Andere Länder, andere Sitten

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Andere Länder, andere Sitten

Kennen Sie das? Sie planen mit Ihrer Familie einen Urlaub im Ausland oder Ihr Kind möchte als Austauschschüler einige Monate im Ausland verbringen. Plötzlich aber fragen Sie sich: „Wie sieht die Diabetesversorgung für mein Kind im Urlaubs- oder Austauschland eigentlich aus?“ Werfen Sie mit Dr. Bärbel Aschemeier einen Blick über die Landesgrenzen.

Typ-1-Diabetes: Zahlen und Fakten weltweit

Aktuell müssen weltweit ca. 490.000 Kinder unter 14 Jahren aufgrund eines Typ-1-Diabetes medizinisch versorgt werden. Jedes Jahr kommen weltweit ca. 78.000 Kinder hinzu. Europa hatte 2011 mit ca. 115.700 Kindern die höchste Rate an unter 14-jährigen mit Typ-1-Diabetes. Darunter waren etwa 17.800 Diabetesneuerkrankungen.

Schaut man sich die geografische Verteilung auf der Weltkugel an, so stellt man fest, dass es ein Nord-Süd-Gefälle gibt. Das heißt, auf der nördlichen Weltkugel, z. B. in den skandinavischen Ländern, findet man die höchste Rate an Neuerkrankungen. Dagegen werden weiter im Süden, z. B. im Mittelmeerraum, die Zahlen immer geringer.

Finnland ist seit vielen Jahren weltweit das Land mit der höchsten Zahl an Neuerkrankungen. Im Jahr 2011 waren es hier ca. 58 Kinder unter 100.000. Im selben Jahr wurde in Deutschland bei 18, in Italien bei 12 und in Rumänien bei 5 unter 100.000 Kindern unter 14 Jahren ein neu aufgetretener Diabetes festgestellt (Abbildung rechts). Die Ursachen für dieses Nord-Süd-Gefälle sind bislang unbekannt.

Zugang zu Therapie- und Betreuungsangeboten

Heute kann der Typ-1-Diabetes durch die Entwicklung und den Einsatz vielfältiger Insuline gut behandelt und damit das Risiko für Spätfolgen reduziert und die Lebensqualität verbessert werden. Allerdings existieren europaweit große Unterschiede im Zugang zu den verschiedensten Therapie- und Betreuungsangeboten, sowohl in der Art der Wissensvermittlung hinsichtlich der praktischen Therapieumsetzung als auch in der Finanzierung der Langzeitbetreuung durch ein multidisziplinäres Team.

Pumpen und Insulinanaloga

Während in Deutschland ca. 12 000 Kinder mit modernen Insulinanaloga (synthetisch hergestellt, Struktur hinsichtlich Wirkungseintritt und Wirkdauer geändert) behandelt werden können, über 3 000 Kinder eine Insulinpumpe nutzen und sogar eine Auswahl zwischen Pumpen mit oder ohne Katheter (Patch-Pumpen) treffen können, stehen in anderen Ländern nur Humaninsuline (synthetisch hergestellt, dem körpereigenen Insulin identisch) zur Verfügung und Insulinpumpen zum Teil nur in begrenzter Menge.

Für Kinder und Jugendliche der Diabeteszentren in Lettland, Litauen und Malta sind Insulinpumpen gar nicht erhältlich und in Ungarn, Rumänien, England und Estland nur in begrenzter Zahl. In Portugal sind Pumpen landesweit auf 100 Kinder und Erwachsene mit Typ-1-Diabetes pro Jahr begrenzt.

Den Diabetologen in Österreich, Belgien, Zypern, Tschechien, Malta und Polen ist die Rezeptierung von modernen Insulinanaloga nur in limitierter Menge erlaubt. Selbst Blutzuckerteststreifen und Lanzetten sind nicht in allen europäischen Ländern unbegrenzt erhältlich. Ursache der unterschiedlichen Materialressourcen ist die mangelnde Regelung der Kostenübernahme.

Daraus folgt, dass die Therapieerfolge innerhalb Europas weit auseinanderklaffen. Eine Auswertung der HbA1c -Werte von 2.780 Patienten mit einer Diabetesdauer von ca. 5 Jahren aus 21 Zentren in 17 Ländern offenbarte eine Schwankung der mittleren HbA1c-Werte der Zentren zwischen 7,6 bis 10,1 Prozent.

Schulung und Betreuung

Natürlich sind nicht nur moderne Materialien die Basis einer guten Stoffwechseleinstellung. Eine umfassende Wissensvermittlung und langjährige Betreuung durch ein erfahrenes, multidisziplinäres Schulungsteam ist ebenso Voraussetzung für ein möglichst gesundes Leben mit Typ-1-Diabetes.

Allerdings zeigt die Betreuung auch in Ländern mit sehr guter medizinischer Infrastruktur teilweise erhebliche Mängel. So werden z. B. in vielen Fällen Kinder mit denselben Schulungsprogrammen und Materialien betreut wie Erwachsene, was der realen Lebenswelt von Kindern nicht gerecht wird. Es mangelt in den meisten europäischen Ländern noch an strukturierten und evaluierten Schulungsprogrammen und -materialien.

Steht den Diabeteszentren in Europa auch eine Vielzahl an Broschüren, Merkblättern, Postern, Spielen, Videos u. a. zur Schulung der verschiedenen Altersgruppen, Eltern und Betreuer zur Verfügung, so sind diese aber häufig nicht mit dem strukturiertem Schulungsprogramm verbunden.

Die Diabetesbehandlung erfolgt nicht generell durch einen Kinderdiabetologen (Abb. links). Auch gibt es nicht in jedem Zentrum eine Diabetes- oder Ernährungsberaterin. Wiederum können Sie auch auf ein Diabetesteam treffen, zu dem neben den Diabetologen und Beraterinnen auch ein Sozialarbeiter und ein Psychologe gehören.

Nationaler Behandlungsplan

Zum anderen sollte man nicht überrascht sein, dass von 27 befragten EU-Ländern nur 13 Länder über einen nationalen diabetesspezifischen Behandlungsplan und nur 7 Länder über einen speziell pädiatrischen Plan verfügen. Leider hat auch Deutschland keinen Nationalen Behandlungsplan. Zudem haben auch nur sehr wenige Länder gesetzliche Regelungen oder Vorgaben zum Thema Diabetes und Schule.

Und sollten Sie erwarten, dass auch im Ausland die Daten Ihres Kindes digital erfasst werden, so ist das nur in 13 von 25 Ländern der Fall. Allerdings können nur 5 von 27 Ländern die Daten der 15- bis 18-Jährigen erfassen.


Nächste Seite: Das Projekt SWEET die Versorgungsqualität EU-weit angleichen.

Schulen teils mit Einschränkungen

Planen Sie, mit Ihrer ganzen Familie für eine längere Zeit ins Ausland zu gehen, so sollten Sie wissen, dass die Akzeptanz des notwendigen therapeutischen Managements innerhalb des kindlichen Alltags in Europa sehr ungleich ist. In einigen Ländern dürfen chronisch kranke Kinder aus Unwissenheit und Angst vor möglichen Zwischenfällen an keinem Schulausflug, Sportwettkampf oder anderen Aktionen teilnehmen.

Zum anderen gibt es Länder, in denen z. B. für Lehrer und Erzieher eine entsprechend medizinisch ausgerichtete Ausbildung verpflichtend ist, um den chronisch kranken Kindern im Unterricht und auch während der Freizeitveranstaltungen zur Seite stehen zu können.

In jedem Fall lohnt es sich, vor einem längeren Auslandsaufenthalt Ihren betreuenden Diabetologen nach Kontaktadressen zu fragen. Er wird Ihnen nicht in jedem Fall die konkreten Bedingungen beschreiben können, doch eine erste Kontaktaufnahme ermöglichen.

Ein professionelles Diabeteszentrum sollte diese Kriterien erfüllen:
  • professionelles Diabetesteam aus spezialisierten Kinderärzten und Kinderkrankenschwestern, Ernährungsberaterinnen, Psychologen und Sozialarbeitern
  • diabetesspezifische Erfahrungen durch kontinuierliche Betreuung von mindestens 150 Patienten im Alter von bis zu 18 Jahren
  • Anwendung der internationalen Richtlinien (ISPAD-Guidelines) zur Behandlung des Typ-1-Diabetes
  • Anwendung nationaler Richtlinien und Anwendung von Schulungsmaterialien zur spezialisierten Durchführung der Diabetesschulungen
  • elektronische Datenerfassung sowohl für individuelle als auch zentrale Datenanalysen zur Qualitätssicherung und Beteiligung an Qualitätszirkeln
  • Zugang zur stationären Betreuung von Patienten mit Typ-1-Diabetes

Mit SWEET die Versorgungsqualität angleichen

Um Ihnen auch im Ausland den Zugang zu spezialisierten Diabeteszentren und damit zu ähnlichen Behandlungsbedingungen wie im eigenen Land zu ermöglichen, wurde auf europäischer Ebene im April 2008 das Vernetzungsprojekt SWEET ins Leben gerufen.

SWEET ist eine europaweite Initiative (Mitgliedsländer: Abb. 2), die sich um die Entwicklung und den europaweiten Ausbau eines flächendeckenden Versorgungs- und Betreuungssystems für Kinder und Jugendliche mit Diabetes auf der Basis regionaler, interdisziplinär arbeitender Referenzzentren bemüht.

Empfehlungen und Standards für die Kinderdiabetologie

Ein multinationales Team mit Diabetesspezialisten aus 13 Ländern und großen europäischen und internationalen Diabetesvereinigungen hat in den vergangenen Jahren Empfehlungen und Standards für die Behandlung und Betreuung in der Kinderdiabetologie aufgestellt, Schulungsprogramme sowohl für Diabetesexperten, Patienten als auch deren Eltern entwickelt und versucht, die Ausbildungsstrategien für Lehrende länderübergreifend zu vereinheitlichen und qualitativ anzuheben.

Da auch zunehmend digitale Dokumentationssysteme erforderlich sind, um auf zeit- und kostensparendem Weg die Auswirkungen therapeutischer Interventionen sowohl auf die Stoffwechsellage, die Lebensqualität und das Wohlbefinden zu messen und um auf internationaler Ebene diabetesspezifische Daten erheben, auswerten und vergleichen zu können, hat SWEET eine einheitliche Softwarelösung entwickelt, mit der Daten standardisiert erfasst und Patienten computergestützt betreut werden können.

Einheitliche Softwarelösung

Zudem ermöglicht sie eine Analyse und Berichterstattung von anonymisierten Patientendaten und soll in naher Zukunft auch für Patienten selbst zugänglich sein, um personenbezogene Ergebnisse, deren ärztliche Bewertungen und Empfehlungen abrufen und diskutieren zu können. Aber auch Lehr- und Informationsmaterialien sollen zur Verfügung stehen, Erinnerungen sowie eine Kommunikation mit anderen Patienten möglich sein.

Ziel ist, dieses spezialisierte digitale Erfassungssystem in möglichst vielen europäischen Ländern als Grundlage eines einheitlichen Diabetes-Managements zu etablieren.

Noch gilt: andere Länder, andere Sitten

Aber der erste Schritt auf dem Weg zur Angleichung ist getan. Die SWEET-Mitglieder sind sicher, dass es in nächster Zeit nicht nur weitere Fortschritte in der Entwicklung neuer Therapieformen oder mehr Kenntnisse zu den Ursachen und Möglichkeiten zur Vermeidung eines Typ-1-Diabetes geben wird, sondern europaweit professionelle Diabeteszentren für Kinder und Jugendliche existieren werden, die nicht nur Qualitätskriterien erfüllen, sondern auch standardisierte Behandlungs- und Schulungsstrategien anbieten und damit eine Auslandsreise sehr vereinfachen.

Fazit

In Europa gibt es unterschiedlich hohe Neuerkrankungsraten für Typ-1-Diabetes (Nord-Süd-Gefälle) und zudem einen unterschiedlich guten Zugang z.B. zu Insulinen, Pumpen und strukturierten Schulungen. Die SWEET-Mitglieder bemühen sich, die versorgung von Kindern und Jugendlichen in ganz Europa zu verbessern und anzugleichen.


von Dr. Bärbel Aschemeier
Studienkoordinatorin am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin „Auf der Bult“, Hannover

Kontakt:
E-Mail: aschemeier@hka.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2013; 6 (3) Seite 8-12

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