50 Jahre Diabetes – mit Höhen und Tiefen

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50 Jahre Diabetes – mit Höhen und Tiefen

Schon ein halbes Jahrhundert lang lebt Iris Greger mit Typ-1-Diabetes. Die Anfänge waren nicht einfach und muten aus heutiger Sicht zum Teil geradezu abenteuerlich an. Aber Iris Greger hat erreicht, was sie wollte: eine Familie gegründet, zwei Söhne bekommen, ein aktives Leben geführt. Nun erzählt sie davon im Diabetes-­Journal – gehen Sie mit ihr auf eine Reise durch 50 Jahre mit Diabetes.

Im Sommer 2020 feierte ich ein für mich ganz besonderes Fest: 50 Jahre Diabetes. Viele meiner Bekannten meinten: „Muss man so was feiern?“ Oder auch: „Was gibt es da zu feiern?“ Ich feierte mit meinen engsten Freunden aus der Albstädter Selbsthilfegruppe und der Reutlinger Insulinpumpen-Gruppe – und natürlich mit meinem Mann! Der Anlass zu feiern war, dass es mir trotz dieser 50 Jahre Typ-1-Diabetes immer noch so gut geht. Ich habe alles erreicht, was ich wollte, obwohl es anfangs ja so schlimm war mit dieser Diagnose!

Mit Blaulicht in die Kinderklinik

Als Sechseinhalbjährige ging es mir im Mai 1970 immer schlechter. Ich hatte ständig Durst, essen wollte ich nicht mehr richtig. Dann ging es wieder etwas besser. Im Sommer nahm ich aber ständig ab, ich aß fast nichts mehr. Der Arzt untersuchte mich, fand aber zunächst nichts. Die Situation wurde sehr dramatisch, als ich nur noch Getränke (am liebsten natürlich süße!) zu mir nahm. Dann kamen Verwandte. Sie erkannten die Situation ziemlich schnell! Ich wurde von meinen Eltern ins Albstädter Krankenhaus gebracht und von dort mit Blaulicht in die Tübinger Kinderklinik gefahren. Mein Blutzucker war über 600 mg/dl (33,3 mmol/l).

Man kann sich das heute fast nicht mehr vorstellen: erstens, dass es so lange gedauert hat, bis man endlich die Diagnose hatte, zweitens natürlich alles, was mit dem Diabetes zu tun hat. Meine erste Nacht in der Klinik verbrachte mein Vater an seiner Arbeitsstelle, denn wir hatten zu Hause kein Telefon. Nach zwei oder drei Tagen war ich dann über den Berg, und meine Eltern durften mich endlich besuchen. Mein Bruder durfte gar nicht in die Klinik.

Ich wurde mit Riesenkanülen und Glasspritzen gespritzt, zweimal täglich. Meine Eltern mussten an einem Stofftier das Spritzen üben. Blutzuckerselbstmessung war damals noch lange nicht möglich, nur über den Urin wurde gemessen und das war sehr ungenau. Die Ernährung: viel rohes Gemüse, fette Wurst, Vollkornbrot … Damals gab es auch noch fast keine Nahrungsmittel mit Süßstoffen oder Fruchtzucker. Es war einfach nur schrecklich!

Eine Krankenschwester in der Klinik meinte zu mir, ich soll in den Garten zum Schaukeln, damit mein Zucker runterginge. Ich verstand überhaupt nichts! Nach über sechs Wochen Krankenhausaufenthalt, pünktlich zum Schulanfang, durfte ich nach Hause. Ich wurde daheim, aber auch in der Schule, als ganz „normales“ Kind behandelt, und das war gut so!

Es war wirklich nicht alles leicht, und ich glaube, für meine Eltern und meinen Bruder war es schlimmer als für mich selbst – besonders die Unterzuckerungen, die komischerweise immer sonntags aufgetreten sind. Es wurde damals kein Notarzt gerufen. Man rief den Hausarzt an, und das musste beim Nachbarn geschehen, denn wir hatten immer noch kein eigenes Telefon. Der Hausarzt kam, und wenn es bei größtem Schneegestöber war, und verpasste mir die Glukosespritze. Es dauerte einen Tag, bis es mir wieder gut ging. Zum Glück passierte so etwas nur sehr selten und nur in der Kindheit.

Ich begann nach der Grund- und Realschule eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin. Da war ich dann mit 17 Jahren zum ersten Mal auf mich selbst gestellt. Es war eine Vollzeitschule in Isny, und auch damals, 1980, konnte man den Blutzucker immer noch nicht selbst messen. Ich behandelte damals meinen Diabetes ziemlich lässig. Zum Glück kam ich in Isny zu einem jungen Arzt, der sich sehr um mich kümmerte. Ich hatte einen HbA1c-Wert von 10 %. Er redete mir sehr ins Gewissen!

Als ich nach zwei Jahren zurück nach Alb­stadt kam, war bei meinem Hausarzt ein junger Arzt, der gerade die intensivierte Insulintherapie erlernt hatte. Ich wurde dann mit 20 Jahren auf zwei verschiedene Insuline und mehrere Injektionen umgestellt. Nun war auch die Blutzuckerselbstmessung möglich. Meinen Blutzucker bekam niemand so richtig in den Griff. Er schwankt bis heute sehr stark, die extremen Unterzuckerungen bleiben jedoch aus.

Alles hat sich gelohnt …

Inzwischen arbeitete ich in einer öffentlichen Apotheke. 1990 heiratete ich und selbstverständlich war, dass wir uns Kinder wünschten. Ab und zu ging ich zur ambulanten Behandlung nach Tübingen. Im September 1991 wurde ich schwanger und war ca. alle vier Wochen in Tübingen in der Frauenklinik zur Untersuchung. Der Blutzucker wurde mehrmals täglich von mir sehr genau überwacht, und mein HbA1c-Wert lag höchstens bei 5 %. Aber alles hat sich gelohnt, denn in der 39. Woche kam unser erster Sohn Konstantin zur Welt; knappe zwei Jahre später folgte Julius.

Ich arbeitete nur noch stundenweise in der Apotheke und genoss unsere junge Familie sehr. Ich war gefordert, ob der Blutzucker mitspielte oder nicht, und das war gut so! So vergingen die Jahre mit Höhen und Tiefen. Die Insulinpumpe war für mich 1999 nochmals etwas Neues. Das Messen ohne Blut kam viel später und ist wirklich ein Riesenfortschritt. Ich frage mich oft: Wäre ich noch am Leben, wenn ich mir noch wie früher zwei Spritzen am Tag verabreichen würde, und das ohne Selbstmessung?

Um so mehr freue ich mich darüber, dass ich ohne erhebliche Spätschäden diese 50 Jahre geschafft habe. Sie waren nicht immer leicht, aber wer hat schon ein leichtes Leben!? Ich bin froh, dass ich ein ganz „normales Leben“ führen kann. Ich war imstande, verschiedene Schulen, zwei Ausbildungen, Job und Nebenjobs zu meistern und eine Familie zu versorgen.

Ich bedanke mich bei meinen Selbsthilfegruppen, meinen Ärzten, meiner Familie, die doch immer mehr auf mich aufgepasst haben, als ich es realisiert habe, und bei allen, die mich einfach nur als „gesunden Menschen“ angesehen haben, denn das war mir immer sehr wichtig! Vielleicht stehen Sie am Anfang des Lebens mit Diabetes oder stecken gerade in einem Tief. Mit diesen Zeilen möchte ich Mut machen, denn was ich in diesen 50 Jahren gelernt habe, ist: Es gibt immer einen Weg.


von Iris Greger
E-Mail: iris.greger@online.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2021; 70 (12) Seite 40-41

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