Von einem Japaner namens Hashimoto

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Von einem Japaner namens Hashimoto

Jeder vierte Typ-1-Diabetiker entwickelt früher oder später eine Hashimoto-Thyreoiditis – eine Autoimmunentzündung der Schilddrüse. Erfahren Sie, wie diese diagnostiziert und behandelt wird.

Paul kam zu mir in die Praxis, weil der Hausarzt bei ihm eine schwere Unterfunktion der Schilddrüse festgestellt hatte. Die Schilddrüsenhormone fT3 und fT4 waren stark erniedrigt und es wurde ein sehr hoher TSH-Wert im Blut bei Paul bestimmt. Er erzählte mir, dass man bei ihm vor 3 Jahren Typ-2-Diabetes festgestellt habe und er zurzeit nur Metformin als Medikament einnehme.

Er war 45 Jahre alt und hatte einen Body-Mass-Index (BMI) von 28 kg/m2. Seine Stimme klang heiser, seine Haut war trocken und rissig und sein Gesicht blass und teigig. Auf Nachfragen klagte er über erhöhte Kälteempfindlichkeit, Verstopfung und eine zunehmende Antriebs- und Lustlosigkeit. Zum Schluss gestand er mir, dass er immer weniger erotisches und sexuelles Interesse an seiner (15 Jahre jüngeren) Frau habe.

Untersuchung: Antikörper- und Enzym-Bestimmung

Zu den Untersuchungen, die bei Paul bereits vom Hausarzt vorlagen, ergänzten wir die Bestimmung von Antikörpern gegen einen Eiweißkörper, der nur in den Schilddrüsenzellen vorkommt – und gegen ein Enzym, das in den Zellen der Schilddrüse das Jod in die späteren Hormone fT3 und fT4 einbaut. Mediziner sprechen von Antikörpern gegen Thyreoglobulin (Tg-Ak) und Thyreoperoxidase (TPO-Ak).

Bei Paul war vor allem der TPO-Ak-Titer im Blut sehr hoch. Die Untersuchung von Paul schloss ich mit einer Ultraschalluntersuchung seiner Schilddrüse ab. Dabei ergab sich ein charakteristischer Befund, der meine Verdachtsdiagnose der Schilddrüsenerkrankung bei Paul abrundete. Die Schilddrüse war klein, und das Echomuster glich dem der Halsmuskulatur und war nicht hell und gleichmäßig.

Ich erläuterte Paul, dass er seit vielen Jahren an einer Autoimmunentzündung der Schilddrüse erkrankt sei. Die Erstbeschreibung dieser Schilddrüsenerkrankung geht auf einen Japaner zurück: Ihm zu Ehren trägt sie den Namen Hashimoto-Thyreoiditis.

Die Diagnose der Hashimoto-Thyreoiditis stützt sich auf den Nachweis der Schilddrüsen-Antikörper gegen Thyreoglobulin und Thyreoperoxidase und den charakteristischen Ultraschallbefund der Schilddrüse. Bei den Schilddrüsenantikörpern sind die TPO-Ak am aussagekräftigsten. Sie werden nahezu bei allen Patienten (über 90 Prozent) mit dieser Autoimmunerkrankung gefunden.

Hashimoto-Thyreoiditis: Schmerzlos und häufiger bei Frauen

Die Hashimoto-Thyreoiditis ist eine chronische Erkrankung, die schmerzlos verläuft und Frauen etwa 8- bis 10-mal häufiger als Männer betrifft und langfristig durch den Gewebsuntergang zu einer Unterfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose) führt. Bei etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung lassen sich erhöhte TPO-Ak und/oder Tg-Ak-Konzentrationen im Serum nachweisen.

Etwa ein Viertel der Kinder, von denen ein Elternteil an einer Hashimoto-Thyreoiditis leidet, weisen erhöhte Tg- bzw. TPO-Ak auf. Diese Häufigkeit der Hashimoto-Thyreoiditis macht verständlich, warum viele Endokrinologen bei ihr mit Recht von einer Volkskrankheit sprechen.

Kehren wir kurz zu Paul zurück: Die von ihm geschilderten Beschwerden waren bunt und gleichzeitig charakteristisch für das Krankheitsbild der Schilddrüsenunterfunktion. Mit zunehmendem Alter werden jedoch auch schwere Hypothyreosen immer symptomärmer und bleiben deshalb oft lange Zeit unentdeckt. Wer denkt schon bei einer 70-jährigen Patientin an eine Hypothyreose als wahren Grund von Verstopfung oder Konzentrations- und Gedächtnisstörungen?

Die Hashimoto-Thyreoiditis ist die häufigste Ursache für eine Schilddrüsenunterfunktion in unserer Bevölkerung und betrifft nahezu jede 10. Frau nach dem 50. Lebensjahr. Deshalb sollte man bei allen Frauen vom 50. Lebensjahr ab ein TSH-Screening durchführen.

Jeder 4. Typ-1-Diabetiker entwickelt die Autoimmunentzündung

Wussten Sie in dem Zusammenhang, dass jeder vierte Typ-1-Diabetiker früher oder später eine Hashimoto-Thyreoiditis entwickelt? Bei Frauen entwickelt sich die Hashimoto-Thyreoiditis meist in Zeiten von Veränderungen der beiden weiblichen Geschlechtshormone Östrogen und Progesteron: etwa in der Pubertät, nach einer Geburt und vor dem Klimakterium.

Es war verständlich, dass Paul mich fragte, ob er seine Autoimmunentzündung der Schilddrüse hätte verhindern können? Ob es eine Möglichkeit gäbe, ihren weiteren Verlauf zu bremsen? Und vor allem, wie die eigentliche Behandlung bei ihm aussehen und ob er wieder ganz der Alte würde? Dabei schmunzelte er verschmitzt und ich wusste, was er meinte.

Da wir die Entstehung der Hashimoto-Thyreoiditis bisher noch nicht schlüssig verstehen, gibt es keine sichere Prävention. Diese Erkrankung der Schilddrüse hat sicher etwas mit Vererbung zu tun, tritt gehäuft bei Rauchern auf und nach intensivem Stress. Aber wie Sie wissen, können wir unsere Eltern nicht aussuchen – und intensiver Stress gehört zum Leben. Es bleibt das Rauchen, und das ist ein Kapitel für sich.

Kann man den Verlauf der Hashimoto-Thyreoiditis beeinflussen? Was ist gesichert? Die Gabe von Selen (Natrium-Selenit 200 – 300 μg/Tag) kann den Autoimmunprozess positiv beeinflussen. Es kommt zu einem Abfall der Schilddrüsen-Ak in der Mehrzahl der mit Selen behandelten Patienten. Neuere Studien zum Selen liefern allerdings negative Ergebnisse, so dass eine endgültige Empfehlung nicht möglich ist.

Was nutzen Selen und Vitamin D? Antwort noch unklar

Ob eine Normalisierung der Vitamin-D-Serumkonzentration den Verlauf der Hashimoto-Thyreoiditis positiv beeinflusst, ist gleichfalls ungeklärt. Die immer wieder geäußerte Ansicht, dass eine frühzeitige Gabe von Schilddrüsenhormon die entzündete Schilddrüsenzelle quasi schont und damit einen Heilungsprozess in Gang setzt, ist wissenschaftlich nicht mehr als eine schöne, in sich plausible Geschichte – an die Patient und Arzt gern glauben.

Zusammengefasst ist die gesamte Datenlage zu diesem Thema noch sehr im Fluss; aber man macht sicherlich nichts falsch, wenn man eine Selen- und Vitamin-D3-Therapie propagiert. Übrigens: Der Autor macht das auch mit seinen Patienten.

Jede schwere Unterfunktion der Schilddrüse muss mit Schilddrüsenhormonen behandelt werden. Da T4 an den Zielzellen zu T3 umgewandelt wird, wird in der Regel nur noch L-Thyroxin verordnet. Die Dosis hängt von Alter, Krankheitsdauer, Schweregrad des klinischen Bildes und Begleiterkrankungen ab (besonders Gefäßerkrankungen des Herzens).

Individuelle medikamentöse Therapie

Bei Paul begann ich mit einer Substitutionsdosis von 25 μg L-Thyroxin pro Tag und erreichte seine tägliche Zielmedikation von 125 μg L-Thyroxin pro Tag nach 8 Wochen. Bei jüngeren Patienten ohne Begleiterkrankungen und besonders kurzer Anamnese kann man schneller vorgehen. Die Therapiedosis liegt in der Regel zwischen 1,2 und 1,8 μg L-Thyroxin pro kg Körpergewicht und Tag.

Die individuelle Therapiedosis orientiert sich am TSH-Wert, der in einem Bereich von 1 bis 2 mU/l liegen sollte. Nach der Einstellungsphase ist eine jährliche Bestimmung dieses Kontrollparameters ausreichend.

Die Behandlung der milden Unterfunktion der Schilddrüse (TSH erhöht, fT3 und fT4 im Normalbereich) mit Schilddrüsenhormon ist weiterhin Gegenstand der Diskussion. Klar ist, dass all jene Diabetikerinnen im gebärfähigen Alter zwingend mit L-Thyroxin behandelt werden müssen, die eine Schwangerschaft planen oder die bereits schwanger sind und bei denen eine milde Unterfunktion der Schilddrüse vorliegt. Der Hauptgrund ist die drohende Unterversorgung des Kindes mit Schilddrüsenhormon in der Frühschwangerschaft mit fatalen Komplikationen.

Patienten mit einer Hashimoto-Thyreoiditis entwickeln zur Hälfte eine Entzündung der Magenschleimhaut. Damit verbunden ist ein Rückgang/Ausbleiben der Vitamin-B12-Resorption im unteren Dünndarm, weil ein wichtiger Faktor in dieser veränderten Magenschleimhaut nicht mehr ausreichend gebildet wird. Bei Diabetikern mit einer Hashimoto-Thyreoiditis und einer gleichzeitig bestehenden Nervenerkrankung (peripheren Polyneuropathie) sollte deshalb auch an einen Vitamin-B12-Mangel als Ursache dieser Nervenstörung gedacht werden.

Und was ist mit Paul?

Sie werden sich abschließend vielleicht fragen, wie es Paul geht? Bei der letzten Kontrolluntersuchung erkannte ich ihn kaum wieder: Seine Stimme klang klar und deutlich, er war auffällig modisch gekleidet, hatte inzwischen sein altes Unternehmen verlassen und war dabei, sich selbständig zu machen. Seine Frau, die ihn begleitete, war schwanger. Bedarf es mehr Worte?


von Prof. Dr. med. Reinhard Zick
Endokrinologikum Osnabrück, Parkstraße 42 (Medipark Haus B), 49080 Osnabrück, E-Mail: osnabrueck@endokrinologikum.com

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2015; 64 (4) Seite 24-26

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