Annie Heger – Mut zur Verletzlichkeit

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Annie Heger – Mut zur Verletzlichkeit

Als eine der bekanntesten Entertainerinnen Norddeutschlands wirbelt Annie Heger durch die Kulturszene. Sie spricht fürs Radio, schreibt Bücher und macht Kabarett. Sie moderiert, spielt, singt und tourt durchs Land, mit Projekten auf Hochdeutsch und auf Platt. Dabei engagiert sie sich immer auch für andere. Im Interview plädiert sie dennoch dafür, das Nichtstun stärker in unserer Kultur zu verankern und Momente der Schwäche als Stärke zu zelebrieren. Sie erzählt, was die Diagnose Diabetes in ihrer Jugend auslöste und wie sie mit gesundheitlichen Herausforderungen umgeht.

Diabetes-Journal: Frau Heger, was ist Ihr Geheimnis? Hat Ihr Tag mehr als 24 Stunden?

Annie Heger: Na klar, mein Tag hat 26 Stunden und meine Woche neun Tage! Nein. Dass ich alles hinbekomme, bedeutet ehrlicherweise, dass ich wenig Zeit dafür habe, um zur Ruhe zu kommen. Aber das ist meine klare Entscheidung. Ich gehe immer an meine Grenzen, manchmal auch darüber hinaus. Das ist sicherlich nicht immer gut, aber so bin ich nun mal.

© Henrikus Lüschen | Man muss nicht immer alles schaffen können.

Ich möchte mich nicht beschränken. Gerade wenn es um andere geht: Wenn mir Ungerechtigkeit begegnet, muss ich einfach etwas sagen, auch wenn mein Tag nur 26 Stunden hat und ich nun die 27. Stunde einläuten muss. Es gibt außerdem noch viele wunderschöne Dinge auf dieser Welt, die ich sehen und tun möchte, und viele Menschen, die ich kennenlernen und deren Geschichten ich erzählen will.

DJ:Was macht den Reiz Ihrer Arbeit als Künstlerin bzw. Entertainerin aus?

Annie Heger: Auch wenn es unromantisch klingt, ich bin mein eigenes Produkt. Wäre ich nicht die Person, die ich bin, wäre ich nicht mit dieser Stimme oder Lebensfreude ausgestattet, würde mein Job nicht existieren. Dadurch, dass ich das Produkt bin, bin ich immer in Begegnung mit anderen Menschen. Das ist das Beste an meinem Job. Wenn ich etwas sage oder tue, was sie berührt oder auch verärgert, dann öffnen sich mir Menschen auf eine ganz andere Weise. Ich glaube, ich bekomme andere Dinge erzählt als eine Verwaltungsfachangestellte. Von diesen Begegnungen zehre ich. Auch wenn es manchmal nicht leicht auszuhalten ist, empfinde ich es als Privileg.

DJ: Auch bei Ihrer Arbeit als Reporterin begegnen Sie unterschiedlichsten Menschen und begeben sich in verschiedenste Lebenssituationen. Kürzlich ist eine sehr persönliche Dokumentation von und mit Ihnen als Protagonistin erschienen, in der Sie Menschen treffen, die erblindet sind. Bei Ihnen wurde eine diabetische Retinopathie diagnostiziert und Sie sind selbst damit konfrontiert, eines Tages möglicherweise zu erblinden. Wie geht es Ihnen aktuell damit?

Annie Heger: Die Diagnose ist nach wie vor allgegenwärtig und stimmt mich auch traurig. Wie viele Menschen mit Diabetes kann ich gesundheitliches Katastrophen-Management aber schon gut. Das hat meine Psyche bereits gelernt. Es ist eine Kompetenz – wenngleich eine, die ich niemals erlangen wollte. Als ich die Diagnose erhalten habe, habe ich gemerkt, dass sie gar nicht so viel Panik und Trauer in mir auslöst. Aktuell sehe ich sie als eine weitere Herausforderung in meinem Leben, mit der ich umgehen muss. Es kann sein, dass das noch mal anders kommt. Ich warte nicht darauf, aber ich darf auch nicht überrascht sein, wenn es mich doch mal überkommt.

© BASIS:KIRCHE, Screenshot:MedTriX Group | Auschnitt aus der Reportage “Blind werden”. Protagonistin Linda Pröve (l.) ist als Erwachsene blind geworden und teilt ihre Erfahrungen mit Annie Heger.

DJ: Sie gehen sehr offen mit ihrer Gesundheit um. War das schon immer so?

Annie Heger: Ja. Ich hatte immer das Gefühl, dass alles aus mir heraus muss. Natürlich konnte ich immer nur über Dinge reden, die ich wusste. Zum Zeitpunkt der Diagnose war ich 13 Jahre alt und habe natürlich psychologisch noch nicht alles so verstanden wie heute. Aber ich hatte immer das Gefühl: Wenn ich nicht die ganze Zeit darüber spreche, vergessen die Menschen um mich herum, dass ich krank bin. Ich hatte immer Angst, dass jemand vergisst, mit welchen Herausforderungen ich zu kämpfen habe. Das hat bestimmt viele genervt. Auch wenn andere es behaupteten, hatte ich immer das Gefühl, dass sie nicht bis zum Schluss verstanden haben, was es bedeutet, Diabetes zu haben.

DJ: Wie haben Sie die Diagnose Diabetes als Teenager erlebt?

Annie Heger: Zu dieser Zeit kam vieles in der Familie zusammen. Meine Mutter lag im Krankenhaus und unsere Großeltern passten auf uns Kinder auf. Meine Großmutter bat mich, meine Schwester, die eine Blasenentzündung hatte, mit dem Fahrrad zur Kinderärztin zu fahren. Sie sollte eine Urinprobe abgeben. Ich hatte komische Schmerzen im Oberbauch und dachte, dass ich auch eine Blasenentzündung haben könnte.

Also fragte ich die Kinderärztin, ob auch ich Urin abgeben dürfte. Ich weiß noch genau, wie man mich damals aus dem Wartezimmer geholt hat, um noch mal meinen Blutzucker zu messen, und, wie die Zahl aussah, auf die ich geschaut habe, obwohl ich damit überhaupt nichts anfangen konnte. Alles war sehr panisch und hektisch. Niemand hat mir irgendetwas erklärt. Man hat mir einen Krankenschein ausgehändigt und mich mit diesem Blutzucker in astronomischen Höhen auf dem Fahrrad und mit meiner achtjährigen Schwester wieder nach Hause geschickt. Ich war damals 1,72 m groß und wog 39,5 kg. Ich sah ganz schlimm aus.

Annie Heger: Ihre Reportage und ihr Buch

Annie Heger hat diabetische Retinopathie, eine Folge des Typ-1-Diabetes, mit dem sie seit 27 Jahren lebt. Wie geht man mit so einer Diagnose um? Kann man sich darauf vorbereiten, zu erblinden? In ihrer Reportage trifft Annie Heger Menschen, die im Laufe ihres Lebens erblindet sind. Dafür erhielt sie den Rummelsberger Journalist*innen-Preis. Zu sehen ist die Doku auf YouTube.

Sei der Wind, nicht das Fähnchen
Verlag Bene!, 2024
ISBN: 978-3-96340-279-1
192 Seiten
Preis: 21,00 €
Erhältlich ab 2. April 2024

Meine Eltern dachten, es sei die Pubertät. Meine Großmutter wusste, dass wir sofort ins Krankenhaus müssen. Da blieb ich drei Wochen. Beim Erstgespräch mit dem Arzt weinte mein Großvater die ganze Zeit. Ich hätte mir damals gewünscht, dass mir jemand klar sagt, was gerade passiert. Jemanden, der mir sagt, dass ich mir keine Sorgen machen muss, dass wir es wieder hinkriegen und dass ich an diesem Tag nicht sterben muss. Ich hoffe, dass Menschen in medizinischen Berufen für solche Situationen heute besser geschult sind.

DJ: Ist Kunst ein Weg, die traumatischen Erfahrungen der Diagnose zu verarbeiten?

Annie Heger: In meinem neuen Buch ist es das. So, wie die Diagnose war, macht das etwas mit einem. Es zieht sich noch Jahrzehnte später durch unsere Familien-Dynamik. Meine Mutter wurde einen Tag nach einer Operation mit dem Krankentransport zu mir ins Krankenhaus gebracht. Es liegt mir bis heute schwer auf der Brust, ihr in einer Zeit, in der sie selbst schwach war, Sorgen bereitet zu haben.

Meine Schwester dachte in dem Moment, ich müsse sterben. Und als ich mit Anfang 20 im diabetischen Koma lag, war sie diejenige, die mir im Krankenhaus die Haare gewaschen hat. Das hat auch etwas in unserer Schwestern-Beziehung verändert. Sie ist fünf Jahre jünger und auf einmal war sie die Große, die Verantwortung getragen hat, und ich die kleine Schwache. Das zieht sich bis heute durch und ist manchmal ganz schön anstrengend. Manchmal muss ich sie daran erinnern, dass ich die Ältere und Weisere bin …

In einem Kapitel frage ich auch danach, was das mit meinem Glauben macht. Ich arbeite viel für die Kirche und habe einen starken Glauben. Stelle ich mir nun jeden Tag die Frage nach dem Warum? Ist es eine Prüfung? Ist es eine Strafe? Ich kann vorwegnehmen: Natürlich nicht!

DJ: Sie haben mal gesagt, es sei wichtig, auch das Schwachsein zu zelebrieren. Wie ist das gemeint?

Annie Heger: Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes wird häufig gesagt, dass sie alles schaffen können. Viele betonen es auch selbst. In mir wird aus “Alles-schaffen-können” schnell “Alles-schaffen-müssen”. Das löst großen Druck aus. Und wenn wir ganz ehrlich sind: Nein, ich kann manchmal nicht alles schaffen – aufgrund meines Diabetes. Wenn ich in der Nacht eine starke Unterzuckerung hatte, ist der nächste Tag schwierig. Ich schreibe nicht so einfach meine Kolumne, weil mein Hirn nicht richtig funktioniert und mein Körper schwächer ist. Ich kann dann nicht so gut auf der Bühne sein. Diese Aspekte vergisst man oft.

Wenn ein berühmter Tennisspieler sagt, mit Diabetes könne man alles schaffen, vermute ich, dass phonetisch das zweite N von Mann nicht gehört wird. Bei Frauen mit Zyklus ist der Insulinbedarf ständig ein anderer. Das macht es komplizierter. Worauf ich hinaus will: Uns stehen nicht allen die gleichen Ressourcen zur Verfügung – sei es psychische Resilienz, Geld, Zeit oder Unterstützung. Wenn unsere Kapazitäten erschöpft sind, sollten wir das Nichtstun und die Schwäche zelebrieren können: Decke über den Kopf. Fünfe gerade sein lassen. Es ist in Ordnung, dass es heute nicht geht. Ich muss nicht stark sein.

© Henrikus Lüschen | Wir sollten auch das Schwachsein als Stärke ansehen.

Schwäche zu zeigen als Stärke zu betrachten, ist kein neues Konzept. Es gibt Kulturen, in denen das Nichtstun positiv im Alltag verankert ist. In Deutschland haben wir es als moralische Abwertung internalisiert. Die Fleißigen, Produzierenden nennen es von außen betrachtet gern Faulheit. Faulheit ist ein Konzept, das sich mir nicht erschließt. Das gibt es nicht. Wenn wir etwas nicht tun, dann, weil unsere Kapazitäten erschöpft sind.

Wir würden nicht auf dem Sofa bleiben, wenn wir anders könnten. Der Berg Abwasch in der Küche wird vielleicht immer höher, weil wir an anderen Stellen im Leben ganz andere Berge zu erklimmen haben. In unserer Gesellschaft fehlt die Legitimation für das Nichtstun noch. Das sagt jetzt natürlich die Richtige. Die, die nie stillsteht. Das ist schon ein kleiner selbsttherapeutischer Missions-Auftrag. Je mehr ich es anderen Menschen erzähle, desto mehr wird es zu meiner eigenen Affirmation.

DJ: Welche Rolle spielt die Diabetes-Community in Ihrem Leben?

Annie Heger: Als ich Diabetes bekam, fragte meine Mutter den behandelnden Arzt, ob es Jugendgruppen gäbe. Er riet ihr davon ab, denn der Diabetes sei ja schon schlimm genug, ich müsse mich nicht noch den ganzen Tag damit beschäftigen. Meine Mutter vertraute dem Experten. Ich hätte den Austausch aber sehr gebraucht. Ich dachte immer, ich bin mit allem, was mich herausfordert, ganz allein und alle anderen Menschen mit Diabetes in meinem Alter kriegen es hin. Nur ich nicht.

Irgendwann war ich bei einem Launch-Event von Medtronic. Ich hatte nie so viele Menschen mit Diabetes auf einem Haufen gesehen. Diese Menschen haben mich mit offenen Armen empfangen. Seither stehen wir in Kontakt und bestärken uns gegenseitig. Natürlich ist eine Community keine homogene Masse. Wir sind alle verschieden. Das, was uns eint, ist eine chronische Erkrankung. Trotzdem schauen wir, wo wir die gleichen Herausforderungen haben, wo wir Solidarität schaffen und Verbündete sein können.

Die Dia-Bubble in Social Media ist eine unglaublich aktivistische Community, nicht nur für die eigenen Belange. Ich finde es großartig, dass gerade Menschen, die im Alltag mit so vielen subtilen Diskriminierungen zu kämpfen haben, trotzdem wissen, an welchen Stellen im Leben sie Privilegien haben, und sich so stark für andere einsetzen.

DJ: Was muss sich hinsichtlich Aufklärung beim Diabetes noch tun?

Annie Heger: Ich habe nie eine Serie oder einen Film gesehen, wo Insulin nicht in Sekunden wirkt. Es ist gefährlich, wenn Menschen denken, sie könnten uns eine Spritze ins Bein rammen, wenn wir bewusstlos sind. Social-Media-Konzepte, die kreativ mit Mythen und Vorurteilen spielen und aufklären, gibt es bereits. Doch wir brauchen mehr davon und sie müssen über unsere Blase hinaus bekannt werden.

© BASIS:KIRCHE, Screenshot:MedTriX Group | Für ihre Reportagen taucht Annie Heger in verschiedene Lebenswelten ein. Hier ist sie im Gespräch mit Bundeswehr-Arzt Dr. Kai-Siegfried Schlolaut (r.).

Von medizinischen Profis ist mehr Sensibilität gefragt. Kürzlich sagte mir ein Arzt, dass ich ja eine gute Diabetikerin sei. Ich habe ihm geraten, das niemals zu jemand anderem zu sagen. Sprache ist so mächtig. Ärztinnen und Ärzte können mit ihrer Sprache dafür sorgen, dass sich Menschen helfen lassen. Menschen zu ermächtigen, geht nicht über die Einteilung in gut und schlecht. Das fördert nur Scham und Scham war noch nie ein guter Motor.


Das Interview führte Verena Schweitzer.

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2024; 72 (3) Seite 42-45

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