Chefsache 2017: Spitzenküche goes Heimat

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Chefsache 2017: Spitzenküche goes Heimat

Ein starker Trend: Viele Topköche arbeiten mit ausgefallenen Produkten ihrer jeweiligen Heimat. Highlight: Die Alpenküche.

Beeindruckende Fakten: Über 3300 Besucher. Knapp 200 Journalisten, darunter viele Blogger. Über 100 Aussteller von ausgezeichneten Produkten – und vor allem: Über 50 Top-Referenten, die auf drei Bühnen einen fulminanten Überblick der aktuellen Trends der gehobenen Küche geben. Trends, die erfahrungsgemäß mit einiger Verzögerung auch in den „normalen“ Küchen auftauchen werden. Kein Zweifel, die „Chefsache“ (Chef heißt in Amerika der Koch) im großzügigen Böhler Areal in Düsseldorf ist das wichtigste Gourmetevent für Köche im deutschsprachigen Raum. Wobei es noch die fast zeitgleichen, kleineren „Chef Days“ in Berlin mit teilweise ähnlichen Referenten gibt.

Köche kochen für Köche: „Chefsache“

Die Macher des wegweisenden Food-Magazins „Port Culinaire“ um Thomas Ruhl veranstalten die perfekt organisierte zweitägige „Chefsache“. In meinem Bericht darüber konzentriere ich mich bewusst auf die Dinge, die in Richtung Echt Essen weisen. Begeistert hat mich die Firma Crustanova, die unter dem Namen Good Gamba in der Nähe von Freising Salzwassergarnelen züchtet. Ich habe diese Krebse roh probiert – sie schmecken hervorragend. Demnächst will ich das Unternehmen besuchen. Wein ist ein großes Thema – und da hat mich ein Vortrag der Master of Wine-Frau Caro Maurer fasziniert: Voller Leidenschaft spricht sie über die inzwischen wieder hervorragenden deutschen Weißweine und setzt dem größten der großen Winzer, nämlich Egon Müller, ein Denkmal: „Seine Saarweine gehören zum Weltkulturerbe“.

Endlich: Weniger süß wird Trumpf

Schmunzeln musste ich über die von Sommeliers angestoßene Initiative „Beyond Sweetness“. Da geht es darum, das Essen mit nicht mehr so süßen Getränken zu begleiten – ein ideales Terrain für den jüngst von mir porträtierten Jörg Geiger mit seinem alkoholfreien Prisecco. Schmunzeln deshalb, weil ich schon vor vielen Jahren gefordert habe, endlich weniger süß zu kochen und zu trinken. Das nächste Treffen der Initiative wird im kommenden Sommer bei Jörg Geiger in Schlat bei Göppingen sein – und ich möchte daran teilnehmen. Denn wie kaum ein Zweiter versteht er es, das heimische Streuobst in köstliche Produkte zu verwandeln – und inzwischen pflanzt er auch wieder neue Streuobstbäume.

Muss noch wachsen: Jörg Geiger vor Neupflanzung

Heimatküche auf höchstem Niveau: Alpenküche

Mein Hauptaugenmerk galt aber einer ganz besonderen Kochkunst, welche die Kraft hat, im deutschsprachigen Raum etwas Einzigartiges aufzubauen, die Alpenküche. Schon bei der letztjährigen Chefsache wurde Andreas Döllerer aus Golling bei Salzburg präsentiert – und ich habe ihn im Anschluss besucht. Sein Markenzeichen: Er arbeitet fast ausschließlich mit Produkten aus dem alpinen Raum – vor allem auch mit einzigartig guten Fischen aus einer großartigen Fischzucht nahe seinem Restaurant. Hier meine Geschichte zu Döllerer.

Zu neuen Gipfeln geführt wurde die Küche der Alpen bei der diesjährigen Chefsache von drei Köchen, wobei einer direkt in den Alpen arbeitet, Thorsten Probost von der Griggeler Stuben in Lech. Mit dem aus dem Schwäbischen stammenden Koch habe ich ausgemacht, dass ich ihn nächsten Sommer begleite, wenn er in bis zu 2000 Meter Höhe wilde Kräuter sammelt. An ihm interessiert mich auch, dass er bei seinen Gerichten auf Bekömmlichkeit und Gesundheit achtet – ein Thema, das mir sehr wichtig ist, das aber derzeit bei vielen Avantgardeköchen nicht so im Fokus steht. Ganz im Gegensatz zu früher, wo ein Spitzenkoch wie Heinz Winkler mit einem Arzt ein Rezeptbuch verfasst hat. „Nahrung ist Medizin“, werte Köche! Was Hippokrates vor über 2000 Jahren sagte, stimmt immer noch.

Spezialität für Spezialisten: Zanderkopf

Aus der Wachau kommt Thomas Dorfer, der aber so umfassend mit alpenländischen Produkten kocht, dass er gut zu den Alpenköchen passt. Ins Landhaus Bacher bei Krems ist er neben der legendären Lisl Bacher als Chefkoch eingestiegen und begeisterte mit einer Gebirgsforelle, die in Gurkenessig gebeizt war. Herrlich auch der gesäuerte Schweinskopf mit einer geräucherten Hirn-Emulsion. Die Emulsion habe ich probiert, schmeckt großartig. Interessant auch der gebratene Zanderkopf, ein Gericht nur für starke Esser. Das weiß ich von den kopfschüttelnden Blicken, die ich neulich erntete, als ich bei Markus Gruler in der „Seehalde“ am Bodensee einen Wallerkopf gegessen habe. Wobei er dort nicht gebacken war, sondern im Wurzelsud gegart wurde, was mir bekömmlicher erscheint.

Waldküche vom Feinsten: Pilze vom Wiener Steirereck

Der Höhepunkt der Alpenküche war für mich aber Heinz Reitbauer vom Wiener Steirereck, der zeigte, welches ungeheure Potential in Pilzen steckt. Körbeweise hat er eine unfassbare Menge der Waldbewohner mitgebracht, wusste zu allen spannende Geschichten zu erzählen, etwa dass der Schopftintling ein Fleischfresser ist, oder dass der Igelstachelbart auch medizinische Eigenschaften hat. Spannend das Rezept, wie sich ein Reizker so zu bereiten lässt, dass er wie ein vegetarischer Speck schmeckt – wobei die meisten Rezepte auf der Homepage zu finden sind. Auf der Karte des besten österreichischen Restaurants steht kein Pilzmenü – aber Heinz Reitbauer würde mir wohl auf Voranmeldung einige Gerichte zubereiten. Dass es im Steirereck beste alpenländische Produkte gibt, liegt auch daran, dass Reitbauers Vater das „Steirereck am Pogusch“ mitten in der Steiermark betreibt, das ich vor einiger Zeit vorgestellt habe.

Wer sich für den „vegetarischen Speck“ interessiert, findet das Rezept hier: www.steirereck.at

Eine faszinierende Welt, die da in Österreich entsteht. Eine Welt, die in dieser Intensität auch nur in der Alpenrepublik entstehen kann. Denn hier gibt es noch eine breite bäuerliche Landwirtschaft mit erdverbundenen Produkten, haben die Köche von ihrer Ausbildung und ihrer Neigung einen tiefen Bezug zu ihrer Heimat. Meiner Meinung nach zeigt die Alpenküche, (die es, wenn auch nicht so ausgeprägt, ebenso in der Schweiz gibt), wie eine nachhaltige Regionalküche auf Gourmetniveau auszusehen hat.

Wie viel Heimat geht bei uns?

Klar ist, eine solche Fülle authentischer Produkte gibt es bei uns nicht – und wenn, dann vor allem im Süddeutschen. Trotzdem demonstrierten drei Spitzenköche, die auch auf der Chefsache waren, interessante Ansätze: Sven Elverfeld, Thomas Bühner und Joachim Wissler, alle drei mit drei Sternen höchst dekoriert. So verwendet Sven Elverfeld in seinem Wolfsburger Aqua aktuell sehr stark auch Produkte seiner hessischen Heimat, indem er etwa den Saibling mit Frankfurter Grünen Kräutern kombiniert.

Über eine einzigartige heimische Ressource kann Thomas Bühner aus Osnabrück verfügen: Der Koch vom „La Vie“ kann exklusiv auf Kräuter und Gemüse von Europas größtem Küchengarten zugreifen, der von Viktoria von dem Bussche im nahen Schloss Ippenburg nach ökologischen Richtlinieren kultiviert wird. Demnächst werde ich bei ihm ein Menü aus diesem prächtigen Garten genießen.

Pionier des Schweinekinns: Joachim Wissler

Auf eine subtile Art spielt Joachim Wissler, Deutschlands bester Koch, mit Heimischem. So hat er als erster das hochdelikate Schweinekinn in die Hochküche eingeführt – und wundert sich, dass ihn das bis heute verfolgt. Das zeigt, wie stark bei uns eingefahrene Essensmuster immer noch sind, dass das so ein großer Kulturschock gewesen sein muss. Begeistert erzählt er von seinem 86-jährigen Vater, der immer noch Rinder auf ökologische Weise hält. Begeistert erzählt er auch von dem preisgekrönten Gärtner Olaf Schnelle aus Mecklenburg, von dem er einmal Johannisbeerholz bezogen hat – und dessen Duft in seine Menüs integriert hat. Voller Leidenschaft berichtet er von den Bienen, die vor seinem Restaurant „Vendôme“ in Bergisch-Gladbach gehalten werden.

Berlin will´s wissen Sicher, das sind viel versprechende Ansätze. Aber nicht zu vergleichen mit der Radikalität der Österreicher. Doch nun gibt es in Berlin vier junge Teams, die einen frischen Wind, ja eine Sturmbrise in das Thema Regionalität bringen – und die auch angetreten sind, Deutschland auf der kulinarischen Landkarte sichtbarer zu machen. Denn so gut Wissler&Co auch kochen – in den einschlägigen Rankings schlägt sich das nicht adäquat nieder. Das könnte sich ändern, wenn die Gasthäuser Nobelhart & Schmutzig, Einsunternull, Horvàth und Ernst einen durchschlagenden Erfolg erzielen.

Macher einer neuen deutschen Esskultur: „Die Gemeinschaft“

Einen großen Auftritt hatten die vier Teams in Düsseldorf, standen alle gemeinsam auf der Bühne – umsichtig dirigiert vom heimlichen Leitwolf des Ganzen, Billy Wagner vom Nobelhart & Schmutzig. „Brutal lokal“ lautet der Schlachtruf dieses Restaurants – und ein wenig ist das auch das Motto dieser Gemeinschaft, die sich untereinander austauscht, sei es mit Ideen, Material (etwa wichtige Geräte) und Mitarbeitern, und die sich das hochgesteckte Ziel eine „deutsche Esskultur etablieren“ auf die Fahnen geschrieben hat. Wie weit das in der Praxis funktioniert, wird sich weisen – den Elan finde ich gut.

Vor allem gefällt mir, wie eng mit den Produzenten zusammengearbeitet wird. So stellte etwa Nobelhart-Koch Micha Schäfer seinen Landwirt David Peacock ausführlich vor. Es gefällt mir, dass die vier sich auch für eine bessere Landwirtschaft einsetzen, denn die jetzige hat zur Konsequenz, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Doch Berlin ist nur der Anfang: „Wir wollen keine kleine Blase bleiben, sondern etwas in der Breite ändern“, sagen sie – und da bietet die quirlige Hauptstadt einen denkbar guten Resonanzboden. Zielführend wurde alles in ein gemeinsames Manifest gegossen mit dem zentralen Satz „Essen ist eine landwirtschaftliche Tätigkeit“: www.die-gemeinschaft.net

Veränderer: „Ernst“-Crew um den bemützten Dylan Watson

Natürlich sind das radikale Konzepte – und manch gestandener Gastronom gesteht mir kopfschüttelnd, dass er damit nichts anfangen kann. Aber so etwas hatte ich anfangs auch gehört über das „Noma“ in Kopenhagen – bevor es zum Sprung an die Weltspitze ansetzte. Wahrscheinlich gehören Grenzüberschreitungen an den Anfang von etwas radikal Neuem. Zwei der Restaurants kenne ich, Einsunternull und Horvath – und letzteres kann ich mit seiner kreativen Küche, wo etwa innovative Lösungen für den gerne verkannten Sellerie entwickelt wurden, nur empfehlen. Nobelhart und Ernst will ich besuchen, wobei mich auch ganz stark der aus Kanada stammende Dylan Watson interessiert. Er arbeitet auch regional, aber kosmopolitischer – für ihn gehört dazu auch eine spezielle Zitrone aus Sizilien von einem kleinen Bauern.

„Was hier entsteht, wird unsere kulinarische Landschaft dauerhaft verändern“, schreibt Vijay Sapre, Herausgeber des tiefgründigen Magazins Effilee. Allerdings schreibt er leider mit keinem Wort, was genau er in dem Weddinger Gasthaus „Ernst“ gegessen hat.

Pflanzen, was sie kochen: Landgasthof Meier

Da sehe ich eine kleine Gefahr: Dass das Konzept wichtiger wird, als das, was hinterher auf dem Teller ist. Nur, für den langfristigen Erfolg ist der Geschmack das Entscheidende. Das ist das eine. Das andere ist: Vieles, was hier so revolutionär vorgestellt wird, gibt es längst. So haben in meiner badischen Heimat schon immer viele Köche eng mit Produzenten zusammen gearbeitet, etwa Raimar Pilz von der besternten „Genuss-Apotheke“ in Bad Säckingen. Und erst kürzlich habe ich im Fränkischen den Landgasthof Meier vorgestellt, der noch einen Schritt weiter geht: Er hat große eigene, ökologisch bewirtschaftete Gemüsefelder, wo etwa ein knackfrischer Mangold wächst.

„Wild Things“ Wie radikal sich mit den Produkten der näheren Umgebung kochen lässt, das demonstrierte ich schon vor einigen Jahren mehrere Male mit dem Kochabend „Wild Things“ in der „Seehalde“ am Bodensee. Dort hat der Koch und Fischer Markus Gruler (sein Bruder Thomas leitet den Service) konsequent nur Produkte verwendet, die es direkt um das Gasthaus gab, wie etwa Bachkresse, Knollenziest und Vogelbeeren. Sicher, das waren jeweils einmalige Events und die Zeit war dafür noch nicht ganz reif. Aber es hat funktioniert – und ich bin sicher, die Macher in Berlin werden solche Konzepte dauerhaft zu einem großen Erfolg führen.

Wilde Macher: Markus und Thomas Gruler

Als kleiner Appetitmacher hier noch einmal das Menü von „Wild Things“ aus dem Jahr 2011:

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ECHT ESSENheißt der Blog, in dem ich seit zehn Jahren jeden Monat mindestens ein Gasthaus vorstelle. Wichtiges Auswahlkriterium: Herkunft der Produkte.



von Hans Lauber
E-Mail: aktiv@lauber-methode.de
,
Internet: www.lauber-methode.de

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