Wenn das Warnsignal Schmerz fehlt

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Wenn das Warnsignal Schmerz fehlt

Schmerzen sind nützlich, sie warnen uns: Hier ist etwas nicht in Ordnung! Sind die Nerven an den Füßen geschädigt, bleibt das Warnsignal aus, und aus einer kleinen Verletzung kann ein großes Problem werden. Es lohnt sich, rechtzeitig zu handeln.

Patientenbeispiel
Frau Wagner steht am Fenster und beobachtet, wie ihre Nachbarin und beste Freundin Annette nach sechs Wochen Aufenthalt im Uni-Klinikum von einem Krankenwagen nach Hause gebracht wird – allein konnte sie dies nicht mehr bewerkstelligen.

Drei Monate lang war sie zuvor mit einem vermeintlich harmlosen kleinen Geschwür am Vorfußballen herumgelaufen und hatte alle möglichen Salben ausprobiert – ohne Erfolg. Der Hausarzt sah sie erst, als sie Fieber und Schüttelfrost bekam.

In der Klinik musste dann leider der ganze Vorfuß amputiert werden. Ihre Zuckerwerte waren auch nicht gerade berauschend: Der HbA1c-Wert lag bei der Aufnahme ins Krankenhaus bei 9,5 Prozent (80 mmol/mol), der Blutzucker betrug 284 mg/dl (15,8 mmol/l)!

Zahlen zum Diabetischen Fußsyndrom

Aktuelle Daten aus den USA zeigen: Nur bei ca. 50 Prozent der Betroffenen wird ein Diabetisches Fußsyndrom rechtzeitig entdeckt; nur ein Drittel dieser 50 Prozent wiederum wird angemessen behandelt! Außerdem kommen Diabetiker mit Diabetischem Fußsyndrom etwa zehnmal häufiger ins Krankenhaus; in den USA ist der Diabetes der Grund für 70 Prozent aller Amputationen.

Und in Deutschland werden – trotz regionaler Erfolge – bei Diabetikern noch immer etwa 40.000 Amputationen pro Jahr vorgenommen (von insgesamt jährlich etwa 65.000 Amputationen).

Etwa 1 Mio. Diabetiker haben prinzipiell ein erhöhtes Risiko

Ursache ist in den meisten Fällen eine Fußverletzung. Etwa 250.000 Diabetiker ziehen sich pro Jahr eine solche Verletzung zu, wobei schätzungsweise eine Million Patienten mit Diabetes prinzipiell ein erhöhtes Risiko für eine Fußverletzung und damit auch für eine Amputation haben.

Dieses Risiko nimmt mit dem Alter zu: Bei über 50-jährigen Patienten liegt es schon bei etwa 5 bis 10 Prozent. Grundsätzlich haben Menschen mit Diabetes, wenn man Alter und Geschlecht berücksichtigt, immer noch ein etwa 7- bis 8-fach höheres Risiko für eine Amputation als Nichtdiabetiker.

Oft sind die Schuhe zu klein

Obwohl vermeintlich harmlose Fußverletzungen oft die Ursache für eine Amputation sind, tragen laut Deutschem Fußreport vom 18. August 2010 (Quelle: Deutsches Schuhinstitut) 82 Prozent der untersuchten Personen Schuhe, die nicht ihrer eigentlichen Schuhgröße entsprechen. Nicht nur die Länge des Schuhs ist dabei wichtig, sondern auch Breite und Höhe – ansonsten sind Druckstellen die Folge.

Diabetiker mit einer Neuropathie (Nervenschädigung) empfinden diese Druckstellen an den Füßen häufig nicht als schmerzhaft – ein Geschwür ist so praktisch vorprogrammiert. Hier sollte also nicht an der falschen Stelle gespart werden!

Dass Diabetiker mit Fußproblemen von Podologen (medizinischen Fußpflegern) mitbetreut werden, ist heute unabdingbar. Podologen haben eine zweijährige Ausbildung mit staatlicher Prüfung hinter sich und verfügen über die nötige Fachkenntnis (siehe Podologengesetz vom 2.1.2002). Die klassische Fußpflege dient dagegen rein der Pflege des gesunden Fußes!

Nervenschädigung hat Folgen

Hauptursache für die Entstehung eines diabetischen Fußgeschwürs ist die Nervenschädigung (Neuropathie), die bei etwa 50 bis 60 Prozent aller Patienten isoliert vorliegt, also ohne zusätzliche Durchblutungsstörung. Durch die Neuropathie lässt das Schmerz-, Berührungs- und Temperaturempfinden nach, aber auch die Schweißproduktion am Fuß, was zu trockener Haut führt.

Gelegentlich kommt es auch zum Abbau der Muskulatur (z. B. der kleinen Fußmuskeln), wodurch schließlich Krallenzehen, aber auch andere Verformungen am Fuß entstehen und der Fuß falsch belastet wird.

Als Zeichen der Fehlbelastung finden sich Schwielen mit vermehrter Hornhaut im Vorfuß- und Ballenbereich, aber auch an der Ferse und an der Seite. Dort können sich ganz leicht Druckgeschwüre oder auch Blasen und Blutergüsse bilden, ohne dass der Patient dies bemerkt, weil eben der Schmerz als Warnsignal fehlt!

Wenn eine Durchblutungsstörung dazukommt …

Eineisolierte Durchblutungsstörung ohne Nervenschaden speziell bei Rauchern, aber auch bei Patienten mit schwerer Arteriosklerose, findet sich nur in etwa 20 Prozent der Fälle. Bei einem Drittel aller Patienten liegt eine Kombination aus Durchblutungsstörung und Nervenschaden vor. Häufig können Geschwüre durch die Durchblutungsstörung nicht abheilen, auch wenn sie richtig behandelt werden – denn wo kein Blut hinkommt, kann eine Wunde nicht heilen!

Deshalb muss in diesen Fällen zuerst die Durchblutungsstörung behandelt werden. Mit speziellen durchblutungsfördernden Maßnahmen (Medikamenten, Bypässen, Katheterbehandlungen) kann oft eine bessere Durchblutung erreicht werden. Ohne Durchblutungsstörung heilen Geschwüre bei konsequenter und rechtzeitiger Behandlung fast immer ab.

Teamarbeit und Screening

Wurden Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom durch ein Team aus Diabetologe, Chirurg, Angiologe, etc. betreut, reduzierte sich nach einer englischen Studie die Amputationsrate in elf Jahren um 70 Prozent (Krishnan et al., Diabetes Care 2008). Diese Rate ließe sich sicherlich noch steigern – durch ein regelmäßiges Screening (Vorsorgeuntersuchung) auf einen Nervenschaden und eine Durchblutungsstörung (periphere arterielle Verschlusskrankheit, pAVK) und indem, besonders bei Älteren, Angehörige einbezogen werden.

Diagnose des Diabetischen Fußsyndroms

Der Hausarzt/Diabetologe kann durch eine einfache, rasche Untersuchung feststellen, ob es sich um einen Nervenschaden oder um eine Durchblutungsstörung handelt – oder ob beides vorliegt:

  1. Ist die Haut an den Füßen trocken? Ist sie warm? Gibt es vermehrt Hornhaut? Dies sind Hinweise auf einen Nervenschaden (Neuropathie).
  2. Ist die Haut kalt, feucht, weiß, bläulich? Hat der Patient Schmerzen beim Gehen? Dies spricht eher für eine Durchblutungsstörung (pAVK).
  3. Tasten der Fußpulse: Sind sie vorhanden, spricht das gegen eine Durchblutungsstörung und eher für einen Nervenschaden – umgekehrt stimmt dies nicht immer!
  4. Durch einfache Untersuchungen mittels Stimmgabel, Monofilament und einem Warm-Kalt-Element kann der Arzt feststellen, ob der Patient Vibrationen nicht mehr bemerkt, das Warm-Kalt-Empfinden herabgesetzt ist oder ob das Berührungsempfinden fehlt – all das spricht für eine Neuropathie!

Diese Untersuchungen können ergänzt werden durch apparative Maßnahmen:

  1. Die Doppler-Sonographie (Ultraschall/Flussmessung in der Arterie) erlaubt die rasche Messung der Durchblutung der Füße, ggf. ergänzt durch eine Duplexsonographie/Farbduplexsonographie beim Gefäßspezialisten (Angiologen).
  2. Selbstverständlich sollten Blutzuckerwerte, HbA1c-Werte, Gewicht und Bauchumfang aus dem Gesundheitspass Diabetes beachtet und weiterhin regelmäßig dokumentiert werden.
Schwerpunkt Diabetischer Fuß

Autor:
Dr. Gerhard-W. Schmeisl, Bad Kissingen

Kontakt:
Internist/Angiologe/Diabetologe, Chefarzt Deegenbergklinik, Burgstraße 21, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71 / 8 21-0
sowie Chefarzt Diabetologie Klinik Saale (DRV-Bund), Pfaffstraße 10, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71 /8 5-01

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2012; 61 (9) Seite 24-27

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