Selbsthilfe bei Ängsten

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Selbsthilfe bei Ängsten

Diabetes ist für viele Menschen mit Ängsten verbunden. Man kann oft effektiv etwas dagegen tun … und sogar selbst! Das hat auch Goethe schon beschrieben.

Wussten Sie, dass Goethe unter starken Ängsten litt? In seinem Werk „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt er, wie er diese selbst erfolgreich behandelte:

„Ein starker Schall war mir zuwider, krankhafte Gegenstände erregten mir Ekel und Abscheu. Besonders aber ängstigte mich ein Schwindel, der mich jedes Mal befiel, wenn ich von der Höhe herunterblickte. Allen diesen Mängeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weise. Abends beim Zapfenstreich ging ich neben der Menge Trommeln her, deren gewaltsame Wirbel und Schläge das Herz im Busen zersprangen mögen. Ich erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterturms und saß in dem sogenannten Hals, wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte, wieder heraus in die freie Luft zu treten“, und später: „Ich habe es darin auch wirklich so weit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals wieder außer Fassung setzen konnte.“

Wenn Sie selbst etwas gegen Ängste tun möchten oder einer Angsterkrankung vorbeugen möchten, ist es wichtig, dass Sie, wie Goethe, diese ernst nehmen und etwas dagegen tun.

Gehen Sie aktiv gegen Ängste vor

Ängste entstehen zwar oft im Kopf, jedoch werden Sie Ängste nicht durch Überlegungen, logische Erklärungen oder Grübeln los. Viel besser ist es, etwas aktiv gegen die Angst zu unternehmen. Wenn ein Skispringer eine unangenehme Landung hatte, wird ihn sein Trainer relativ schnell animieren, noch einmal zu springen. Nach einem Unfall mit einem Auto ist es ratsam, nicht zu lange zu warten, bis man sich wieder an das Steuer setzt.

Was Ängste aufrechterhält, ist das Vermeiden angstauslösender Situationen. Besser ist es, sich Ängsten zu stellen, wie Goethe dies erfolgreich getan hat. Wenn Sie zum Beispiel eine starke Angst vor einer Rede oder einem öffentlichen Auftritt haben, sollten Sie sich immer wieder in solche Situationen begeben, sie als Herausforderung sehen und so lange üben, bis Ihnen der Vortrag oder Auftritt leichter fällt.

Genauso sollten Sie aktiv mit anderen Leuten über Ihren Diabetes sprechen und gezielt in der Öffentlichkeit Ihren Blutzucker messen. Wenn Sie im Alltag ohne Grund den Blutzucker aus Angst viel zu häufig messen, sollten Sie eine gewisse Zeit ohne Verfügbarkeit eines Blutzuckermessgerätes verbringen.

Statt vermeiden: schnell reagieren!

Ängste sind leichter in den Griff zu bekommen, wenn sie noch nicht lange bestehen. Wichtig ist daher, beim Auftreten von Ängsten frühzeitig zu reagieren, bevor Sie vor lauter Angst immer mehr Situationen vermeiden. Sprechen Sie mit anderen Menschen, Ihrem Arzt oder dem Diabetesteam über Ihre Angst – das ist schon ein erster, wichtiger Schritt.

Sprechen Sie mit Ihrem Arzt auch über die tatsächlichen Risiken zum Beispiel von Unterzuckerungen oder in Bezug auf Folgeerkrankungen: Nicht selten liegt starken Sorgen oder Ängsten auch eine falsche Risikoeinschätzung über mögliche Gefahren zugrunde.

Schulung, Schulung, Schulung

Bei Diabetes ist eine gute und ausführliche Diabetesschulung unverzichtbar. In modernen Schulungsprogrammen wie MEDIAS 2 für Typ-2-Diabetiker oder PRIMAS für Typ-1-Diabetiker wird auch ausführlich über mögliche Sorgen und Ängste im Zusammenhang mit Diabetes gesprochen – und es werden Wege aufgezeigt, wie man besser mit Ängsten umgehen kann. Die beiden Top-Themen bei Menschen mit Diabetes – die Sorge vor Unterzuckerungen, die Angst vor Folgeerkrankungen – werden dort ausführlich behandelt.

Mit HyPOS und BGAT gibt es auch spezielle Schulungsprogramme für Menschen mit Ängsten vor Hypoglykämien. Die PRIMAS-Zusatzmodule “Folgeerkrankungen” und “Partnerschaft” sind bei großen Sorgen bezüglich Folgeerkrankungen gut geeignet. Auch in den Schulungsprogramen für Kinder, Jugendliche und Eltern werden Wege aufgezeigt, übermäßige Ängste mit Diabetes zu vermeiden. Sprechen Sie Ihr Diabetesteam auf diese Schulungen an, in denen Sie auch wertvolle Hinweise von gleichermaßen betroffenen anderen Menschen mit Diabetes bekommen.

Erfolgreiche Entspannungstechniken

Bei leichteren Ängsten helfen oft schon Entspannungstechniken und Stressabbau; es gibt viele Entspannungsmethoden, die Sie in Büchern, im Internet oder in Videos kennenlernen können. Eine sehr erfolgreiche, weil aktive Methode, ist das Muskelentspannungstraining nach Jacobson. Hierbei werden schrittweise bestimmte Teile des Körpers (z. B. die Hand) angespannt und dann schrittweise entspannt.

Auch Yoga, Tai-Chi oder autogenes Training sind hilfreiche Methoden. Mit Biofeedback können Sie bestimmte Körperfunktionen mit Hilfe eines elektronischen Geräts wahrnehmen und dann willentlich beeinflussen, zum Beispiel Muskelverspannungen lockern. Wo Sie diese Methoden erlernen können, erfahren Sie über Ihren Arzt, Ihre Krankenkasse oder bei der Volkshochschule.

Trainingsprogramme gegen die Angst

Für fast jede Angst gibt es verhaltenstherapeutische Programme, die bei leichten Ängsten durchaus hilfreich sein können. Sie finden diese Programme im Buchhandel. Immer häufiger werden auch Trainingsprogramme gegen Ängste im Internet angeboten – teils zum Selbststudium, mit der Aufforderung, konkrete Aufgaben zu erfüllen, im Kontakt mit einem Therapeuten per Computer, Tablet oder auch in einer virtuellen Gruppe in einem Chatroom mit anderen Teilnehmern.

Bei Folgeerkrankungen: Kontakt zu anderen suchen

Liegen bereits Folgeerkrankungen vor und die Angst bezieht sich auf deren Verschlimmerung, ist die Bewältigung schwieriger, weil man den Anlass der Angst ständig erlebt. Aber auch in solch einer Situation ist es wichtig – am besten im Gespräch mit anderen Menschen mit Diabetes, dem Arzt oder einem Psychotherapeuten –, sich zu überlegen, ob eigene Verhaltensweisen eventuell dazu beigetragen haben, dass es zu den Folgeschäden kam.

Nach dem Motto “Ein Fehler ist nur dann ein Fehler, wenn man ihn immer wieder wiederholt” können Sie vielleicht neue, aktive Strategien finden, wie Sie das Fortschreiten der Folgeerkrankungen verhindern können. Es ist wichtig, nicht wie das Kaninchen vor der Schlange vor den Folgeschäden zu resignieren, sondern zu überlegen, welche Möglichkeiten es in dieser Situation gibt, aktiv gegen diese Befürchtungen etwas zu tun und auch zu überlegen, welche Lebensmöglichkeiten trotz der Diabetesfolgen noch verbleiben.

Im Fall sehr schwerer Folgeerkrankungen ist der Kontakt zu anderen Menschen in einer ähnlichen Situation besonders wichtig, die Verständnis, konkrete Hilfen und Ermutigung geben können.

Falsche Strategien vermeiden

Versuchen Sie, Situationen, die Ihnen Angst machen, nicht aus dem Weg zu gehen. Kurzfristig entlastet dies zwar, aber dieses Vermeidungsverhalten führt allmählich dazu, dass sich die Angst verfestigt und oft mit der Zeit sogar noch zunimmt.

Eine ganz schlechte Strategie ist es auch, die Angst durch Alkohol, Drogen wie Marihuana oder Beruhigungsmittel zu betäuben. Zwar bringt dies für kurze Zeit Erleichterung, kann aber dazu führen, dass Sie immer mehr auf diese Substanzen angewiesen sind, um die Angst zu bekämpfen. Besonders bei Beruhigungsmitteln wie Benzodiazepinen kann dies sehr schnell zu einer Abhängigkeit führen.

Finden Sie sich nicht ab mit der Angst

Wenn Sie feststellen, dass Sie allein Ihre Ängste nicht in den Griff bekommen und diese auch die Diabetestherapie erschweren, sollten Sie nicht zögern, professionelle Unterstützung zu suchen. Finden Sie sich nicht mit der Angst ab, denn es gibt eine ganze Reihe gut überprüfter Therapieansätze, mit denen sich verschiedene Arten von Ängsten meist gut behandeln lassen.


Interview:

„Angststörungen sind gut behandelbar“

Dr. Andrea Benecke ist Mitglied des Vorstandes der Bundespsychotherapeuten­kammer, Vizepräsidentin der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz und leitet eine spezielle Ambulanz für Menschen mit Diabetes und psychosozialen Problemen an der Universität Mainz. Wovor hat sie selbst Angst? Was empfiehlt sie Personen, die eine Angststörung haben?

Diabetes-Journal (DJ): Stimmt es, dass die Deutschen besonders ängstlich sind?

Dr. Andrea Benecke: Naja, das hat man uns vor einigen Jahrzehnten nachgesagt. Wir hatten große Angst vor Atomkraftwerken, dem Waldsterben und so manchem anderen. Inzwischen, scheint mir, hat sich das schon geändert. Uns bringt doch seit einigen Jahren kaum noch etwas aus der Ruhe.

DJ: An wen wendet man sich, wenn man an einer Angststörung leidet?

Benecke: Wenn man vor bestimmten Dingen oder Situationen solche Angst hat, dass man sie ständig vermeidet oder nur mit sehr großer Angst aushält und man vielleicht auch noch Nachteile dadurch erlebt (z. B. gibt es Menschen, die keine Bewerbungsgespräche führen aus Angst, sich zu blamieren, und arbeitslos bleiben), dann sollte man einen Psychotherapeuten aufsuchen.

DJ: Gibt es Psychotherapeuten, die besondere Kenntnisse des Diabetes aufweisen?

Benecke: Ja, die gibt es. In Rheinland-Pfalz können sich Psychotherapeuten seit 2004 im Bereich Diabetes weiterbilden und 55 haben den Titel schon erhalten. Viele davon findet man natürlich in Rheinland-Pfalz oder auch in Hessen – aber auch in anderen Bundesländern gibt es diese Spezialisten mit dem Titel “Psychodiabetologe”.

DJ: Welche Form der Psychotherapie empfehlen Sie bei Angststörungen?

Benecke: Die besten Wirksamkeitsnachweise gibt es für die Verhaltenstherapie. Je nachdem, wie lange die Angst schon besteht oder vor wie vielen Dingen man Angst hat, dauert die Therapie dann unterschiedlich lange.

DJ: Wie erfolgreich sind Psychotherapien bei Ängsten?

Benecke: Angststörungen sind gut behandelbar. Die meisten Patienten haben am Ende der Therapie keine beeinträchtigende Angst mehr. Natürlich heißt das nicht, dass man vor nichts mehr Angst hat. Das wäre ja vielleicht auch nicht erstrebenswert. Aber leiden soll man darunter nicht mehr.

DJ: Wie findet man einen geeigneten Therapeuten?

Benecke: Unter dem link www.bptk.de/service/therapeutensuche.html der Bundespsychotherapeutenkammer finden sich mit einem Klick alle Landespsychotherapeutenkammern. Dort kann man ganz einfach mit Eingabe der Postleitzahl oder des Ortes nach Psychotherapeuten vor Ort suchen. Über die Homepage des Vereins Diabetes und Psychologie www.diabetes-psychologie.de können Sie sich über Therapeuten informieren, die spezielle Kenntnisse über Diabetes haben.

DJ: Wovor haben Sie Angst?

Benecke: Ehrlich gesagt mache ich um größere Spinnen einen weiten Bogen. Zum Glück hat mein Mann da keine Probleme. Ich glaube, einen Menschen mit Spinnenphobie könnte ich nicht behandeln.

DJ: Was ist Ihr Tipp an die Leser des Diabetes-Journals?

Benecke: Wenn Sie merken, dass eine Angst Ihr Leben einschränkt, dann suchen Sie einen Psychotherapeuten auf. Auch bei starken Ängsten vor Hypoglykämien (wenn Sie zum Beispiel Ihre Blutzuckerwerte viel zu hoch halten, damit keine Hypoglykämien auftreten können) oder auch bei Ängsten vor Folgeerkrankungen warten Sie nicht allzu lange, bis Sie sich Hilfe holen. Ängste haben die starke Tendenz, immer schlimmer zu werden und sich auszuweiten. Und dann wird die Behandlung auch langwieriger und komplizierter.

Schwerpunkt: Angst – das ambivalente Gefühl

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
Fachpsychologe Diabetes (DDG), Psychologischer Psychotherapeut,
Diabetes Zentrum Mergentheim, 97980 Bad Mergentheim
E-Mail: kulzer@diabetes-zentrum.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (10) Seite 18-21

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