Zeit im Zielbereich: Schon Zeit für einen Paradigmenwechsel?

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Zeit im Zielbereich: Schon Zeit für einen Paradigmenwechsel?

Diabetes-Journal-Leser werden mehr und mehr hören von der „Zeit im Zielbereich“ – vor allem jene, die modernste Diabetes-­Technologie nutzen. Das heißt aber noch lange nicht, dass der Blutzuckerlangzeitwert, das HbA1c, keine Rolle mehr spielt. Hier eine Einschätzung mit Tabelle und Interview.

Der neue Parameter aus den Daten der kontinuierlichen Glukosemessung heißt „Zeit im Zielbereich“ oder „Time in ­Range“ oder kurz „TIR“. Er gewinnt immer mehr Anhänger bei Dia­be­tes-Teams und Patienten. Die bedeutet aber nicht, dass eine HbA1c-Bestimmung nicht mehr erforderlich sein wird.

Wie viele haben die Technologie schon?

Gerade in der Kinderdiabetologie nimmt der Einsatz moderner Technologien rasant zu (Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2019): Für das Behandlungsjahr 2015 war bei 834 Typ-1-Diabetes-Patienten, die 20 Jahre oder jünger waren, eine sensorunterstützte Pumpentherapie dokumentiert, also eine Kombination aus Insulinpumpentherapie und kontinuierlicher Glukosemessung (CGM) – im Jahr 2017 waren es bereits 6 570 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.

Auch immer mehr Erwachsene nutzen die kontinuierliche Glukosemessung mit Real-Time-Messgeräten, seit der Gemeinsame Bundesausschuss Mitte 2016 beschloss, dass diese Geräte bei Menschen mit insulinbehandeltem Diabetes mellitus verordnet werden können zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Voraussetzung dafür ist bislang, dass sie eine intensivierte Insulinbehandlung durchführen, und in dieser geschult sind.

Für eine standardisierte Beratung aufgrund der CGM-Daten haben sich die Experten auf die Verwendung der Zeit im Zielbereich im Verhältnis zur Zeit unterhalb der Zielbereichs geeinigt.

„TIR“: der neue Parameter

Trotzdem kann man nicht auf die HbA1c-Bestimmung verzichten. Zwar kann eine TIR von 70 % ungefähr einem HbA1c-Wert von 7 % entsprechen oder eine TIR von 40 % einem HbA1c von 8,5 bis 9 %. Aber eine direkte Umrechnung ist nicht möglich. Hinzu kommt, dass je nach verwendetem Gerät die Mess­ergebnisse eines CGM-Systems eines Herstellers systematisch von den Ergebnissen eines CGM-Systems eines anderen Herstellers abweichen können.

Für den einzelnen Patienten kann aber zur besseren Vergleichbarkeit von einem Sprechstundentermin zum nächsten oder bei der Auswertung von Studienergebnissen der prozentuale Anteil der Zeit im Zielbereich (TIR) herangezogen werden. Solche TIR-Daten bei Patienten liegen aber erst seit Kurzem vor, also gibt es keine Langzeitergebnisse. Spannend wird sein: Wie hängen die Zeit im Zielbereich und das Risiko für Folgeerkrankungen zusammen?

Auch sollte die Zeit im Zielbereich immer im Verhältnis zur Zeit im niedrigen Bereich (prozentuale TIR unter 70 mg/dl bzw. 3,9 mmol/l) gesehen werden. Trotzdem ist man sich einig: Das Erfassen dieser „Komfortzone der täglichen Glukosewerte“ hilft, Entscheidungen hinsichtlich notwendiger Änderungen in der Diabetesbehandlung zu treffen – und durch eine Reduktion von Glukoseschwankungen das Risiko für Unterzuckerungen zu senken und eine größere Behandlungszufriedenheit zu erreichen.

Kennen sich Ärzte und Diabetesteams schon aus mit der neuen Technologie?

Die Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft hat das Schulungsprogramm SPECTRUM entwickelt, bei dem Patienten in kleinen Gruppen den Umgang mit CGM-Systemen lernen. Es wurden über 1.500 Dia­be­tesberaterinnen und Diabetologen in Seminaren geschult, das Programm anzuwenden. Jedoch ist das Angebot nicht flächendeckend, und die Krankenkassen übernehmen die Kosten oft noch nicht.

Im Kirchheim-Shop:

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Unabhängig davon lohnt es für interessierte Diabetes-Journal-Leser, ihr Praxisteam auf Schulungsmöglichkeiten anzusprechen bzw. eine Interpretation der ausgelesenen kontinuierlichen Glukosedaten zu erfragen. Wichtig: In einem langwierigen Prozess bei Krankenversicherungen, Gesundheitspolitikern, Institutionen wie dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat sich der HbA1c-Wert zum Beurteilen der Glukosestoffwechselsituation gerade erst etabliert!

Ein Wechsel auf einen anderen Parameter würde wissenschaftliche Belege dafür benötigen, dass die TIR (ähnlich wie der HbA1c-Wert) bei sehr vielen Patienten einfach und nach standardisierten Kriterien durchführbar ist und mit wichtigen klinischen und patientenrelevanten Endpunkten (Risiko von Folgeerkrankungen etc.) zusammenhängt.

Welche „TIR“ ist gut?

Es stellt sich die Frage, was denn nun eine „gute“ Zeit im Zielbereich ist. 100 % TIR bei 70 bis 180 mg/dl (3,9 bis 10 mmol/l) werden auch die wenigsten Menschen ohne Diabetes haben. Genauso wie beim HbA1c-Wert sollte dies also immer individuell in der Diabetessprechstunde festgelegt werden.

Im Juni diesen Jahres wurden dazu von 42 internationalen Experten Empfehlungen erarbeitet, die inzwischen von verschiedenen Fachgesellschaften wie der europäischen und der amerikanischen Diabetes-Gesellschaft anerkannt wurden. Dabei werden vier Patientengruppen unterschieden. So wurden keine Unterschiede gemacht zwischen Kindern und Jugendlichen oder Erwachsenen und auch nicht zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes (siehe Tabelle).

Klicken Sie auf die Abbildung für eine größere Ansicht.

Als ehrgeiziges Ziel soll eine TIR über 70 % angestrebt werden, wie man sie mit moderner Diabetes-Technologie wie dem Hybrid-­Closed-Loop heutzutage erreichen kann. Korrespondierend dazu soll der Anteil von Werten unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) 4 % nicht überschreiten. Nur für ältere Menschen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes und solche mit einem hohen Untzerzuckerungsrisiko steht das Erreichen von weniger als 1 % der Werte unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) im Vordergrund – mit einer TIR über 50 %.

Ebenso gelten für Schwangere mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes sowie Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes andere Zielwerte.

Das Fazit

Es bleibt abzuwarten, wie der neue Bewertungsparameter in die tägliche Behandlungsroutine eingeht. Für viele Experten sowie Patientenvertreter bietet die TIR wichtige patientenrelevante Zusatzinformationen als Grundlage für Therapieentscheidungen, die im HbA1c nicht oder nur unzureichend abgebildet sind.

„Diabetes wird sichtbar – man ist nicht mehr nackt!“

3 Fragen an unseren Experten Prof. Dr. med. Thomas Danne, Kinderdiabetologe im Zentrum für Kinder- und Jugend­medizin „Auf der Bult“ in Hannover


Diabetes-Journal (DJ): Wie viele Menschen mit Diabetes haben im Alltag starke Blutzuckerschwankungen – so dass für sie ein HbA1c-Wert nur geringe Aussagekraft hat?
Prof. Dr. med. Thomas Danne:
Das hängt sehr vom Alter des Patienten und dem Diabetes-Typ ab. Im Allgemeinen haben Kinder und Jugendliche und Patienten mit Typ-1-­Diabetes überhaupt mehr Schwankungen als Menschen mit Typ-2-Diabetes. Aber bei jedem Patienten gibt es natürlich Phasen mit mehr Schwankungen (z. B. Therapieumstellung, Stress aller Art) und solche mit relativ stabilen Werten. Insgesamt sagt das HbA1c gerade über das Risiko für Unterzuckerungen wenig aus – was wir mit den kontinuierlichen Daten viel besser abschätzen können, um dann eine entsprechende Modifikation der Behandlung zu empfehlen.

DJ: Nach Ihren Erfahrungen: Um wie viel kann man seine Zeit im Zielbereich verbessern, wenn man statt punktueller Blutzuckermessungen kontinuierlich misst?
Danne:
Das kann ich so allgemein gar nicht beantworten. Mit meinen Patienten schaue ich mir zum Beispiel das ambulante Glukoseprofil (AGP) an. Dieses berechnet aus den ganzen kontinuierlichen Daten einen Beispiel-Tagesverlauf der Glukosewerte. Durch die graphische Verteilung sieht man, ob im Moment das Verhindern von Über- oder Unterzuckerungen im Vordergrund der Bemühungen stehen sollte – und zu welcher Zeit diese niedrigen Werte (unter 70 mg/dl bzw. 3,9 mmol/l) oder hohen Werte (über 180 mg/dl bzw. 10,0 mmol/l) auftreten. Auch wenn sich die Zeit im Zielbereich nicht ändert, bin ich zum Beispiel sehr zufrieden, wenn es einem Patienten mit 8 % der Werte unter 70 mg/dl gelingt, auf unter 4 % zu kommen. Da man durch punktuelle Messungen solche Informationen gar nicht hat, profitieren die meisten Patienten auf verschiedenste Weise von der graphischen Auswertung der kontinuierlichen Daten mit der Berechnung der Zeit im Zielbereich.

DJ: Welchen großen Nachteil kann kontinuierliche Glukosemessung haben?
Danne:
Ganz klar: Der Diabetes wird durch das kontinuierliche Messgerät sichtbar – man ist nicht mehr nackt! Wenn man nicht auf Vibration gestellt hat, kann ein Alarm zu einer unpassenden Zeit losgehen und bei Umstehenden zu Fragen führen. Persönlich erlebe ich aber auch ein neues Selbstbewusstsein bei den Patienten. Finden Sie es nicht auch erstaunlich, wie viele Menschen man in diesem Sommer am Strand oder im Freibad mit einem solchen Gerät gesehen hat? Der Diabetes tritt mit diesen Messgeräten aus dem Schatten. Von dem selbstbewussten Umgang derer, die sich mit ihrem Gerät in der Öffentlichkeit zeigen, und den daraus folgenden Gesprächen („Was hast du denn da am Arm?“) profitieren sicher alle. Denn nur so wird es gelingen, dass sich unsere Gesellschaft mehr mit Diabetes auseinandersetzt und Ausgrenzung und Diskriminierung wegen Diabetes hoffentlich immer mehr zur Ausnahme werden.

Initiativgruppen aus Patienten, Ärzten und Wissenschaftlern fordern inzwischen auch die Zulassungsbehörden und die anderen Entscheider im Gesundheitswesen auf, bei der Bewertung neuer Therapieverfahren über den HbA1c-Wert und schwere Unterzuckerungen als ausschließliche Parameter für den Erfolg der Behandlung hinauszuschauen und vermehrt kontinuierliche Messdaten der Gewebsglukose zur Beurteilung zuzulassen. Solange dies noch nicht der Fall ist, bleibt die HbA1c-Bestimmung unverzichtbar.

Schwerpunkt: HbA1c und TIR – Vorteile richtig nutzen

von Prof. Dr. med. Thomas Danne
Chefarzt Kinderkrankenhaus auf der Bult,
Janusz-Korczak-Allee 12, 30173 Hannover,
E-Mail: danne@hka.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (10) Seite 26-31

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