Wenn der Schmerz zur Krankheit wird

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Wenn der Schmerz zur Krankheit wird

Wenn der Schmerz seine natürliche Funktion als Warnsignal verliert, wenn er ständig vorhanden ist und sich verselbstständigt, kann er die Betroffenen zermürben. Im folgenden Artikel sagen wir, wie es dazu kommen kann.

Schmerz ist für uns alle lebenswichtig, sogar überlebenswichtig, denn er dient als Warnsignal und hat die Aufgabe, den Körper zu schützen, indem er auf eine tatsächlich stattfindende Verletzung oder auch drohende Gewebeschädigung hinweist. Meist geht dem Schmerz ein Reiz voraus, der zeitlich und örtlich begrenzt ist – z. B. der Kontakt mit einer brennenden Kerze; in dem Fall spricht man von einem akuten Schmerz.

Schmerz – allgemeine Definition:
Nach der Definition der internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) ist Schmerz ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potentieller Gewebeschädigung verknüpft ist – oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.

Chronischer Schmerz dagegen ist ein Sammelbegriff für einen ununterbrochenen Schmerz von mindestens 6 Monaten nach Beginn der Erkrankung, einer Verletzung oder einem Unfall. Oft ist den Betroffenen gar nicht mehr bewusst, was den eigentlichen Schmerz ausgelöst hat. Der Schmerz hat sich womöglich verselbstständigt und kann für das weitere Leben zur Qual werden.

Im Gegensatz zum akuten Schmerz, der meist wieder verschwindet, wenn z. B. die Wunde verheilt ist, kann sich ein chronifizierter Schmerz auswirken

  • körperlich (somatisch),
  • psychisch (Befindlichkeit, Stimmung, Denken, Verhaltensweise) und
  • sozial (Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit).

In diesem Zusammenhang spricht man auch, je nach Ursache,

  • von einem chronischen Krebsschmerz (Tumorschmerz),
  • von einem chronischen postoperativen bzw. traumatischen Schmerz (nach Unfall),
  • von einem chronischen muskulo-skeletalen Schmerz, der auf Defekte an Knochen, Gelenken oder Weichteilen zurückzuführen ist, oder auch
  • von chronischem peripheren neuropathischen Schmerz, wie wir ihn häufiger bei Patienten mit Diabetes im Laufe ihrer Erkrankung finden.

Schmerzwahrnehmung ist subjektiv

Seit einigen Jahren gibt es funktionell bildgebende Untersuchungsmethoden wie funktionelle Magnetresonanz-Tomographie (MRT) oder auch PET (Positronen-Emissions-Tomographie) und Magnet-Enzephalographie (MEG). Hierdurch ist es gelungen, das Gehirn genauer zu untersuchen – als Ursprung der subjektiven Wahrnehmung des Schmerzes und seiner Veränderung z. B. durch gedanklich-emotionale Faktoren. Nun wurde das bisherige bio-medizinische Modell (Ursache/Wirkung-Effekt) abgelöst durch ein bio-psycho-soziales Modell.

Das Befinden der Patienten beeinflusst das Schmerzempfinden

Man hat auch gesehen, dass der chronische Schmerz eine überwiegend “subjektive Wirklichkeit” für die Betroffenendarstellt, die sich hauptsächlich aus dem Befinden der Patienten und nicht aus medizinischen Befunden ergibt. So können Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken die Schmerzwahrnehmung und das Krankheitsgeschehen massiv beeinflussen; der Schmerz ist also nicht mehr nur Symptom, sondern er wird selbst zur Krankheit. Psychosoziale Faktoren, die für die Schmerzchronifizierung verantwortlich sein können, sind im Info-Kasten dargestellt.

Schmerz-Chronifizierung

Psychosoziale Risikofaktoren, die das Chronischwerden des Schmerzes fördern können:

Einstellungen des Patienten, z. B.:

  • “Der Schmerz muss erst weg sein, bevor ich wieder Dinge tue, die ich auch früher gemacht habe.”
  • “Der Schmerz ist durch mich nicht beeinflussbar.”

Verhalten, z. B.:

  • extrem langes “Sich-Schonen”Klagen über extrem hohe Schmerzintensität

Arbeitsunfähigkeit, z. B.:

  • berufliche Anamnese mit länger andauernden Arbeitsunfähigkeitszeiten
  • fehlender finanzieller Anreiz zur Aufnahme der Arbeit

Diagnose und Behandlung, z. B.:

  • Konfrontation mit widersprüchlichen Diagnosen (“Die Ärzte sind sich völlig uneinig.”)
  • Dramatisierung der Schmerzen durch Behandler (“Gut, dass Sie jetzt/endlich zu mir gekommen sind!”)
  • frustrane Behandlungserfahrungen (evtl. auch falsche Vorstellungen von den Möglichkeiten!)

Familie, z. B.:
überbehütender Partner (“Wie eine Glucke!”)
fehlende soziale Unterstützung (“Keiner hilft oder interessiert sich.”)

Arbeit, z. B.:

  • häufiger Jobwechsel
  • Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz

(nach: Main, Waddell: Schmerzmedizin. Verlag Elsevier, 1998)

Nicht selten gibt es auch Patienten mit einem “Ganzkörperschmerz”, diffus ausstrahlenden Schmerzen (“wide-spread pain”), einer Sonderform des primär chronischen Schmerzes, bei dem keine organische Ursache gefunden werden kann – im Unterschied z. B. zur Fibromyalgie, die sich in der Regel auf die Muskulatur und Sehnen beschränkt. Neben den bereits genannten Auslösern des akuten Schmerzes und auch der chronischen Schmerzen können Erkrankungen der inneren Organe wieEntzündungen im Bereich der Gallenblase, der Leber, des Darms usw. Schmerzen verursachen.

Rezeptoren leiten den Schmerz weiter

Das Gehirn selbst ist schmerzunempfindlich, dagegen finden sich in unserem Körper zahlreiche Schmerzrezeptoren, die Nozizeptoren: Dies sind die Enden von Nervenfasern, die zu über 90 Prozent in der Haut lokalisiert sind, aber auch in den inneren Organen unseres Körpers, wo sie für die Schmerzweiterleitung verantwortlich sind.

Unter anderem folgende Reize werden von ihnen weiter über das Rückenmark zum Gehirn geleitet:

  • Temperatur,
  • Dehnung,
  • Druck,
  • Verletzungen,
  • aber auch chronische Reizungen wie nach Verätzungen oder nach einem Bienenstich.

Neuropathischer Schmerz: das schmerzleitende System ist selbst geschädigt

Neuropathische Schmerzen sind chronische Schmerzen. Sie entstehen nach einer Schädigung entweder zentraler (Rückenmark, Gehirn) oder peripherer nozizeptiver Systeme (z. B. Messfühler in der Haut), also schmerzverarbeitender Nerven selbst. Als Folge dieser Verletzung sind die zum Rückenmark oder Gehirn leitenden Nerven in ihrer Funktion verändert, ebenso der Schmerzcharakter. Typisch ist auch, dass trotz Gewebeheilung die Schmerzen fortbestehen können (Schmerzgedächtnis).

Von der Entstehung her unterscheidet man die

  1. örtlich begrenzte (fokale), periphere schmerzhafte Neuropathie von der
  2. nicht genau zuzuordnenden (diffusen) peripheren schmerzhaften Polyneuropathie.

Die “Chronifizierung” des Schmerzes

Besteht eine Funktionsstörung eines Nerven über längere Zeit, so hat das einen enormen Einfluss auf die Empfindlichkeit der Zellen im zentralen Nervensystem. Während also ein Akutschmerz ein wichtiges Warnzeichen ist und anzeigt, dass etwas nicht in Ordnung ist, hat der chronische Schmerz diese Alarmfunktion verloren; er zermürbt die Patienten körperlich und psychisch, wobei für die Chronifizierung im Wesentlichen zwei Dinge verantwortlich sind:

  1. der Auslöser der Schmerzen konnte nicht beseitigt werden und
  2. das Schmerzgedächtnis!

Normalerweise werden Schmerzreize vom Ort des Entstehens durch spezielle Nervenfasern ins Rückenmark geleitet. Von dort gelangen Informationen über bestimmte Schmerzbahnen zu den verschiedenen Regionen im Gehirn. Die Schmerzverarbeitung und -wahrnehmung erfolgt im Großhirn.

Die Rolle des Gehirns

Wenn sich nun starke Schmerzsignale ständig wiederholen, kann sich ein Schmerzgedächtnis ausbilden. Die Folge ist, dass manchmal selbst leichte Reize wie eine Berührung, Wärme oder Dehnung plötzlich von unserem Körper als Schmerz empfunden werden. Es kann sogar sein, dass ein Schmerz ausgelöst wird, obwohl gar kein Reiz stattgefunden hat – zum Beispiel am amputierten Bein als “Phantomschmerz” bekannt.

Für besonders Interessierte …
A-Delta-Fasern
  • arbeiten blitzschnell
  • Erstschmerz: scharf, stechend
  • Schmerz kann meist sehr genau lokalisiert werden

C-Fasern

  • dünne Nervenfasern
  • leiten die Information langsam weiter
  • mischen dem Schmerz eine emotionale Komponente bei

Ursache ist, dass im zentralen Nervensystem die Schädigungen eine Gedächtnisspur hinterlassen haben, so dass ständig Schmerzsignale erzeugt werden, ohne dass ein Auslöser dafür vorliegt. Je länger ein Schmerz besteht, umso tiefer gräbt er sich ins Gedächtnis ein und ist umso schwerer zu behandeln. Deshalb muss eine Schmerztherapie frühzeitig und konsequent durchgeführt werden.

Schwerpunkt: „Schmerzen verstehen und früh behandeln“

von Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Internist/Angiologie/Diabetologie/ Sozialmedizin,
Lehrbeauftragter der Universität Würzburg,
Chefarzt Deegenbergklinik,
Burgstraße 21, 97688 Bad Kissingen,
Tel.: 09 71/8 21-0, E-Mail: schmeisl@deegenberg.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2018; 67 (8) Seite 18-22

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