Sklave des Diabetes sein? Nein, sagt Helge Hernmarck

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Sklave des Diabetes sein? Nein, sagt Helge Hernmarck

“Ich habe immer Wert darauf gelegt, niemals Sklave meines Diabetes zu sein, und damit bin ich meistens sehr gut gefahren”, sagt Helge Hernmarck. Und was für ein Leben das bis jetzt gewesen ist: Mehrere Berufe hat er erlernt und ausgeübt, er hat im Ausland gearbeitet und 5 Jahre lang in Finnland gelebt – selbstgebaute Blockhütte, eigene Insel, fünf Huskys und eine Katze inklusive. Wie all das mit dem Diabetes gut gelingen konnte, erzählt er hier.

Mit weit über 1 000 mg/dl (55,6 mmol/l) wurde ich 1951 in die Diabetesklinik des Barmbeker Krankenhauses eingeliefert. Dort gab es den berühmten Zucker-Spezialisten Prof. Ferdinand Bertram, der sich ein hervorragendes Team aufgebaut hatte. Ich war 9 Jahre alt, sah aus wie ein alter Mann, ausgemergelt und gezeichnet. Ich sehe immer noch die Tränen der Freude in den Augen meiner Mutter, als ich die erste Dosis Altinsulin aus der Rekord-Spritze hinter mir hatte!

Es folgten Infusionen und vier Wochen Wasserschleim sowie alle zwei Stunden eine weitere Spritze mit Rinderinsulin. Jede dieser Spritzen mit den dicken und langen Kanülen war ein Stich in meine Kinderseele. Meine Zähne wackelten durch den Haferschleim schon bedenklich,die erste Scheibe Schwarzbrot danach war ein genussvolles Erlebnis!

Dr. Ottos Prognose aus den 1950ern

Dr. Hellmut Otto und Dr. Koopmann waren die ständigen Begleiter der damals erst wenigen Kinderpatienten. Den Stationsarzt Dr. Otto habe ich nachts während einer schweren Unterzuckerung einmal fest in den Bauch geboxt. Am nächsten Tag erzählte er mir freundlich davon. Er meinte, wenn ich mit 50 Jahren noch auf beiden Beinen stehen würde, meine Nieren noch funktionierten und meine Augen jedes Buch lesen könnten, hätte ich wohl einiges richtig gemacht!

Ich war gerade 10 Jahre alt, und was er sagte, war für mich so fern … Ich habe Prof. Otto kurz vor seinem Tod in Bad Lauterberg in der dortigen Diabetesklinik als Gast getroffen. Ich war inzwischen über 60 und noch sehr fit. Ich sprach ihn auf unser gemeinsames Erlebnis an. Er erinnerte sich sofort, schloss mich in seine Arme, und wir führten ein langes und intensives Gespräch. Er war ein großartiger und bedeutender Mann!

Nicht alles war möglich – aber Musik, Sport und die Huskys haben mir geholfen

Als Kind lernte ich durch Zufall den “Urwaldarzt” Prof. Dr. mult. Albert Schweitzer kennen. Er besuchte in Hamburg eine Schule, die seinen Namen trug. Ich wollte später Sozialarbeiter werden, eventuell in Afrika. Leider ist nie etwas daraus geworden. Die vielen nötigen Impfungen und mein Diabetes waren Grund genug für eine Absage! Auch Australien und Südafrika war der Diabetes suspekt und damals eine sofortige Ablehnung wert.

Meine schulischen Leistungen waren nicht besonders. Die labilen Werte und die Entwicklungen in der Pubertät trugen sehr dazu bei, und häufig war Nachhilfeunterricht angesagt. Der Sport jedoch half mir sehr, meine Identität und mein Selbstbewusstsein zu stärken, selbst kreativ zu sein und etwas Eigenes zu bewegen oder zu entwickeln.

Ich gehörte einige Zeit einer Marionetten- und Puppenbühne an, und die Musik und meine Liebe zur Gitarre gaben mir und meiner Seele immer wieder neuen Schub, Problemen Paroli zu bieten. Meine 5 Huskys und ich bildeten ein fast unschlagbares Team. Meine Leithündin lernte sogar aus sich heraus, mich bei meinen gelegentlichen Unterzuckerungen erfolgreich zu ermahnen. Sie roch es wohl, spürte es – ich vermisse mein Hundemädchen Halli noch immer sehr!

Unbemerkte Unterzuckerungen: Ich musste meinen Beruf aufgeben

Chaotisch wurde mein Leben, als ich nach gut 40 Jahren von tierischem auf “synthetisches” Insulin umgestellt wurde. Durch meinen sehr fordernden Beruf hatte ich kaum Zeit, den Blutzucker öfter zu testen. Ich war jetzt zeitweilig Streetworker am Hamburger Hauptbahnhof. Dort kam es zu Unterzuckerungen, die ich nicht mehr merkte, mir unterliefen gravierende Fehler. Nur durch den Schwerbehindertenausweis war ich vor einer Kündigung sicher.

Mein Arbeitgeber und ich waren uns einig, dass ich die Rente einreichen sollte. Nach knapp einem Jahr war dieses Kapitel erfolgreich abgeschlossen. Heute wäre das wohl kaum noch denkbar!?

Ein Blockhaus und eine Insel in Finnland

Nun: Ich schaffte mir ein Wohnmobil an und lebte mit meinen 5 Hunden darin hervorragend. Meine Partnerinnen mussten meine Rasselbande akzeptieren! Ich baute mir in Finnland ein Blockhaus – und kaufte extra eine kleine Insel, damit die Hunde und meine kleine Katze sich dort frei entfalten konnten. Die Tiere, die Natur, der Wald und das Wasser, die gemeinsamen Bootsfahrten und Abenteuer gaben mir immer wieder neuen Stoff für erlebte Geschichten, Lieder und Gedichte. Man kann wohl sagen, dass ich ein Romantiker bin!

Mit dem Wohnmobil hat Helge Hernmarck ausgedehnte Reisen unternommen – das ist inzwischen leider nicht mehr möglich.

Heute schaue ich mit Dankbarkeit auf ein inhaltsvolles Leben zurück. Meine jetzigen Gebrechen haben nichts mit Diabetes zu tun, aber ich akzeptiere sie und versuche, das Beste daraus zu machen.

Die heutige Medizin hat schon so viel auf den Weg gebracht, auch für uns Diabetiker. Geben wir deshalb unserem “Handicap” symbolisch, partnerschaftlich immer wieder die Hand und versuchen, es mit Humor, Phantasie, Disziplin und ein wenig Verstand zu meistern!


von Helge Hernmarck

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2018; 67 (1) Seite 34-35

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