Auf den Anruf gewartet wie auf Weihnachten

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Auf den Anruf gewartet wie auf Weihnachten

Die Diagnose des Typ-1-Diabetes, die Dario Madani als Jugendlicher erhielt, war ein Schock. Die Folge: Rebellion. Über Jahre waren seine Blutzuckerwerte ständig „high“, mal spritzte er Insulin, mal nicht. 13 Jahre später wurde er blind, seine Nieren arbeiteten nicht mehr. Mit einer neuen Niere und Bauchspeicheldrüse lebt er heute ganz normal.

Mir geht es sehr gut!“ Man spürt die Lebensfreude und Energie, als Dario Madani diesen Satz sagt. Aber das war nicht immer so – und begann mit der Diagnose des Typ-1-Diabetes kurz vor seinem 15. Geburtstag im April 1993. Kurz zuvor war sein Vater bei einem Autounfall gestorben.

Bis dahin war sein Leben das eines normalen Teenagers: „Ich war sehr sportlich zu dieser Zeit. Ich habe sehr viel Sport, Leistungssport gemacht, Tennis.“ Mit Diabetes verband er eher Negatives. Ein Klassenkamerad, „der so gar nicht meinem Weltbild entsprochen hat“, hatte Typ-1-Diabetes. „Da habe ich gedacht, jetzt werde ich genau wie der. Jugendliche Verwirrtheit …“ Der Schock bei Dario Madani saß tief.

Rebellion gegen den Diabetes

Nicht alle, aber viele der Ärzte – „große Männer im weißen Kittel“ –, die ihn mit seinem Diabetes zu Beginn begleiteten, machten ihm Angst, erinnert er sich: „Stellt sich vor mich hin und sagt: ‚Wenn du nicht spritzt, dann wirst du mit spätestens 25 Jahren nicht mehr sehen können, du wirst Probleme mit deinen Nieren bekommen, die Familienplanung könnte durcheinanderkommen.‘“

Als „typischer Jugendlicher“ rebellierte er: Er spritzte nicht, was wegen der Honeymoon-Phase einige Zeit funktionierte. Seine Blutzuckerwerte testete er nicht, ins Diabetestagebuch schrieb er falsche Werte. Niedergelassene und Klinikärzte bemühten sich um ihn, aber „mich konnte zu dieser Zeit niemand mehr regulieren“. Sein Diabetesmanagement war auch in den folgenden Jahren meist unbefriedigend, auch als er länger im Ausland war. Im Winter 2005/2006 kam er nach Deutschland zurück.

Schäden an Augen und Nieren

Jetzt zeigten sich die ersten Folgen des Diabetes. Als er den Nordstern am Himmel nicht mehr sehen konnte, ließ er seine Augen kontrollieren: „Da hat der Augenarzt festgestellt, dass mein ganzer Augenhintergrund wirklich kaputt ist.“ Im Januar 2006 stellte der Hausarzt fest, dass die Nierenwerte nicht in Ordnung waren.

So kam er zu seinem heutigen Diabetologen und Nephrologen Dr. Ulrich Altes in Ingelheim: „Ich habe in meinem Leben viele Ärzte kennengelernt – Dr. Altes ist für mich die Typisierung des perfekten Arztes.“ Das erste Gespräch ging über drei Stunden: „Da habe ich das erste Mal angefangen, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen.“

© Dario Madani | Dario Madani hatte seit der Diabetes-Diagnose einige schwierige Lebensphasen. Nach den beiden Organtransplantationen kann er heute mit seiner neuen Niere und seiner neuen Bauchspeicheldrüse gut leben, auch sein Blindsein hindert ihn nicht daran. Er hat Familie, ist berufstätig und lebt im Prinzip ganz normal.

Im April 2006 erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich vollständig erholt hat. Im Oktober 2006 erblindete er, er bekam die erste Dialyse als Notdialyse. Eineinhalb Jahre ließ er montags, mittwochs und freitags jeweils für 6 Stunden sein Blut waschen. „Ein normales Leben mit Arbeiten, Freizeit, Planen und Aktivitäten war schon nicht mehr möglich, seit dem Schlaganfall.“

Trotz der gesundheitlichen Einschränkungen blieb er beruflich aktiv: „Das schwarze Loch, in das ich gefallen bin, hat sich schlussendlich Gott sei Dank als Mulde dargestellt und nicht als bodenlos.“ Viel verdankt er, bis heute, dabei seiner Frau Madeleine: „Meine Frau ist mein Anker und mein Licht.“

Direkt auf die Warteliste für eine Niere setzen lassen

Direkt nach dem Beginn der Dialyse ließ sich Dario Madani auf die Warteliste für eine Nierentransplantation setzen; sein Arzt hatte es vorgeschlagen. Madanis Tipp heute: „Ich würde jedem Menschen empfehlen, wenn er sich mit dem Gedanken anfreunden kann, ein Spenderorgan zu bekommen, dass er das schon entscheiden sollte, bevor er an die Dialyse kommt. Das verkürzt die potenzielle Zeit an der Dialyse um ein Vielfaches.“

Damals wusste er allerdings wenig darüber, fing aber an, sich zu informieren: vor allem bei Ärzten, aber auch im Internet. Schnell fiel die Entscheidung, nicht nur eine Niere zu bekommen, sondern gleichzeitig eine Bauchspeicheldrüse: „Allein der Gedanke, keinen Diabetes mehr haben zu müssen, war unglaublich.“

„Wie ein kleiner Junge, der auf Weihnachten wartet …“

Und dann begann das Warten auf die Organe. Da fühlte er sich „wie ein kleiner Junge, der auf Weihnachten wartet …“ Zweimal kam der Anruf, dass Organe bereitstünden – aber die Organe waren dann doch nicht geeignet: Fehlalarm. Dann kam der 13. Februar 2008 und ein Anruf aus dem Klinikum Heidelberg: Es sind wieder Organe da! Dario Madani feierte gerade mit Freunden im Garten – alle sechs fuhren mit ihm und seiner (damals noch) Freundin in die Klinik.

Die Transplantation dauerte, mit Vorbereitung, 14 Stunden, die Operation selbst 9 Stunden. Nach dem Aufwachen war ihm übel, aber schnell war ihm klar, dass etwas Entscheidendes geschehen war: „Da habe ich angefangen zu realisieren, was hier eigentlich gerade passiert ist: dass ich eine neue Niere und Bauchspeicheldrüse habe und keinen Diabetes mehr habe und nie wieder an die Dialyse muss.“

Nach der Transplantation funktionierte die Niere direkt „überdurchschnittlichst gut“, aber es stellte sich heraus, dass die Bauchspeicheldrüse entzündet war. „Das war eine ganz schlimme Situation, bei den Blutzuckermessungen mitzubekommen, dass der Zucker nicht runtergegangen ist.“ 13 Tage später wurde die Bauchspeicheldrüse operativ wieder entfernt …

Wieder auf die Warteliste

Erst einmal musste er die anstrengende Transplantation verarbeiten: „Es ist vollkommenes Desaster in deinem Körper – und auf einmal kriegst du da ein neues Organ rein und dein System fängt langsam an, sich in irgendeiner Art und Weise wieder zu regulieren. Das ist für den Körper eine Riesenbelastung!“ Dann ließ er sich – eineinhalb Jahre später – wieder auf die Warteliste setzen, für eine neue Bauchspeicheldrüse.

Im Oktober 2013 bekam er sie. „Ich habe unendlich viel Angst gehabt, dass sie nicht funktioniert.“ Die gemessenen Blutzuckerwerte „waren okayyyyyy, wirklich nur okay.“ Er hatte Appetit auf eine Pizza, und die wurde ihm erlaubt – „dann habe ich einen Blutzucker gehabt von 600 mg/dl (66,7 mmol/l)! Und da bin ich völligst kaputtgegangen.“ Aber Untersuchungen ergaben: Mit der Bauchspeicheldrüse war alles in Ordnung.

Der Heidelberger Diabetologe empfahl, abzuwarten – nach fünf Tagen hatte sich die Bauchspeicheldrüse reguliert. „Und seitdem habe ich ein HbA1c zwischen 5,2 und 5,4 Prozent – ohne jede Diabetestherapie. Kein Messen, kein Spritzen, kein Garnichts – ich lebe vollkommen normal!“

Seine Organe hütet er sehr

Dass die empfangenen Organe gut gehütet werden müssen, lernte er bereits kurz nach der Transplantation – durch einen Mitpatienten, der das offensichtlich nicht wusste: „Ein junger Mann, der gleichzeitig transplantiert wurde, hat ein Spenderorgan von seiner Mama bekommen – dem ging es so gut, dass er gedacht hat, er sei wieder kerngesund, und hat die Medikamente nicht genommen – und dann ist das Organ wieder abgestoßen worden.“ Für ihn war durch diese Erfahrung klar: „Setz dieses Geschenk, was du haben durftest, nicht aufs Spiel!“ Die notwendigen Medikamente, die das Immunsystem in Schach halten, damit es die fremden Organe nicht abstößt, nimmt er konsequent. Nebenwirkungen durch die Medikamente hat er glücklicherweise nicht.

Risiko: Infektionen

Das Einzige, das für ihn nun entscheidend anders ist: Infektionen treten schneller auf und dauern länger. Eine simple Erkältung verläuft bei ihm sofort wie eine Grippe. Um zu verhindern, dass eine bakterielle Infektion zu einer Virusinfektion hinzukommt, bekommt er schneller Antibiotika, auch bei eigentlich harmlosen Infektionen. „Das muss einem bewusst sein, wenn man Richtung Transplantation geht.“

So erwischte ihn im Oktober 2010 ein Norovirus, das Magen-Darm-Infekte auslöst – weg war es erst im Februar 2011. Im ersten Jahr nach Transplantation trug er ganz strikt eine Maske und aß auswärts keinen Salat oder andere kritische Lebensmittel; jetzt traut er sich das wieder.

Beruflich viel unterwegs

Beruflich ist er heute viel unterwegs mit der Bahn und wohnt auswärts in Hotels. Er arbeitet in Vertrieb und Marketing eines Unternehmens, betreibt außerdem ein eigenes Unternehmen, das sich mit dem Vertrieb von Apple-Produkten speziell für blinde und sehbehinderte Menschen beschäftigt. Außerdem hat er im letzten Jahr mit zwei Geschäftspartnern ein Unternehmen gegründet, das sich um Investitionen und Anteilskäufe in und von Unternehmen kümmert, die soziale und nachhaltige Aspekte erfüllen.

Allerdings hat ihn das Corona-Virus aktuell ausgebremst: „Meine letzte Geschäftsreise war am Wochenende 7./8. März. Die Corona-Situation bedeutet für mich als transplantierter Mensch: Risikogruppe 1 – Transplantation ist da wirklich ganz, ganz, ganz weit oben.“ Er geht nur noch raus, wenn er zum Arzt muss. „Corona bedeutet für mich als transplantierter Mensch selbstauferlegte Hardcore-Quarantäne.“ Aber zu Hause ist auch viel los: Seine vierjährigen Zwillinge halten ihn auf Trab, im Oktober erwartet Familie Madani noch eine Tochter.

Jeder sollte Leben retten dürfen

Hat seine Transplantation etwas in seinem Umfeld verändert? „Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner jüngeren Schwester, das war 2009, und da sagte sie: ‚Ich würde mich niemals transplantieren lassen. Ich würde auch keine Organe spenden. Nee, das ist nicht richtig.‘ Ich habe sie gefragt: ‚Sag mal, Du weißt schon, dass ich transplantiert bin?‘ Und da habe ich das erste Mal mit ihr darüber gesprochen.“

Bald danach präsentierte ihm seine Schwester stolz ihren ausgefüllten Organspendeausweis und sagte zu ihm: „Jeder Mensch sollte das Recht haben, Leben retten zu dürfen und zu können – und wenn ich ein Leben retten kann, mache ich das auch.“ Er selbst ist sehr dankbar, dass es Menschen gibt, die ihre Organe spenden: „Dass man mit einem Spenderorgan sein Leben bestreiten darf, das ist nicht selbstverständlich.“

Er appelliert an andere: „Ich finde, dass die Unversehrtheit des Lebens viel wichtiger ist als die Hülle. Deswegen sollten sich die Leute mehr Gedanken darüber machen, dass eine warme Hand mehr geben kann als eine kalte. Rettet einfach Leben!“


von Dr. med. Katrin Kraatz
Redaktion Diabetes-Journal, Kirchheim-Verlag
Wilhelm-Theodor-Römheld-Straße 14, 55130 Mainz
Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90
E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2020; 69 (9) Seite 26-29

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