Wissen Spiegel-Leser wirklich mehr?

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Wissen Spiegel-Leser wirklich mehr?

Europäische Behörde gibt Entwarnung zu “Lantus”. Diabetes-Journal-Redakteur Gregor Hess zur Berichterstattung in den Publikumsmedien.

Hiobsbotschaft für Betroffene

Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) meldete am 26. Juni 2009: Das “Insulinanalogon Glargin steigert möglicherweise das Krebsrisiko”. Einen Tag später titelte die Süddeutsche Zeitung(SZ) “Krebsgefahr durch Analog-Insulin: Lantus unter Verdacht”. Auch die tagesthemen und andere große Publikumsmedien griffen das Thema auf.

Der Spiegel machte in seiner reißerischen Überschrift “Dünger für Krebszellen” sogar aus dem Verdacht gleich eine Tatsache. Auf jeden Fall war es eine Hiobsbotschaft für Betroffene, die mit ihrem Diabetes und dessen potentiellen Folgeerkrankungen schon mehr als genug Sorgen und Ängste haben.

Kein Beweis, aber…

Doch was war geschehen? In seiner Mitteilung berichtet das IQWiG über die Ergebnisse einer Datenanalyse, die es gemeinsam mit einer großen gesetzlichen Krankenkasse (die die Studie auch finanzierte) durchgeführt hatte. Die Autoren kamen darin zu dem Schluss, dass Insulinglargin (Handelsname Lantus) bestimmte Krebserkrankungen fördern könnte.

“Unsere Auswertung ist zwar kein eindeutiger Beweis, dass Glargin Krebs fördert”, wurde der damalige IQWiG-Leiter und Mitautor der Studie, Peter Sawicki, in dieser Mitteilung zitiert, “allerdings weckt unsere Studie einen dringenden Verdacht, der Folgen für die Behandlung der Patienten haben sollte”. Er schlug die Umstellung auf Humaninsulin vor.

Tendenziöser Artikel

Aus diesem – wie sich schon bald zeigte – vielmehr vagen Verdacht machten die Spiegel-Redakteure einen sehr tendenziösen Artikel. Den Analoginsulinen sprachen sie darin sogar generell – im besten IQWiG-Sprech – einen Vorteil für Patienten ab. Mehr Flexibilität im Alltag, eine bessere Blutzuckerkontrolle, ein selbstbestimmteres Leben – alles Werbelügen der Hersteller, so der Spiegel, von denen Patienten und Ärzte sich hätten einlullen und verführen lassen.

Betroffene Diabetiker, praktizierende Ärzte oder forschende Diabetologen kamen gar nicht erst zu Wort. Dafür aber immer wieder Sawicki mit seiner Anti-Insulinanaloga-Agenda und natürlich der Krebsverdacht. Die SZ formulierte zwar vorsichtiger und weniger marktschreierisch, doch auch hier fehlte nicht der abschließende Hinweis: “Sawicki beruhigt Diabetiker – sie hätten ja die sichere Alternative Humaninsulin.”

Ausgewogene und aufklärende Berichterstattung? Fehlanzeige!

Wer nun denkt, dass dies der Beginn einer ausgewogenen und aufklärenden Berichterstattung der genannten Medien war, täuscht sich allerdings. Obwohl es schon wenige Tage später Anlass gegeben hätte: Weltweit bemängelten renommierte Wissenschaftler und Fachverbände nach genauerer Betrachtung die fehlerhafte Methodik der Studie.

Sawicki wurde sogar vorgeworfen, sich eines “üblen Taschenspielertricks” zu bedienen. Auch die europäische Arzneimittelbehörde EMA bezeichnete die Ergebnisse als “inkonsistent” und riet betroffenen Diabetikern, Insulin glargin nicht abzusetzen. Weder Der Spiegel noch die SZ berichteten darüber …

Mittlerweile sind mehr als vier Jahre vergangen, und seitdem wurden sowohl vom Insulin-glargin-Hersteller Sanofi als auch von unabhängigen Institutionen mehrere Studien durchgeführt, mit insgesamt rund einer Million Probanden. Darauf basierend gab die EMA Ende Mai dieses Jahres endgültig Entwarnung: Insulin glargin erhöht nicht das Krebsrisiko. Ach ja: Weder Der Spiegel noch die SZ berichteten darüber …

Undifferenzierte Berichterstattung – aufgeschreckte Patienten

War also nur der vermeintliche Krebs-Skandal die Motivation zu dieser Berichterstattung – und als dieser sich als Luftnummer entpuppte, war das Thema nicht mehr interessant für diese Medien? Die Aufklärung der durch die undifferenzierte Berichterstattung aufgeschreckten Patienten war es anscheinend nicht, denn dann hätte die Geschichte auch zu Ende erzählt werden müssen.

Spiegel-Leser wissen mehr, heißt es in einer Werbebotschaft. Diabetiker sollten sich jedoch besser nicht auf dieses Versprechen verlassen, sonst könnte ihr Blickwinkel eingeschränkt sein.


von Gregor Hess

Kontakt:
Kirchheim-Verlag, Kaiserstraße 41, 55116 Mainz, Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0,
Fax: (0 61 31) 9 60 70 90, E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2013; 62 (9) Seite 19

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