Sport – gerade jetzt sinnvoll bei Übergewicht

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© Bernd Leitner - Fotolia
Sport – gerade jetzt sinnvoll bei Übergewicht

Hat sich bei Ihnen die „Corona-­Faulheit“ breitgemacht? Sie sind damit nicht allein: Viele Menschen haben sich während der Pandemie weniger bewegt – was vor allem bei Übergewicht und Typ-2-Diabetes ungünstig ist. Starten Sie jetzt durch!

Der Fall

Susanne M. (70 Jahre alt) hatte während ihrer letzten Rehabilita­tionsmaßnahme in einer Diabetes-­Klinik von dem Therapeuten erfahren, dass schon zahlreiche, auch ältere übergewichtige, Typ-2-Diabetiker, das Angebot einer Uni-Klinik nutzen, über eine besondere App den Erfolg ihrer körperlichen und Ernährungsbemühungen nach der Reha auch zu Hause zu kontrollieren. Nachdem sie zunächst gezögert hatte, ließ sie sich schließlich doch von Mitpatienten überzeugen, mitzumachen.

Nach 3 Monaten Training zu Hause und der Ernährungsumstellung konnte sie ihr Gewicht um mehrere Kilogramm senken, außerdem hatte sie jetzt wieder weitgehend normale Blutzuckerwerte. Das HbA1c ging von 9,3 % auf 8,6 % zurück und auch der Blutdruck war normal.

Durch den zusätzlichen regelmäßigen Kontakt mit der Uni konnte sie ihre Ergebnisse mit denen von anderen Teilnehmern vergleichen – sie fand dies spannend, interessant und sehr motivierend.

Die Corona-Pandemie ist für Millionen Menschen nicht nur furchtbar wegen der vielen Einschränkungen, die sie mit sich bringt. Insbesondere für Menschen mit Diabetes, speziell übergewichtige, ist sie eine besondere Herausforderung. Geschlossene Sporthallen, Bäder und Fitness-Center, verbunden mit der kalten, dunklen Jahreszeit und Homeoffice führten wegen des Wegfalls von Wegestrecken zur Arbeit und zurück dazu, dass viele Menschen an Gewicht zugenommen haben.
Laut Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin haben sich etwa 50 % aller Deutschen weniger bewegt und etwa 40 % haben im Schnitt 5,5 kg zugenommen. „Frust-­Essen“ ist eine weitere Ursache.

Andererseits wissen wir alle, dass selbst eine minimale regelmäßige körperliche Aktivität – z. B. während des Telefonierens herumzulaufen, zwischendurch Kniebeugen zu machen oder grundsätzlich zu stehen statt zu sitzen und Konferenzen mit Headset in Bewegung durchzuführen – hilft, die Wirkung von Insulin in den Muskeln zu verbessern. Dies steigert die Aufnahme von Zucker aus dem Blut in den Muskel – niedrigere Blutzuckerwerte sind die Folge. So lassen sich durch regelmäßiges Aufstehen während der Computerarbeit, insbesondere nach dem Essen, speziell bei übergewichtigen Menschen die Blutzuckerwerte oft schon deutlich senken.

Muskeln reagieren nicht auf Insulin

Wie Muskeln unter der Wirkung von Insulin Zucker in die Zellen aufnehmen, war bisher nicht im Detail bekannt. Aktuelle Forschungen zeigen, dass manche Muskelzellen nicht richtig auf Insulin reagieren – über die Gene vererbte Faktoren scheinen dabei eine Rolle zu spielen, wie Forschungen des Deutschen Diabetes-Zentrums zeigen. Es gibt aber offensichtlich noch weitere Wege, über die Zucker aus dem Blut auch bei Insulinunempfindlichkeit in die Muskeln aufgenommen werden kann. Vielleicht könnte diese Forschung den Weg ebnen zu Medikamenten, die die Zuckeraufnahme in die Muskeln verbessern.

Bis es möglicherweise einmal so weit sein wird, ist eine bessere Aufnahme von Zucker nur durch regelmäßige körperliche Aktivität bei gleichzeitiger an den Bedarf angepasster Ernährung zu erreichen, weil dadurch die Insulinresistenz reduziert wird. Das gilt besonders bei Übergewicht. Entscheidend ist: Man muss etwas tun! Jede noch so kleine bzw. kurze Bewegung im Alltag ist besser als keine!

Wenig Bewegung bringt bereits viel

Laut einer aktuellen Studie des Hector-Centers für Ernährung, Bewegung und Sport des Universitätsklinikums Erlangen können schon 30 Minuten Intervall-Ausdauertraining pro Woche bei stark übergewichtigen Menschen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen senken. So lässt sich auch oft die Arbeitsfähigkeit wiederherstellen und somit die Lebensqualität verbessern. Das Training umfasste ein 15-minütiges Intervall-Ausdauertraining, das 2-mal pro Woche durchgeführt wurde – unterstützt durch eine Ernährungsberatung. Nach 3 Monaten hatten nicht nur alle Teilnehmer deutlich abgenommen – auch Blutdruck und körperliche Fitness hatten sich gebessert.

Langsam starten

Für alle untrainierten Menschen gilt, dass sie sich über mehrere Wochen langsam an ihr persönliches Limit herantasten sollten. So können sie eine Überlastung des Herzens und auch von Bändern, Sehnen und Muskeln verhindern. Regelmäßiges Gehen z. B. beginnend mit etwa 2000 Schritten am Tag und gesteigert bis zu 10.000 Schritten am Tag hat sich als sehr effektiv erwiesen. Insbesondere bei ex­trem übergewichtigen Patienten hat sich statt des Laufens oder Walkens Fahrradfahren z. B. auf einem Cross- oder Ellipsoid-Trainer bewährt.

Bestimmung der optimalen Herzfrequenz beim Training


Formel:
Ruhe-Herzfrequenz + (Faktor je nach Trainingszustand × Herzfrequenzreserve)
  • Herzfrequenzreserve (HFR): maximale Herzfrequenz im Belastungs-EKG minus Ruhe-Herzfrequenz
  • Faktoren:
    Untrainierte: 0,5
    extensiveres Ausdauertraining: 0,6
    intensives Ausdauertraining: 0,8

Beispiel eines Untrainierten:

  • Ruhe-Herzfrequenz: 80 Schläge/Minute
  • maximale Herzfrequenz beim Belastungs-EKG: 155 Schläge/Minute
  • Herzfrequenzreserve (HFR): 155 Schläge/Minute − 80 Schläge/Minute = 75 Schläge/Minute
  • optimale Trainingsherzfrequenz: 80 + (0,5 × 75 Schläge/Minute) = 117 Schläge/Minute

Studien zeigen, dass durch 3-mal täglich 10 Minuten auf dem Ergometer bessere Blutzuckerwerte zu erreichen sind als durch 1-mal täglich 30 Minuten – Fitness und Kondition bessern sich in beiden Fällen. Ergänzend sinnvoll ist ein mildes Krafttraining mit z. B. 1 bis 2 kg schweren Hanteln, wodurch zusätzlich ein Zuwachs an Muskelmasse erreicht werden kann.

Um sich zu Bewegung zu motivieren, kann das Verwenden digitaler Hilfsmittel hilfreich sein. Wearables und Apps können sicher besonders für Technik-Interessierte beim Start zu mehr Bewegung unterstützen. Auch Systeme zum kontinuierlichen Glukosemessen können die Effekte von Bewegung direkt sichtbar machen und so ebenfalls zur Motivation beitragen.

Übergewicht? Spezielle Empfehlungen für den Sport-Start

Je nach Belastung und Dauer kann durch Sport das 8- bis 10-Fache des Ruhebedarfs an Energie verbraucht werden. So kann die bei Typ-2-Dia­betikern, aber auch bei übergewichtigen Typ-1-Diabetikern häufig bestehende Insulinresistenz reduziert und durch einen verstärkten Zuckertransport aus dem Blut in die Muskeln gleichzeitig der Glukosespiegel im Blut gesenkt werden. Der durch die Muskelarbeit verursachte Zuckerabfall im Blut wird in der Regel durch die Steigerung der Zuckerfreisetzung aus der Leber kompensiert.

Nach der Bewegung holen sich sowohl die Leber als auch die Muskeln den beim Sport dazugegebenen Zucker wieder zurück, um ihre Zuckerspeicher wieder zu füllen. Dies nennt man Wiederauffüll-Effekt. Werden Tabletten, die die Insulinausschüttung anregen, eingenommen oder wird Insulin gespritzt, erhöht sich dadurch auch nach der Bewegung das Risiko für eine Unterzuckerung. Sport wirkt nach! Vorbeugen kann man durch das Reduzieren der Insulindosis, möglicherweise auch der Tablettendosis in Absprache mit dem behandelnden Arzt. Auch die Aufnahme von Kohlenhydraten kann helfen, einer Unterzuckerung vorzubeugen.

Weitere Effekte von Sport


  • Rückbildung einer Fettleber (Verbesserung der Blutzuckerwerte)
  • bessere Blutfette: LDL-Cholesterin (das „schlechte“) sinkt und HDL-Cholesterin steigt leicht
  • der Blutdruck sinkt systolisch und diastolisch
  • die Insulinresistenz (Insulinunempfindlichkeit) geht zurück, wodurch Insulin besser wirkt, der Blutzucker sinkt und die Beta-Zellen, die Insulin produzieren, geschont werden; Zucker, Fette und Eiweiß werden besser verstoffwechselt
  • durch langsamen Muskelauf- und Fettabbau wird man fitter, das Herz wird entlastet, die Herzfrequenz (und damit auch der Sauerstoffverbrauch) sinkt; die Durchblutung der Blutgefäße bessert sich und sie können bei Bedarf wieder mehr Blut (und damit Sauerstoff) befördern, z. B. in die Gefäße des Herzens und der Beine
  • das Risiko für bestimmte Krebsarten und chronische Lebererkrankungen (z. B. nicht alkoholische Fettleber-Erkrankung) durch extremes Übergewicht (Adipositas) lässt sich deutlich senken

Der positive Effekt der körperlichen Aktivität auf den Zuckertransport in die Muskeln hält nach Ausdauertraining nur für einige Tage an. Deshalb ist es in der Regel erforderlich, 3-mal pro Woche mäßig zu trainieren. Am besten bewährt hat sich ein Ausdauertraining mit etwa 50 bis 60 % der maximalen Herzfrequenz bei Maximaltraining. Noch größere Effekte haben unterschiedliche Belastungen, z. B. beim Intervalltraining, mit Intensitäten zwischen 60 und 80 % der maximalen Herzfrequenz.

Ausreichend Bewegung im Haushalt?

Gartenarbeit und Hausputz sind wichtig – aber sie sind kein Ersatz für ein Herz-Kreislauf- oder Muskeltraining. Nach den aktuellen Erkenntnissen wird empfohlen, 3-mal pro Woche mindestens 30 bis 50 Minuten so zu trainieren, dass man ins Schwitzen kommt. Ergänzt werden sollte nach diesen aktuellen sportmedizinischen Empfehlungen das Ausdauertraining durch ein leichtes Schnellkrafttraining. Mit zunehmendem Alter fördern die beiden Trainingsarten auch die Alltagsbeweglichkeit und -kraft, z. B. für das Anziehen von Kompressionsstrümpfen, weniger Gefährdung bei einem ansonsten harmlosen Sturz und das Tragen von Gewichten wie eines Kastens Wasser.

Nicht einfach starten: Vorbereiten ist wichtig

Wer noch nie oder lange keinen Sport getrieben oder sich intensiver bewegt hat, sollte nicht einfach starten. Sinnvoll ist, sich vorher beim Arzt durchchecken zu lassen und auch eine möglicherweise notwendige Anpassung der Diabetestherapie zu besprechen. Durch ein Belastungs-EKG kann beim Hausarzt, Sportmediziner oder Kardiologen außerdem nach einer einfachen Formel die Trainingsherzfrequenz ermittelt werden. Bei Menschen mit Diabetes hat sich die Karvonen-Formel zum Abschätzen einer optimalen Herzfrequenz bewährt.

Zusammenfassung


Die Corona-Pandemie führt uns vor Augen, wie wichtig regelmäßige soziale Kontakte sind. Für Menschen mit Diabetes und/oder Übergewicht kommt ein erhöhtes Risiko durch zu wenig Bewegung bei meist erhöhter Kalorienaufnahme hinzu. Auch zu Hause in den eigenen vier Wänden kann man einiges tun, um Blutzuckerwerte und Gewicht stabil zu halten und damit auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken.

Jede Bewegung ist wichtig und besser als keine. Wer einen Hometrainer, ein Ergometer, eine Rudermaschine oder auch nur ein Trainings-Band hat, sollte das nutzen. Aber auch einfache Übungen wie Liegestütze und Herumlaufen können helfen. Noch mehr Spaß bringt Bewegung aber an der frischen Luft.


Autor:

Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Internist, Angiologe, Diabetologe und Sozialmediziner
ehem. Lehrbeauftragter der Universität Würzburg und Chefarzt Deegenbergklinik
PrivAS Privatambulanz (Schulung)

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (1) Seite 26-29

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