Wenn die Chemotherapie die Sinneszellen verändert …

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Wenn die Chemotherapie die Sinneszellen verändert …

Wer eine Chemotherapie durchführt, dem könnte passieren, dass er viele gute Dinge nicht mehr riechen oder schmecken kann. Prof. Reinhard Zick erklärt den Zusammenhang.

Therapie verläuft eigentlich gut

Diese Geschichte handelt von einer Typ-1-Diabetikerin, die langjährig gut mit einer Pumpe eingestellt war und bei der mit 35 Jahren ein linksseitiger Brustkrebs festgestellt wurde. Da bereits ein Lymphknotenbefall vorlag, wurde sie operiert und auch mehrfach hochdosiert zytostatisch behandelt.

Insgesamt vertrug sie die Therapie gut. Ein zunächst harmloser Vorfall brachte sie jedoch in unerwartete Schwierigkeiten. Während der Therapie ging sie mit ihrem Mann zu ihrem Lieblingsitaliener und bestellte sich eine Pizza funghi. Ihr Mann bevorzugte Spaghetti bolognese.

Gerüche: auf einmal verfault und merkwürdig

Dann brachte Luigi das Essen: Ihre wunderbare Pizza funghi roch verfault, und die Spaghetti bolognese ihres Mannes füllten den Raum mit einem merkwürdigen Duft. Sie ließ sich zunächst nichts anmerken, bis sie sich doch ein Herz fasste und Luigi auf den Verwesungsgeruch der Pizza ansprach. Dieser entschuldigte sich ob der Peinlichkeit und sicherte schnellen Ersatz zu.

Aber … Sie ahnen schon, was kommt: Meine Patientin verließ nach der dritten Pizza funghi ihren Lieblingsitaliener, lautes Missfallen. – Nun, als sie mir diese Geschichte vorwurfsvoll bei einer Routinekontrolle ihres Diabetes vortrug, half ich ihr, die Sache mit Luigi zu kitten:

Einige Fakten über das Schmecken und Riechen

Zum besseren Verständnis möchte ich einige Tatsachen zum Schmecken, aber auch Riechen vorausschicken. Geschmacks- und Geruchssinn sind im Vergleich zum Hören und Sehen sehr alte Sinne und eng miteinander verknüpft; deshalb sollten auch Sie bei Schnupfen den Italiener Luigi nicht aufsuchen, weil alles, was er Ihnen auftischen wird, nur fad und wenig appetitlich schmeckt.

Die süße Zungenspitze

Der Geschmackssinn registriert chemische Substanzen mit den Geschmacksknospen, die auf der Zungenoberfläche lokalisiert sind. Die Zunge ist spezialisiert auf nur wenige Geschmacksqualitäten: am Rand reagiert sie auf Salziges und Saures, hinten ist der Bereich für bitter. An der Spitze schmecken wir Süßes und im Zentrum Umami, was so viel wie “fleischig” bedeutet.

Riechen ist Chemie …

Nur wenn ein Stoff ausreichend flüchtig ist, also verdampft und seine Moleküle mit der Atemluft auch die Nase erreichen, können wir ihn riechen. In der Nasenhöhle befindet sich im oberen Teil die Riechschleimhaut mit 20 bis 30 Mio. Riechzellen. Ihre Lebensdauer beträgt nur vier bis acht Wochen, danach werden sie durch neue ersetzt; Riechzellen sind die einzigen Nervenzellen, die nach ihrer Degeneration ersetzt werden.

… und pure Emotion

Kein anderer Sinneseindruck ist so stark mit Gefühlen und Emotionen verbunden wie das Geruchserlebnis – noch bevor die Meldung über einen Geruch im Bewusstsein ankommt, haben diese Areale längst ein Gefühl dazu auf den Weg geschickt: Erinnerungen werden wach, Düfte können uns anregen oder in angstvolle Stimmungen versetzen. Sie beflügeln oder dämpfen uns – auch wenn wir es nicht wollen.

Veränderungen des Geruchs und Geschmacks sind bei Tumorpatienten nicht selten und können plötzlich oder schleichend auftreten. Warum?

Tumorpatienten: Sinneszellen können geschädigt werden

Durch die Chemotherapie können die Sinneszellen in der Nase und der Zunge geschädigt werden, so dass der Sinnesreiz ins Leere läuft. Einzelne Zytostatika haben auch einen Eigengeschmack, der sich mit den natürlichen Geschmacksqualitäten mischt oder sich ihnen gegenüber durchsetzt.

Außerdem weiß man, dass einzelne Tumoren Botenstoffe ins Blut abgeben, die Geschmack und Geruch stark beeinflussen können. Und was sind die Folgen der Veränderungen? Speisen, die bis vor kurzem zu Ihren Lieblingen zählten, sind zu bitter, zu salzig, zu süß, zu metallisch oder riechen verfault oder sind einfach geschmack- oder geruchlos. Und was nun?

Kein unwideruflicher Zustand!

Müssen Sie ein Leben lang mit dieser Einschränkung Ihrer Lebensqualität leben? Zum Glück nicht! Der Eigengeschmack der Zytostatika dauert nicht an – mit Entfernung oder Verkleinerung des Tumors nimmt dieser über seine Botenstoffe keinen oder nur noch wenig Einfluss auf Geschmack und Geruch. Und auch die Riech- und Geschmackszellen können sich nach einiger Zeit von ihrer Schädigung durch die Zytostatika erholen.

Bis der Normalzustand wieder erreicht ist, gibt es einfache Verhaltensmaßnahmen, die Ihnen helfen, die schwierige Phase von Nase, Zunge, Kopf zu überbrücken:


Nächste Seite: Wieso es besser ist, Lieblingsspiesen zu meiden, was Töpfe und Besteck bewirken und wieso eigentlich immer Zitrone auf dem Fisch liegt.

Lieblingsgerichte besser meiden!

Fangen wir mit dem Kopf an: Sie nehmen also Zytostatika und bemerken eine Veränderung des Geruchs oder Geschmacks bei sich? Verzichten Sie nun auf Ihre Lieblingsgerichte! Das erscheint Ihnen vielleicht nicht nachvollziehbar, da man Ihnen auch erzählt, wie wichtig die Nahrungsaufnahme unter Therapie sei. Und das würde Ihnen bekanntermaßen am besten mit den Lieblingsspeisen gelingen.

Aber: Bei Geschmack und insbesondere bei Geruch sind immer Gefühle mit im Spiel – und diese Emotionen werden tief in unserem Gehirn abgespeichert: Wir alle kennen das leckere Weihnachtsplätzchen aus der Kindheit, das mit seinem Geruch und Geschmack eine Kaskade wunderbarer Erinnerungen wecken kann.

Wenn Sie umgekehrt Ihre Lieblingsspeisen in der Phase Ihrer veränderten Geruchs- oder Geschmackswelt genießen wollen, kann Ihnen diese Freude auf Dauer verlorengehen: Ihr Kopf hat die Speisen auch nach Ende der Tumortherapie mit unangenehmen Erinnerungen belegt, und die Erfahrungen werden nicht gelöscht.

Kochtöpfe: besser Glas als Metall

Sollten Sie Medikamente bekommen, die bei Ihnen einen bitteren oder metallischen Geschmack auslösen, wechseln Sie bitte von Kochtöpfen aus Metall oder Edelstahl auf Kochgeschirr aus Glas. Obwohl es nicht besonders edel aussieht, lassen Sie auch Ihr Silberbesteck in der Schublade und wechseln Sie von Metall auf Kunststoff.

Es müssen ja nicht die berühmten Messer und Gabeln aus weißem Kunststoff sein, die wir alle von den Freiluftereignissen kennen; die Industrie ist inzwischen auch auf diesem Sektor sehr erfindungsreich nach dem Motto: Let us go coloured.

Warum Zitrone zum Fisch?

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum zum Bratfisch immer eine Zitronenscheibe gereicht wird? Wild mit Preiselbeeren oder einem geschmortem Apfel serviert wird? Oder einige Hausfrauen Kohl immer mit einer Scheibe Brot kombinieren, die selbst nicht zum Verzehr bestimmt ist? Stellen Sie diese Frage einmal Ihrer besseren Hälfte oder auch Ihren Freunden. Sie werden die abenteuerlichsten Erklärungen hören.

Der wahre Grund liegt darin, dass Geruch von Zitrone oder von Preiselbeere/Bratapfel den Fisch- oder Wildgeruch überdecken kann – und die Scheibe Brot den leicht schwefligen Kohlgeruch neutralisiert. Unter diesem Aspekt ist das Überträufeln des Fisches mit Zitronensaft auch wenig sinnvoll. Wenn Sie vor, und nicht nach der Fischmahlzeit, Ihre Hände mit dem Saft der Zitrusfrucht einreiben, kommt Ihre Nase bei jedem Bissen wesentlich intensiver mit dem ätherischen Öl dieser gelben Köstlichkeit in Kontakt. Und alle unangenehmen Gerüche des Fisches lösen sich in Wohlgefallen auf.

Und in Ihrem Kopf und Ihrer Erinnerung bleibt eine geschmackvolle wunderbare Fischmahlzeit. Mit dem Bratapfel oder der Preiselbeere ist das auf den ersten Blick scheinbar schwieriger; in jeder besseren Drogerie mit Duftkollektion gibt es auch eine Phiole mit einem Geruch, der beiden Duftkompositionen sehr nahekommt. – Was hat das zu tun mit der Krebstherapie?

Gezielt Düfte suchen

Es ist im Einzelfall einer Krebsbehandlung nicht vorherzusagen, ob und wie es zu einer Veränderung von Geruch und Geschmack kommt – und welche Düfte angenehm oder unangenehm riechen. Aber Sie können in einen Duftshop gehen und für sich herausfinden, welcher Duft für Sie unter der Therapie angenehm oder auch unangenehm ist. Und damit haben Sie Ihr sehr persönliches Duftrepertoire zusammengestellt. Ist für Sie zum Beispiel Apfelgeruch angenehm, so sollten Sie entweder in Ihrer Küche oder in Ihrem Esszimmer Apfeldüfte verwenden.

Eine Patientin berichtete mir, dass sich bei ihr Geruch und Geschmack während der Tumortherapie veränderten; also träufelte sie vor dem Essen 1 bis 2 Tropfen Rosenduft in die Nase – und überstand so die zytostatische Behandlung mit den Veränderungen ihrer Sinne gut.

Zum Schluss: Luigi?

Lassen Sie uns zum Schluss zu unserer Ausgangsgeschichte zurückkommen: Zunächst ist für Sie als Diabetiker wichtig zu wissen, dass die geschilderten Veränderungen von Geruch und Geschmack unter Krebsbehandlung keinen unmittelbaren Einfluss auf Ihre Blutzuckereinstellung haben. Sie müssen nur wissen, dass solche Veränderungen auftreten können und was Sie dagegen tun können.

Und wie ging nun die Geschichte mit Luigi aus? Nachdem ich meiner Patientin den Zusammenhang von Therapie und Fäulnisgeruch erklärt hatte, suchte sie Luigi auf und entschuldigte sich. Sie bestellte keine Pizza funghi, um nicht die alten Geister wieder zu wecken, sondern Tintenfischringe, die sie mit ihren Fingern zum Mund führte. Und worum bat sie Luigi bei der Bestellung? Genau! Schön, dass Sie alles so genau gelesen haben.

Schwerpunkt Krebstherapie

Autor:
© copyright
Prof. Dr. med. Reinhard Zick

Kontakt:
Kardinal-von-Gahlen-Straße 49, 49809 Lingen, E-Mail: Der.chef@mac.com

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2014; 63 (4) Seite 30-33

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