ein Unheil oder Unglück verantwortlich zu sein.
  • Zwangshandlungen oder -rituale sind Stereotypien, die ständig wiederholt werden müssen. Die Betroffenen wissen, dass ihr Verhalten übertrieben und unvernünftig ist, und versuchen, Widerstand zu leisten, geben jedoch auf, wenn die Angst sie überfällt. Werden Zwangshandlungen unterdrückt, verstärkt sich die Angst deutlich.

Diabetes: Durch die ständige Beschäftigung mit den eigenen Glukosewerten, besonders auch durch die neuen Methoden der kontinuierlichen Glukosemessung, sind einige Menschen gedanklich so stark mit dem Verlauf der eigenen Werte und den Kontrollmessungen beschäftigt, dass dies bereits zwanghafte Züge annimmt.

Hypoglykämieangst

“Leiden Sie häufig unter starken Sorgen, eine Unterzuckerung zu bekommen?”

Übermäßige Angst vor möglichen zukünftigen Unterzuckerungen. Typischerweise bestehen auch Schwierigkeiten, zwischen körperlichen Symptomen der Angst und denen einer Hypoglykämie zu unterscheiden.

  • Um mögliche Hypoglykämien zu vermeiden, werden meist deutlich überhöhte Blutzuckerwerte in Kauf genommen.
  • Die Angst beeinträchtigt das Leben stark.
  • Je nach Ausprägung der Ängste können die Kriterien für eine “phobische Störung”, eine “Panikstörung” oder eine “generalisierte Angststörung” erfüllt sein.

Diabetes: Die Angst vor Unterzuckerungen ist bei Menschen mit Diabetes weitverbreitet. Eine Angststörung liegt vor, wenn die Angst das Leben sehr stark beeinträchtigt und zum ständigen Vermeiden von Unterzuckerungen durch überhöhte Blutzuckerwerte führt.

Angst vor Diabetesfolgen (Progredienzangst)

“Leiden Sie sehr häufig unter unangemessen starken Sorgen über den Verlauf Ihrer Diabeteserkrankung?”

Übermäßige Ängste und Sorgen bezüglich des Auftretens oder der Verschlimmerung möglicher Folgeerkrankungen des Diabetes.

  • Die Sorgen und Ängste sind unangemessen stark, entsprechen nicht den objektiven Risiken und beeinträchtigen das Leben sehr stark.
  • Je nach Ausprägung der Ängste können die Kriterien einer “generalisierten Angststörung” oder einer “Anpassungsstörung, Angst und depressive Reaktion, gemischt” erfüllt sein.

Diabetes: Auch die Angst vor Folgeerkrankungen ist bei Menschen mit Diabetes weitverbreitet. Problematisch wird es, wenn die Angst das ganze Leben beherrscht und unter Umständen dazu führt, dass wegen der Angst Kontrolluntersuchungen nicht durchgeführt werden.

Die Auswertung

Wenn Sie bei keiner der Fragen mit “Ja” geantwortet haben, haben Sie keine Angststörung.

Wenn Sie eine der Fragen mit “Ja” beantwortet haben, sollten Sie mit Ihrem behandelnden Arzt darüber sprechen.

Die oben genannten Kriterien sind ein guter erster Hinweis auf eine Angststörung (oder eine Zwangsstörung), jedoch sollte die Diagnose von Ihrem Arzt gestellt werden – Sie können ihm ja diesen Artikel hier mitbringen.

Wenn die Ängste beginnen, gehäuft aufzutreten, und Ihr Leben stark belasten, sollten Sie eher mit einem Therapeuten darüber sprechen. Das ist hilfreich, damit sich einengende Gedanken und Reaktionsmuster nicht verfestigen und chronifizieren. Die Therapie der ersten Wahl bei Angststörungen ist eine Psychotherapie, die besten Erfolge erzielt man mit einer Verhaltenstherapie.

Ergeben sich Hinweise auf diabetesspezifische Ängste, sollte als Methode der ersten Wahleine Verhaltenstherapie bei einem diabetologisch erfahrenen Psychotherapeuten erfolgen.

Medikamente können gegebenenfalls auch eine Hilfe zum Verringern der Ängste sein, z. B. Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer oder ggf. kurzfristig Benzodiazepine. Aber Achtung: Benzodiazepine können bei längerer Einnahme eine Abhängigkeit auslösen.

Schwerpunkt: Angst – das ambivalente Gefühl

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
Fachpsychologe Diabetes (DDG), Psychologischer Psychotherapeut,
Diabetes Zentrum Mergentheim, 97980 Bad Mergentheim
E-Mail: kulzer@diabetes-zentrum.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (10) Seite 22-25

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