10 Fragen an den Sexualmediziner

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10 Fragen an den Sexualmediziner

Menschen mit Diabetes mellitus sind besonders häufig von Störungen der Sexualfunktion betroffen. Leider wird das Thema oft tabuisiert und aus Scham verschwiegen. Dabei wären viele Probleme lösbar, wenn man sich traut, darüber zu sprechen. 10 Fragen an Dr. Christian Leiber, Urologe, Androloge und Sexualmediziner aus dem Krankenhaus Maria-Hilf in Krefeld, die Licht in das Tabu-Thema bringen sollen.

Im Interview:


Dr. med. Christian Leiber ist als Urologe und Androloge als Oberarzt an der Klinik für Urologie, Kinderurologie und Urogynäkologie im Alexianer-Krankenhaus Maria-Hilf in Krefeld tätig. Er zählt zu den erfahrensten Sexualmedizinern in Deutschland.

Diabetes-Journal (DJ): Welche typischen Störungen der Sexualfunktion gibt es bei Männern und bei Frauen?
Dr. Christian Leiber:
Bei Männern stehen die erek­tile Dysfunktion und ein Verlust der Lust auf Geschlechtsverkehr sowie eine Störung der Ejakulation im Vordergrund. Bei Frauen sind es in erster Linie die Störung der sexuellen Erregung sowie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Bei beiden Geschlechtern gehören Orgasmusstörungen zu den typischen Veränderungen im Rahmen einer gestörten Sexualfunktion.

DJ: Sind diese altersabhängig?
Leiber:
Das Alter spielt eine ganz entscheidende Rolle. Bei Männern hat beispielsweise eine große Untersuchung der Universitätsklinik Köln bei mehr als 8000 Teilnehmern gezeigt, dass jeder zweite Mann im Alter von 70 Jahren und darüber hinaus Potenz-Probleme hat. Bei Männern unter 40 ist dies eher selten. Bei Frauen ist der altersbedingte Eintritt der Menopause in vielen Fällen auch mit einer Zunahme der Sexualfunktions-Störungen verbunden.

DJ: Normale Sexualfunktion – was heißt das eigentlich? Was ist normal? Was ist überzogen?
Leiber:
Dies ist eine ganz schwierige Frage. Ein erfülltes Sexualleben lässt sich nicht über die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs definieren, obwohl es dazu Zahlen gibt. Über alle Altersgruppen hinweg ist in Deutschland im Durchschnitt 1,8-mal Geschlechtsverkehr pro Woche üblich. Dies ist aber nur eine Durchschnitts-Angabe. Es gibt Menschen, die täglich Geschlechtsverkehr haben, und solche, die nur einmal im Monat Geschlechtsverkehr haben und trotzdem mit ihrem Sexualleben sehr zufrieden sind. Es ist entscheidend, dass Sexualität angenehm sein soll und den Partnern Freude bereitet. Dann ist das Sexual­leben auch intakt.

DJ: Ist das Internet wirklich hilfreich bei Störungen der Sexualfunktion?
Leiber:
Im Internet finden sich gerade auf pornografischen Seiten völlig überzeichnete Vorstellungen von Normalität. Meistens werden solche Filme mit medikamentöser Unterstützung durch professionelle Schauspieler und über mehrere Drehtage aufgezeichnet. Gezeigt wird dies allerdings, als ob sich dies innerhalb einer halben Stunde abspielt. Wer dies glaubt, der wird sicherlich vollkommen falsche Vorstellungen von Normalität entwickeln. Darüber hinaus bietet das Internet Produkte an, deren Versprechen dem Alltag nicht entsprechen und nur viel Geld kosten. Es gibt natürlich auch gute Internet-Informationen, wobei es oft schwierig ist, diese zu erkennen.

DJ: Gibt es Gefahren gerade durch Medikamente und Hilfsmittel aus dem Internet?
Leiber:
Hier lauern in der Tat ­viele Gefahren, denn im Internet werden oft Medikamenten-­Fälschungen angeboten oder Medikamente, die aus gutem Grund ­rezeptpflichtig sind. Viele Heilsversprechen sind wissenschaftlich nicht haltbar, und wenn eine Wirkung von solchen Medikamenten überhaupt nachweisbar ist, dann liegt sie auf dem Niveau von Placebos. Medikamente und Hilfsmittel sollten daher niemals im Internet bestellt werden. Besonders perfide finde ich Angebote von Medikamenten, die die Libido bei Männern und Frauen fördern sollten, obwohl bislang nicht ein einziges Medikament bekannt ist, dessen Wirkung wissenschaftlich bewiesen ist. ­Libido definiert sich nicht durch Pillen aus dem Internet, sondern über eine harmonische Beziehung.

DJ: Welcher Arzt sollte über Störungen der Sexualfunktion sprechen: der Urologe, der Gynäkologe oder der Diabetologe?
Leiber:
Aus meiner Erfahrung sind Patienten immer dankbar, wenn sie auf sexuelle Funktionsstörungen angesprochen werden, und zwar unabhängig davon, wer dies tut. Leider passiert diese Ansprache viel zu selten. Die Patienten trauen sich nicht, sich an den Arzt zu wenden. Die Ärzte befürchten, dass ein solches Gespräch sehr zeitaufwendig wird. Dennoch appelliere ich an alle Kollegen, egal aus welchem Fachbereich, über dieses Thema regelmäßig zu sprechen. Wenn ein Patient dann wirklich auch gern über dieses Thema sprechen will, dann sollte man sich auch Zeit nehmen und ein entsprechendes Setting wählen.

DJ: Wie sage ich es meinem Arzt? Welche Tipps für eine Checkliste beim nächsten Arztbesuch gibt es?
Leiber:
Es ist immer gut, wenn man sich für ein kommendes Arzt-Patientengespräch aufschreibt, was man eigentlich fragen möchte. Man sollte nicht lange drumherumreden, sondern einfach sagen, was in ­puncto Sexual­leben nicht mehr so ist, wie man es gern hätte. Dies setzt aber natürlich voraus, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis gut ist. Ein Facharzt sollte über ein Netzwerk verfügen, um den Patienten gegebenenfalls an den richtigen Kollegen weiterzuüberweisen, der sich mit Sexualfunktions-Störungen vielleicht besser auskennt als der Arzt selbst oder der einfach mehr Zeit für dieses Thema aufbringt.

DJ: Kennt man die Ursachen für eine gestörte Sexualfunktion?
Leiber:
Die meisten Störungen der Sexualfunktionen, egal ob bei Männern oder Frauen, sind multifaktoriell. Das heißt: Viele unterschiedliche Störungen tragen letztendlich zu dem Problem bei. Es ist daher wichtig, herauszufinden, ob es sich um eine organische Ursache oder eine psychosexuelle Störung handelt. Nur mit der richtigen Diagnose wird man auch die richtige Therapie anbieten können.

DJ: Muss man diese Ursachen genau abklären oder hilft auch ein pragmatisches Vorgehen, indem man die bekannten Therapieansätze einfach ausprobiert?
Leiber:
Ein pragmatisches Vorgehen mit einem schnellen Therapieversuch kann richtig sein, wenn man den Patient schon lange kennt und wenn er gut überwacht ist. Ich nenne hier beispielsweise den jungen Mann, der einmal ein Erektionsproblem hatte und damit Versagensangst entwickelt hat, aber ansonsten gesund ist. Hier hilft ein Therapieversuch mit den gängigen Tabletten sicherlich. Allerdings empfehle ich in allen anderen Fällen auch eine sorgfältige Abklärung. Jemand, der plötzlich Erektions­probleme hat, kann beispielsweise auch ursächlich einen unbekannten Bluthochdruck oder einen unerkannten Diabetes haben. Wenn man sich jetzt nur auf die Behandlung der Sexualfunktions-Störung stürzt und den Rest übersieht, kann es durchaus gefährlich sein.

DJ: Wie finde ich einen guten Arzt bei Störungen der Sexualfunktion?
Leiber:
Es gibt seit einiger Zeit die Zusatzbezeichnung „Sexualmedizin“. Ein Arzt, der diese trägt, ist sicherlich sehr geeignet. Das Gleiche gilt für Urologen, die die Zusatzbezeichnung „Andrologie“ führen. Natürlich sind auch Gynäko­logen, zu denen man ein gutes Vertrauen hat, ein guter Ansprechpartner. Nicht zuletzt sind auch Diabetologen in der Regel bei Menschen mit Diabetes und der Problematik sexueller Funktionsstörungen vertraut. Wichtig ist allerdings, dass man solche Beratungen gut in die sonstigen Therapiemaßnahmen integriert.


Interview:

Prof. Dr. Thomas Haak
Chefredakteur Diabetes-Journal
Chefarzt Diabetes Zentrum Mergentheim
Theodor-Klotzbücher-Straße 12
97980 Bad Mergentheim

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (4) Seite 24-25

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